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Wiedergefunden: Das Notenblatt

Wir waren beide sehr aufgeregt in unserer ersten Klavierstunde vor mehr als 30 Jahren: ich als junge Lehrerin und Florian, mein sechsjähriger Schüler, dem die Stunde so wichtig war, dass er im Sonntagsanzug kam. Seine kleine fünftaktige Komposition hat bei aller Einfachheit Witz und Originalität: Sie schaukelt sich zu einer Bewegung hoch, kommt dann zur Ruhe und erreicht scheinbar ihren Schluss, bevor der fünfte Takt seinen Vorgängern und der konventionellen Form eine lange Nase dreht. Florian ist inzwischen Professor an einer Musikhochschule.
Monika Twelsiek, Köln

 

Die letzte Fahrkarte in den Westen

Vor 50 Jahren, am Sonnabend, dem 12. August 1961, fuhr ich als 17-Jähriger mit meinen Eltern mit der letzten S-Bahn von Ost-Berlin, Bahnhof Schöneweide, über Baumschulenweg nach West-Berlin, Bahnhof Lichterfelde-West. Wir wollten in der kleinen Wohnung meiner Großmutter übernachten, die zur Kur in Westdeutschland war. In dieser Nacht wurde die Mauer gebaut. Frühmorgens stellten wir das Radio an und hörten die Sondermeldung: die Sektorengrenze vollständig abgeriegelt, kein Ost-Berliner kann mehr in den Westen gelangen. Wir waren also per Zufall an diesem Morgen auf der richtigen Seite der Grenze aufgewacht und würden im Westen bleiben, das war sofort klar. Ich hatte im Juli in Ost-Berlin mein Abitur gemacht und wollte sowieso „abhauen“, um im Westen zu studieren. Nach dem Tode meiner Mutter (1997) fand ich in ihrem Nachlass die Fahrkarte von unserer Schicksalsfahrt in den Westen. Sie hatte ihre Fahrkarte aufgehoben und auf die Rückseite „letzte Fahrkarte aus Ostberlin“ geschrieben. Ganz deutlich ist zu erkennen, dass die Karte nur bei H wie »Hinfahrt« geknipst wurde, nicht bei R. Denn die Rückfahrt haben wir nicht angetreten.

Hartmut Lubomierski, Hamburg

 

Wiedergefunden: Die Klinikrechnung


Beim Aufräumen erlebt man doch immer wieder Überraschungen: Zwischen Schulheften und Zeugnissen schmorte die Klinikrechnung für meine Geburt im Jahr 1933. Wie hoch damals wohl das Gehalt meines Vaters war? Leider habe ich auch die Rechnungen von den Geburten meiner eigenen Kinder in den Jahren 1961, 1963 und
1965 nicht mehr zum Vergleich. Aber ich nehme an, auch sie würden uns heute, bedingt durch die Inflation, beneidenswert niedrig erscheinen.

Ilse Blumenbach, Lüneburg

 

Wiedergefunden: Ein Gruss von Max Frisch

Im Sommer 1975 unternahmen wir mit unseren drei Söhnen, die damals zwischen 8 und 10 Jahren alt waren, eine Italienreise mit Auto und Zelt. Bei einem Besuch der etruskischen Monterozzi-Nekropole in Tarquinia trafen wir Max Frisch. Er war in Begleitung einer rothaarigen Amerikanerin (die wir in Montauk wiedertreffen sollten), freute sich, als wir ihn erkannten, unterhielt sich mit uns und schrieb einen Gruß in unser Reisetagebuch. Auf dem Parkplatz verabschiedeten wir uns. Er fuhr einen R5 mit römischem Kennzeichen. In diesem Max-Frisch-Jahr 2011 erinnerte ich mich wieder an die Begegnung. Ich suchte im Keller nach dem alten Reisetagebuch und wurde tatsächlich fündig.

Christa Lieb, Ludwigsburg

 

Die brasilianischen Verwandten

Schon als Kind haben mich die alten Fotos im Album meiner Großeltern fasziniert. Da waren Menschen verschiedenen Alters zu sehen, inmitten gerodeter Wälder, zum Teil zu Pferd, die Kinder barfuß. Es hieß: »Das sind Verwandte, die nach Brasilien ausgewandert sind.« Keiner konnte (oder wollte?) mir die verwandtschaftlichen Verhältnisse erklären. Als ich jetzt nach fünfzig Jahren meinen Stammbaum auf einer Internetseite eingab, kam nach kurzer Zeit die Nachricht, dass in Brasilien jemand einen Stammbaum hat mit den Namen einiger meiner Vorfahren. 92 Prozent Übereinstimmung! Sollten das die verloren gegangenen Verwandten sein? Inzwischen findet ein reger E-Mail-Kontakt zwischen Brasilien und Deutschland statt. Meine Urgroßmutter, die ich noch kennengelernt habe, und die Großmutter des brasilianischen Verwandten waren Schwestern! Nun haben alle Menschen auf den Fotos Namen und Identität bekommen. Ich weiß den Grund der Auswanderung und kenne nun so manche Anekdote über meine Urgroßmutter. Es ist ein wunderbares Gefühl, einen Zweig seiner Familie wiedergefunden zu haben.

Kerstin Forneck, Königswinter

 

Wiedergefunden: Ein Baumriese

Als ehemaliger Entwicklungshelfer des DED habe ich in den achtziger Jahren drei Jahre lang als Forstingenieur in Nicaragua/
Mittelamerika gearbeitet. Damals wurde düster prophezeit, dass der Primärwald in Nicaragua bis zur Jahrtausendwende
komplett verschwunden sein würde. Nach über zwanzig Jahren habe ich im November 2010 mit meinem Sohn Philipp (26 Jahre) das Land wieder besucht. Ich war heilfroh, festzustellen, dass die Prophezeiungen sich nicht erfüllt haben und dass ein
Großteil der verbliebenen Urwälder als Naturschutzgebiete ausgewiesen und damit (hoffentlich) gerettet sind. Philipps Foto zeigt mich vor einem alten Baumriesen im Schutzgebiet Chocoyero, 20 Kilometer südlich der Hauptstadt Managua.
Karl-Josef Prüm, Trier

 

Wiedergefunden

1999

2011

Freundschaft. Ein anderes Wort fällt mir nicht ein zu den beiden Aufnahmen aus meiner, wie man sieht, doch recht engen Küche. Sie zeigen meine Tochter Sera-Katharina (in der Mitte) mit ihren beiden Freundinnen Laura (links) und Eva. Damals waren sie vier, heute sind sie 16 Jahre alt. Und sehen sich immer noch zwei- bis dreimal in der Woche. Gehen Eis essen oder ins Kino, tanzen Hip-Hop in der Tanzschule. Zwischen ihrem 5. und 14. Lebensjahr gingen sie regelmäßig zusammen reiten. Danach hatten sie sich eine Zeit lang aus den Augen verloren, unterschiedliche Interessen, neue Freunde. Aber seit gut einem Jahr verbringen sie wieder viel Zeit miteinander. Zu dritt, ohne Eifersüchteleien. Zwölf Jahre voller unterschiedlicher Sehnsüchte, Wünsche, Wege – und dennoch! Ich glaube, dieses feste Band kann so

leicht nichts mehr erschüttern. Mit dem 2. Foto haben sie mich zu meinem Geburtstag überrascht.

Ulrike Er, Pfaffenhofen

 

Wiedergefunden

Ziemlich genau 45 Jahre ist es jetzt her. Seltsamerweise steht kein Datum drauf, aber ich weiß genau, dass es Juni 1966 war. Mit 16 Jahren fuhr ich also das erste Mal allein mit der Eisenbahn vom Niederrhein aus nach Essen. Es gab je ein Konzert um 16 Uhr (das war meins) und um 20 Uhr, falls man es Konzert nennen konnte: Vier Vorgruppen, die Spannung stieg, die letzte waren die Rattles – und dann stürmten die Fab Four die Bühne. Ein wenig enttäuschend war, dass sie nur fünf Songs spielten (ohne Zugabe!). Bei I’m down versagte Paul McCartney dann noch die Stimme, woraufhin er nur noch kiekste. Aber damals kam es einfach mehr darauf an, sie einmal auf der Bühne zu sehen und – für die Mädels – sie zu bekreischen.

Meine älteste Tochter ist heute eingeschworener Beatles-Fan. Qualität setzt sich eben durch.

Walter Vonk, Werther

 

Wiedergefunden: Drei Stunden Glück

März 1950. Das vierte Schuljahr an der Ardeyschule, einer Volksschule in Essen-Rellinghausen, geht zu Ende. Der Klassenverband wird sich auflösen, weil einige Schüler auf andere Schulen wechseln. Zum Abschied soll ein bunter Nachmittag zusammen mit den Eltern stattfinden. Dafür haben die Kinder Lieder, Gedichte und ein kleines Theaterstück eingeübt. Natürlich sollen die Eltern auch hübsche Programmzettel bekommen. In Schönschrift schreibt jedes Kind die Programmfolge mit Tinte und Feder von der Tafel ab und verziert das Blatt mit kleinen Zeichnungen. Der Lehrer sammelt die Zettel ein, mischt sie und verteilt sie neu. Als ich das Programm jetzt wiederfand, lief ein Film vor meinem inneren Auge ab. Ich sah und hörte, wie eine Mitschülerin das Gedicht von dem Dackel mit den krummen Beinen vortrug. Wir gehörten damals zu den ersten Kindern, die nach dem Krieg regulär eingeschult worden waren. Es war für alle ein wunderschöner Nachmittag in einer Zeit, in der nicht vieles schön war.

Ralf Steinsträßer, Darmstadt

 

Wiedergefunden: Die Entschuldigung

Kürzlich fiel er mir nach zwei Jahrzehnten wieder in die Hände: der einzige Entschuldigungsbrief, den ich aus der Zeit meiner Tätigkeit als Lehrer aufbewahrt habe. Er hatte die schlichte Aufgabe, dem Lehrer die Nichtanfertigung einer schulischen Aufgabe zu begründen – und wurde zu einem historischen Dokument. Er stammt nämlich vom 12. November 1989. Die Mutter meiner Schülerin schrieb:

Werter Herr Meyer-Rienecker,

Antje wollte am Wochenende die Zeichnung beenden. Durch das Öffnen der Grenze hatten wir uns kurzfristig zu einem Verwandtenbesuch nach Ratzeburg und Mölln entschieden. Wir fuhren gleich nach Schulschluß am Sonnabend los. Heute kamen wir durch einen Verkehrsstau erst spät nach Hause. Wir bitten Sie höflichst um Entschuldigung, wenn Antje nun nicht die Aufgabe erledigt hat. Sie wird dieses so schnell wie möglich erledigen.

Hochachtungsvoll …

Für mich persönlich ist diese Fundsache ein außergewöhnliches Beispiel erlebter Geschichte. Denn ich hatte seinerzeit, auch durch meine Teilnahme an Aktivitäten des Neuen Forums, nicht nur die von Wunschdenken getragene Hoffnung, sondern die feste Überzeugung, dass der totale Machtverlust der Herrschenden im Bereich ihres »Grenzregimes« zu unumkehrbaren Veränderungen in der DDR führen musste. Und so wurde auch aus unserer parteigesteuerten Lenin-Oberschule in der grenznahen Kleinstadt zwischen Schwerin und Hamburg eine Realschule, die nach sechsjähriger Katharsis den Namen des in Wittenburg geborenen und aufgewachsenen Schriftstellers Hans Franck (1879 bis 1964) erhielt. Den Kunsterzieher und Deutschlehrer aber, der, parteilos und nicht zu jeder staatsbürgertreuen Geste bereit, rund dreißig Jahre DDR-Schule überstanden hatte, wählten die Kollegen zu ihrem Direktor.

Georg Meyer-Rienecker, Wittenburg