Als ich 1961 ans Gymnasium im schwäbischen Geislingen kam, wurde ich als Neuankömmling erst einmal kritisch beschnuppert. Nur ein Schüler nahm gleich Kontakt zu mir auf und führte mich in die Gepflogenheiten des Klassenverbandes ein: Herbert Borlinghaus. Durch einen beruflichen Wechsel meines Vaters verließ ich die Klasse jedoch schon im folgenden Jahr wieder und ging danach in Hessen zur Schule. So verloren Herbert und ich uns aus den Augen.
Doch nun, während eines Urlaubs auf Gran Canaria lernten meine Frau und ich ein Ehepaar aus dem Schwarzwald kennen, das mir bei einer Unterhaltung auch von einem guten Freund – Herbert Borlinghaus – erzählte. Ich war wie vom Donner gerührt, als ich den Namen hörte. Ich fragte nach seiner Telefonnummer, rief ihn gleich nach meiner Rückkehr an. Und so führten wir, nach 53 Jahren, ein sehr bewegendes und emotionsgeladenes Gespräch.
Nach den schweren Luftangriffen auf Hamburg im Juli 1943 wurde unsere Schule nach Bayern evakuiert, zuletzt nach Vohenstrauß, Oberpfalz. Im Mai 1945 besetzten amerikanische Truppen diesen Ort. Jetzt gab es keine Institution mehr, die sich um uns kümmerte, insbesondere gab es nichts mehr zu essen. So wurden wir in Gruppen von vier Schülern nach Hause geschickt, ich als Ältester, gerade 14 Jahre alt, war für die drei Jüngeren verantwortlich. Auf dem Passierschein, den wir mit auf den Weg bekamen, hieß es auf Englisch: »Das Schullager wurde von den Behörden geschlossen und den Knaben befohlen, Hamburg oder ihre Verwandten zu Fuß zu erreichen. Deshalb wurde der Obengenannte am 6. Juni 1945 nach Hamburg in Marsch gesetzt.« Viele Teilstrecken gingen wir tatsächlich zu Fuß, das letzte Stück legten wir auf einem beladenen Kohlenzug zurück. Völlig erschöpft und kohlengeschwärzt erreichten wir 14 Tage nach dem Aufbruch unser Zuhause.
Beim nostalgischen Wühlen fand ich diese alte Kinderzeichnung, die mein Sohn Sebastian 1983 im Alter von 15 Jahren angefertigt hat. Mich als Vater und alten ZEIT-Leser berührt besonders die Doppeldeutigkeit der Zeichnung: der Lauf der Zeit, durch Tag und Nacht, durch die kosmischen Gezeiten von Sonne und Mond. Nicht zu vergessen, dass die ZEIT diesen schönen, zeitlosen Namen hat.
Bei meinem letzten Besuch in Österreich, meiner alten Heimat, gab mir meine Mutter diesen Brief, den sie beim Aufräumen entdeckt hatte. Einst hatte sie ihn von ihrer damaligen Heimatgemeinde zu meiner Geburt bekommen. Zum einen finde ich das Amtsösterreichisch immer wieder schön. Aber ich frage mich auch, wie sich meine Mutter damals gefühlt haben muss: Meine Eltern waren drei Jahre zuvor aus den Niederlanden nach Österreich gezogen. Heute finde ich es amüsant, weil ich selbst seit fast 25 Jahren in Deutschland lebe – immer noch mit niederländischem Pass.
Wiedergefunden hätte ich sehr gerne das gehörlose Mädchen, genannt »Stummerle«, das von 1945 bis 1947 in einem von Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Kreuz betreuten Fürsorgeheim in Kallham, Oberösterreich, lebte. Die damals neunjährige Irene Steinhorst, die zusammen mit ihrem vierjährigen Bruder Hanns – meinem späteren Mann – auf der Flucht aus Oberschlesien von der Mutter getrennt worden war und ebenfalls für zwei Jahre in Kallham landete, hat mir Lustiges und Berührendes von »Stummerle« erzählt. In dem Buch Lauf weiter, kleiner Bruder habe ich diese Erlebnisse festgehalten. Es wäre wunderbar, wenn sich die beiden Damen noch einmal treffen könnten. Meine Schwägerin Irene lebt in den USA. Doch meine Bemühungen, »Stummerle« zu finden, blieben bisher erfolglos. Die Dame müsste inzwischen rund 80 Jahre alt sein. Ihren Namen weiß ich leider nicht.
Im Jahr 1944 ging mein geliebter Teddybär mit mir auf die Flucht von Königsberg gen Westen. Obwohl ein Jahr jünger als ich – nämlich fünf – war er bereits ein wenig ramponiert: Ein Auge war beim Spiel verloren gegangen und blieb unauffindbar. So wurde Ersatz gestickt.
Mehr als 50 Jahre später war es mir möglich, nach Königsberg, nunmehr Kaliningrad, zurückzukehren. Unsere ehemalige Wohnung in der früheren Zeppelinstraße wurde gerade umgebaut, mancherlei Fundstücke aus »unserer Zeit« hatte jemand in einer Bonbondose gesammelt, und ich durfte in den Schätzen kramen: ein Knopf vom Sommerkleid, ein Spielsoldat, eine Wäscheklammer, ein Zopfhalter. Und dann schaute mir plötzlich das Glasauge entgegen, das verlorene. Es hatte seine Farbe – bis auf die Pupille – fast vollständig verloren, die Halterung war total verrostet. Ich habe es voller Freude mit nach Hause genommen und vorsichtig an dem Bauch- verband befestigt, den mein Teddy inzwischen braucht.
Im Sommer 1972 besuchte ich als Theologiestudent mit österreichischen Jugendlichen Leipzig und Dresden, wo wir unter anderem Kontakt zu katholischen Priestern aufnahmen. Einer von ihnen bat um die Übersendung einer bei Herder erschienenen »Jerusalem-Bibel«. Doch mein Geschenk wurde mir von der Zollverwaltung der DDR mit dem Vermerk retourniert, dass »dieses Druckwerk den gesetzlichen Bestimmungen der DDR widerspricht« und daher zur Einfuhr nicht zugelassen sei.
Weihnachten 1940: Mein Großvater schickt von der Front (vermutlich aus Russland) ein besonderes Paket an seine Familie daheim in Hessen: Schinken, Eier und andere Köstlichkeiten für seine Frau und seinen Sohn. Für sie war es ein himmlisches Weihnachtsgeschenk, von dem sie noch Jahrzehnte später beglückt erzählten. Der Großvater hatte eine Munitionskiste aus Holz benutzt und sie als »Krankeneigentum« deklariert. Als Postbeamter wusste er, dass der Zoll diese Pakete ungeöffnet ließ. Er überlebte Krieg und Gefangenschaft und konnte zu seiner Familie heimkehren. Die Weihnachtsgabenkiste aber wurde seitdem als Erinnerung an die schreckliche Kriegszeit aufbewahrt. Als Jugendlicher packte mein Vater seinen wertvollsten Besitz hinein: Krippenfiguren aus Ton.
Wenn die Weihnachtszeit an Mariä Lichtmess zu Ende geht, werde ich gemeinsam mit meinen Kindern die alte Holzkiste vom Dachboden holen. Auf der Innenseite des Deckels sind das Herstellungsdatum (Mai 1940), der Munitionstyp (für Maschinengewehr) als auch das Herkunftsland (Polen) angegeben. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wer die Munition für die deutschen Besatzer gießen musste. Und so werden wir behutsam und im Bewusstsein großer Dankbarkeit, hier und jetzt leben zu dürfen, die nunmehr 80 Jahre alten Krippenfiguren einpacken in diese ehemalige Munitionskiste aus dem Zweiten Weltkrieg.
Ein Blatt, das vom Christstern abgefallen war, lag auf dem Boden meines Ateliers. Ich wollte es gerade wegkehren, als ich in ihm plötzlich einen roten Mund erkannte. Dabei fiel mir ein lang vergessener Schlager wieder ein: »Rote Lippen soll man küssen…«
Gleich nach dem Krieg wurde mein Vater von seinem ehemaligen Arbeitgeber wieder in seinem früheren Beruf als Werksfeuerwehrmann eingestellt. In seinem Nachlass fand ich ein Dokument, das all die Probleme der damaligen Zeit widerspiegelt: Für »die Beschaffung von Fahrradbereifung« war eine Genehmigung der französischen Besatzungsmacht nötig und dafür wieder eine umständliche Bestätigung des Arbeitgebers. Ob mein Vater jemals mit dem Fahrrad zu einem Einsatz gefahren ist, das habe ich leider nie erfahren.