Am Ende einer einwöchigen Radtour von Baden-Wüttemberg an den Chiemsee stellte ich fest, dass ich meinen Ehering verloren hatte. Die Hotels und Pensionen, in denen wir übernachtet hatten und die ich anrief, hatten ihn nicht gefunden, was eigentlich meine Hoffnung war. Unmöglich, festzustellen, bei welcher der unzähligen Unterbrechungen, Picknicks, Besichtigungen und wo überhaupt man das unscheinbare Goldstück wiederfinden könne. Trotzdem ließ ich nicht locker und schrieb die Fundbüros der 4 Großstädte an, die wir passiert hatten,eigentlich jetzt schon fast aus „sportlichen“ Gründen. Und siehe da: Es meldete sich das Rathaus Donauwörth, in dessen Fundbüro eine Dame den Ring abgegeben hatte, gefunden am Marktbrunnen in einer Rille des Kopfsteinpflasters. Im Brunnen hatte ich mir die Hände gewaschen. Große Freude! Und die Ehe hält auch, nun im 44.Jahr!
Als ich neulich wieder einmal diese letzte Seite der ZEIT aufschlug, las ich voller Freude über ein Kind, das in einem Brieflein von seiner Liebe zu den Eltern spricht. Auch ich fand bei mir solch ein Brieflein, das jedoch ganz andere Gefühle ausdrückt.
1982 war mein Adoptivsohn schon zwölf Jahre alt. Er war mit neun Monaten zu uns gekommen. Die eigene Mutter behielt ihn nur drei Monate, die Großmutter drei Monate und dann drei Monate eine „Pflegemutter“, die ihn im Kinderbettchen angebunden hatte, wenn sie ihren Hausmeisterpflichten nachging. Dann kam er zu uns. Er hat nie zu jemandem eine Beziehung, etwas Liebevolles aufbauen können. Als er sieben Jahre alt war, bekam er eine zweieinhalbjährige Spieltherapie. Andere Therapievorschläge lehnte er später ab. Alle meine Liebe und meine Gefühle kamen bei ihm nicht an. Heute ist er vierzig Jahre alt, lebt arbeitslos in einer deutschen Großstadt und hat sich völlig von uns losgesagt. Daher rührt mich auch dieses Briefchen, das mich an einen schlimmen Lebensabschnitt erinnert. Und mir geht das Herz über, wenn ich den Kinderbrief auf der letzten Seite der ZEIT lese.
Als „Kriegskind“, das seinerzeit alles verloren hat, habe ich auch heute noch einen Sammeltick. Und deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sich in meinen Unterlagen eine Rechnung gefunden hat, die mich und bestimmt auch Ihre Leser in Staunen versetzt: Damals, anno 1961, kaufte ich mir mein erstes Auto, einen DKW-Junior, mit dem damals üblichen Drum und Dran (2-Takt-Motor 750ccm, Heizung, Klimaanlage, Kfz-Brief, Überführung, Frostschutz, Zweifarbenlackierung und Fußmatten) für 5500 Mark. Das wären heute zirka 2750 Euro). Und was kostet ein Audi A4, der irgendwie der Nachfolger des DKW Junior ist, heute? Als 1,8-Liter-Benziner mit 120 PS und 6-Gang-Schaltung ist er nicht unter 27 000 Euro zu kriegen. Das wären 54 000 Mark!
Vor vielen Jahren schenkte mir mein 1998 verstorbener Vater seine Lieblings-Manschettenknöpfe: Perlmutt mit Goldrand. Nach der Pensionierung brauchte er sie nicht mehr, außerdem hatten die Hemden inzwischen angenähte Knöpfe. Für mich waren die Manschettenknöpfe Schmuckstücke und Erinnerung zugleich. Irgendwann aber waren sie weg, ich suchte sie lange vergeblich und war traurig. Kürzlich brachte ich eine Tüte mit Altkleidern zum Secondhandladen unserer Hospizeinrichtung. Beim Auspacken griff ich eine Bluse und nahm sie wieder mit nach Hause, ich konnte mich doch noch nicht von ihr trennen. Heute probierte ich sie noch mal an: An den Manschetten waren die Manschettenknöpfe! Ich war so glücklich, es wurde ein richtig schöner Tag.
Glückwünsche und Ansichtskarten pflege ich eine Weile auf meinem Schreibtisch abzulegen, um mich daran weiterhin zu erfreuen. Besonders liebe Mitteilungen benutze ich anschließend als Lesezeichen. Nun finde ich in einem Gedichtband diesen Geburtstagsgruß, selbst erdacht und selbst gemacht von unserem damals achtjährigen Sohn für meinen Mann, der als niedergelassener Arzt sehr viel Zeit in seiner Praxis verbringen musste. Unser Sohn hat auch an diesem freudigen Tag sein analytisches und kritisches Denken nicht verleugnet. Wir haben uns darüber gefreut und waren ganz glücklich über diesen Sohn. Inzwischen ist er 27 Jahre alt, diplomierter Chemiker und schreibt an seiner Dissertation. Und wiederum sind wir froh und glücklich, denn wir haben keinen Grund, unserem Sohn eine Glückwunschkarte zu übergeben, die in der roten Hälfte des Herzens etwa einen Erlenmeyerkolben zeigt, in der blutleeren Hälfte die Familie.
Im Album meiner Mutter fand ich das alte Foto, aufgenommen Ende der vierziger Jahre. Es zeigt meine Tante Marianne mit ihren Kindern Brigitte und Herbert, die – wie viele Deutsche damals – 1950 nach Australien ausgewandert sind. Nach dem frühen Tod meiner Tante war der Kontakt zu den Verwandten 1960 abgebrochen – Brigitte und Herbert hatten ihre Muttersprache verloren. Neugierig geworden, recherchierte ich – fast 50 Jahre später – im Internet, und es grenzte für mich an ein Wunder, dass ich Herbert tatsächlich fand. Sofort telefonierte ich mit ihm, und ein regelmäßiger E-Mail-Kontakt begann, der in einen Deutschland-Besuch mit Spurensuche mündete. Mein Cousin war sehr bewegt, als ihm die nette Leiterin des Standesamtes in Immenstadt eine Kopie seiner Geburtsurkunde überreichte, und er hatte Tränen in den Augen, als er – der kein einziges Familienfoto mehr besaß – ein Album mit Bildern seiner Ursprungsfamilie mit nehmen konnte nach „Down Under“.
Kürzlich erhielt ich eine E-Mail von dort, die mit den Worten endete: „You know I quite often think about the phone call I had from someone in Germany who introduced herself as my long lost cousin and I will be forever grateful for that phone call.“ („Weißt Du, ich denke oft an jenen Telefonanruf, in dem sich jemand aus Deutschland als meine längst verlorene Cousine vorstellte. Ich werde immer dankbar sein für diesen Anruf.“)
Angeregt durch einen Beitrag in der ZEIT der Leser, habe ich die schöne Idee aufgegriffen, einen Notenständer für große Bildbände zu verwenden, um so jeden Tag, wenn auch nur im Vorbeigehen, einen Blick in diese werfen. Als ich einen Andrea-Palladio-Bildband aufschlug, fiel mir ein alter Kupferstich in die Hände, und sofort erinnerte ich mich: Vor rund 30 Jahren war ich mit meiner ersten großen Liebe nach Rom geflogen, eine abenteuerliche Reise über Ost-Berlin mit Interflug – das war damals billiger als ein Direktflug von Hamburg. Da ich zu dieser Zeit Gesang studierte, wollte ich unter anderem die Engelsburg aufsuchen, den Schauplatz der Oper Tosca. Mein Geburtstag fiel in diese Zeit, und meine Freundin schenkte mir diesen alten Kupferstich von Carlo Fea aus dem Jahre 1805. Auf der Rückseite fand ich sogar noch die Visitenkarte des Geschäftes in Rom. Unvergessliche Eindrücke und die Erinnerung an meine erste große Liebe verbinde ich mit dieser Reise. So können Bilder unsere Gefühle zurückholen, wenn wir gar nicht mehr damit rechnen, denn „Erinnerungen sind die einzigen Paradiese, aus denen man uns nicht vertreiben kann“ – wie es so schön heißt.
Seit einiger Zeit bestand mein Tag nur noch aus Arbeiten und Schlafen. Dann rief meine Tochter an und bat mich, ihr ein Bild zu suchen. Ich wollte erwidern, dass ich dafür keine Zeit habe – und fing dennoch an, in den Kisten zu stöbern. Dabei fand ich dieses Foto. Es zeigt meinen Schwiegervater im Jahr 1985. Er war ein Mensch, der sehr viel gearbeitet hat. Sogar das Haus für seine Familie hat er selbst gebaut, wie das in der DDR üblich war: alles Eigenleistung. Doch auf diesem Foto macht er einmal eine Pause, er liegt im Gras und streichelt die Katze. In diesem Moment ist ihm alles egal, vor allem die Zeit. Das Bild war, nach so langen Jahren, ein Geschenk für mich. Ich nahm mir endlich wieder Zeit für mich, schaltete einen Gang herunter, habe meine Zeit genossen und dankbar an ihn gedacht, an meinen im März verstorbenen Schwiegervater.
1982 hatte ich mich bei bei einem Jugend-Orchesteraustausch in einen jungen Franzosen verliebt. Da ich nicht Französisch und er nicht Deutsch sprechen konnte, verständigten wir uns mehr oder weniger auf Englisch. In dieser Zeit erreichten mich diese Briefe aus Italien und Kanada, die er Bekannten mitgegeben hatte, welche in diese Länder reisten, so dass ich seine Liebeserklärungen aus aller Welt erhielt – immer mit einem anderen Anfangsbuchstaben meines Vornamens versehen. Noch nach fast 30 Jahren berührt es mich, diese kleinen Botschaften ab und zu anzuschauen.
Nach rund vierzig Jahren ist dieser schöne Liebesbrief endlich auf verschlungenen Wegen in meine Hände gelangt. Meine heimliche Freundin damals hieß Heike und hat den Brief etwa 1970, im Alter von sieben Jahren, geschrieben. Ihre Mutter hat sie wohl bei dieser anrüchigen Tätigkeit erwischt, es dann aber doch nicht übers Herz gebracht, das Werk zu vernichten. So verschwand es für viele Jahre in einem wohl wenig interessanten Buch, das erst jetzt wieder jemand in die Hand genommen hat. Heike war schon damals so schlau, meinen vollen Namen zu erwähnen. Ich muss sagen, der Brief schmeichelt mir heute noch. In Kürze ist Klassentreffen. Ich bin gespannt!