Sieben Jahre lang liebte ich Gisela. Mit 17 hatte ich sie kennengelernt, sie war damals 13 Jahre alt. Wir wohnten 700 Kilometer auseinander, wir sahen uns nur zwei-, dreimal im Jahr, wir schrieben Briefe, wir telefonierten. Dann, es war 1964, trat ein anderes Mädchen in mein Leben. Ich musste es Gisela sagen. Es war schwer für mich. Ich fuhr zu ihr, wir saßen abends im dunklen Auto. Ich erklärte mich. Auf der Ablage lag ein altes Notizbuch. Sie nahm es und schrieb: »‹Ein jeder steht allein im Herzen der Erde. Ein Sonnenstrahl bescheint ihn, und schon ist es Abend.‹ Quasimodo« Erst später, als ich allein war, las ich den Satz. Er brach mir schier das Herz. Das Notizbuch habe ich noch. Immer wieder fällt es mir in die Hände. Immer wieder lese ich mit Rührung diesen kleinen Satz.
Nach weiteren sieben Jahren sah ich sie erstmals wieder. Nun sind fast fünfzig Jahre vergangen. Wir sind beide verheiratet – nicht miteinander –, haben Kinder und Enkelkinder und sind immer noch befreundet.
Beim Kramen in alten Sachen habe ich in diesen Tagen etwas Interessantes gefunden: einen Ausweis, der es mir Anfang der siebziger Jahre gestattete, in das Armeegelände der amerikanischen Streitkräfte in Amberg, Oberpfalz, einzufahren. Damals gab ich als Student mehrmals in der Woche den GIs Deutschunterricht, der wegen der damaligen hohen Dollar-D-Mark-Umrechnung äußerst lukrativ war. Heutzutage, in Zeiten des Terrors und der Angst, wird man wohl mehrere Schleusen passieren müssen, um in den Hochsicherheitstrakt U. S. Army zu gelangen – wenn überhaupt.
Im vergangenen Februar ist unsere Mutter gestorben, 26 Jahre nach unserem Vater. Als wir ihre Sachen gesichtet haben, fanden wir diese Karte vom 21. Juli 1969, dem Tag der ersten Mondlandung. Unser Vater war damals in Bad Wörishofen zur Kur und schrieb nahezu täglich, wohl auch, weil Postkarten mit 3-D-Effekt gerade neu auf dem Markt waren. Er nahm mit Recht an, dass meine Schwester und ich (damals 13 und 7 Jahre alt) Freude daran haben würden. Zumindest erschienen diese Karten damals als so wertvoll, dass sie bis heute niemand weggeworfen hat, und so blieb also auch dieses Zeitdokument erhalten. So viel Pathos hatten wir unserem Vater gar nicht zugetraut. Auf jeden Fall sehe ich mich noch nachts vor dem Fernseher sitzen (zum ersten Mal!) und die Life-Übertragung verfolgen. Meine Schwester bemerkte angesichts der Postkarte, sie wäre sicher gewesen, dass unser Vater in dieser Nacht bei uns gewesen wäre. Da sieht man, wie auch »historische« Ereignisse in der Erinnerung verfälscht werden.
Was wohl meine Tochter vor fast zwanzig Jahren zu dieser formellen Entschuldigung veranlasst hat? Wir wissen es beide nicht mehr. Dabei muss es schon »etwas Ernsteres« gewesen sein. Wie auch immer: Schreiben konnte sie noch nicht richtig – sich entschuldigen schon. Und heute schreibt sie als Studentin über Transitional Justice in Uganda. Gabriele Haarhaus, Schulendorf, Herzogtum Lauenburg
Für das Stadtarchiv Bietigheim-Bissingen arbeite ich an einer Dokumentation über die Auswanderung nach Nord- und Südamerika im 19. und 20. Jahrhundert. Dabei fiel mir ein Foto aus Argentinien aus dem Jahr 1934 in die Hände, das mir richtig zu Herzen ging. Die Inflationsjahre in Deutschland um 1923 hatten viele, meist junge Menschen zur Auswanderung genötigt. In Amerika aber ging es vielen von ihnen schlechter als in der alten deutschen Heimat, wie sich in Briefen und Dokumenten erkennen lässt. So tragen die Kinder auf dem Bild Kleider und Schuhe, die ihnen Verwandte aus Deutschland geschickt haben. Für den kleinen Buben links aber waren wohl keine Schuhe dabei gewesen. So kaschierte man die Armut einfach mit einem Häufchen Laub.
Alles begann mit einem Unfall im Juli 1958. Meine Braut und ich waren mit unserer Zündapp Bella unterwegs in die Camargue, ans Mittelmeer, als wir mit einem französischen Mopedfahrer zusammen- stießen. Wegen unserer Verletzungen wurden wir ins hôpital von Tarascon gebracht. Als wir endlich wieder herumlaufen durften, suchten wir nach dem Kind, das wir in den vergangenen Tagen in einem der angrenzenden Zimmer hatten singen hören. So freundeten wir uns mit dem achtjährigen Louis an – und später auch mit seinem Vater, der zu unserer Überraschung gut deutsch sprach. Er hatte als Kriegsgefangener in Mecklenburg auf dem Land gearbeitet …
Aus dieser zufälligen Bekanntschaft hat sich eine tiefe, andauernde Freundschaft mit einer großen Familie entwickelt, und
so reisten wir im vergangenen Sommer auch zum 60. Geburtstag unseres Freundes Louis nach Lothringen. Dabei überraschte uns Louis’ Schwester Clothilde mit einer Kopie des damaligen Unfallberichts. Cloclo war mit dem Sohn des Gendarmen verheiratet gewesen, der den Unfall seinerzeit aufgenommen hatte, und in seinem Nachlass fand sich das Dokument. Gemeinsam lasen wir den Bericht und schwelgten in Erinnerungen. Es wurde ein langer Abend: 52 Jahre wollten schließlich abgearbeitet werden. Das Schmerzensgeld übrigens, das uns damals die französische Versicherung gezahlt hatte, haben wir 1959 für die Möbel unserer ersten gemeinsamen Wohnung ausgegeben. Friedrich Winter, Odenthal
Im Jahr 1970 wechselte meine Schwiegermutter von einer Missionsstation in Namibia, das damals noch Südwestafrika hieß, nach Peru. Einen Teil ihrer Sachen schickte sie in zwei großen Überseekisten an ihre Familie in Deutschland. Als unsere beiden jüngeren Kinder vor einigen Jahren jeweils einen eigenen Hausstand gründeten, stöberten sie im Kellergerümpel nach brauchbaren Sachen. Beide erkoren diese Kisten als Wohnzimmertisch. So steht jetzt eine Kiste in München (Foto) und eine in Lausanne. Die Schwiegermutter lebt schon lange nicht mehr, und Klein Krotzenburg ist kein eigen ständiger Ort mehr, sondern Teil von Hainburg in Hessen. Aber der »Duft der großen, weiten Welt« bleibt. Doris Henninger, Erlangen
Der 15. Juli 1960 war einer der aufregendsten Tage in meinem Leben: Unserer Familie zog von Thüringen nach Baden-Württemberg. Andere würden das vielleicht »Flucht« nennen, aber mein Vater hatte alles über einen langen Zeitraum hinweg perfekt und sehr diskret vorbereitet, in ständiger Angst vor Entdeckung. Zu seinen logistischen Meisterleistungen gehörte, dass er am Flughafen Berlin-Tempelhof für sich, für meine Mutter, meine Schwester und für mich Flugtickets von Berlin über Frankfurt nach Stuttgart hatte hinterlegen lassen. Alles klappte perfekt,
auch der riskanteste Teil des Unternehmens, das Umsteigen vom Zug aus Gera in die S-Bahn nach Tempelhof am Bahnhof Berlin-Friedrichstraße. Kürzlich fiel mir das auf mich ausgestellte Flugticket wieder in die Hände, fünfzig Jahre nach jenem denkwürdigen »Umzug« und zwanzig Jahre nach dem Mauerfall. Dabei wusste ich gar nicht mehr, dass es noch existierte. Dieses Ticket war für mich wie ein Schlüssel zu einem total neuen, freien und selbstbestimmten Leben.
Als wir 1973 eine Wohnung in Kahl am Main (Unterfranken) kauften, erhielten wir bald danach den beiliegenden Grundbucheintrag: Ich war gerade frischer Diplomingenieur geworden und hatte wohl im Gespräch erwähnt, dass ich angefangen hatte, als Konstrukteur zu arbeiten. Meine Frau war Bankkauffrau – aber das spielte für die bayerische
Behörde keine Rolle! Meine Miteigentümerin wurde kurzerhand zur »Konstrukteursehefrau« gemacht!
In den Unterlagen unseres Autohauses habe ich dieses Dokument gefunden: Da hat der berühmte, inzwischen leider verstorbene Schriftsteller Walter Kempowski im Jahr 1965 einen 1200er Käfer bestellt. Mein Vater hat damals alles per Hand ausgefüllt, einschließlich Beruf (»Lehrer«) und dreistelliger Telefonnummer des Käufers. Abgewickelt wurde die Bestellung über unseren Großhändler in Zeven. Wie einfach und voller Vertrauen müssen diese Zeiten damals gewesen sein! Fast wehmütig blickt man zurück. Frau Kempowski habe ich natürlich gefragt, ob sie mit der Veröffentlichung dieses Zeitdokuments einverstanden sei. »Ach«, sagte sie, »das ist doch eine Sache zum Schmunzeln! Das muss ja kurz nach dem Schuljahreswechsel gewesen sein mit dem neuen Käfer und kurz nach unserem Umzug von Breddorf nach Nartum.«