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Wiedergefunden: Dank für die Westpakete

„Liebe Verwandte, Freunde, Bekannte aus der Bundesrepublik!

In diesen Tagen, den letzten der DDR, ist es an der Zeit, endlich allen Dank zu sagen für die jahrzehntelange, nie nachgelassene Hilfe aus dem „Westen“. Wieviele Pakete sind gepackt worden, wieviel habt Ihr eingekauft! Und immer die Frage: Schicken wir das Richtige? Was ist notwendig? Was macht Freude? Was wird durchgehen? Was werden „die“ rausnehmen? Wird es auch passen? Soll man getragene Sachen schicken oder nicht? Heute möchte ich Euch schreiben: Jedes Paket war ein Erlebnis. Das Holen, das Auspacken, das Ansehen, das Probieren, das Verteilen! Bitte nehmt das Wort „Danke!“ einfach so hin. Ob es ein Opfer war an Geld, Überlegungen, Zeit, oder nicht, wir haben es nie selbstverständlich genommen. Am Wichtigsten waren natürlich die Weihnachtspakete, dann reichte es wieder bis Ostern. Von den Dingen, die unter dem Christbaum lagen, waren neunzig Prozent von Euch. Und für die Handwerker und andere brauchte man ja auch immer etwas. Mein Trabbi ist jahrelang so repariert worden, wenn es
keine Ersatzteile gab. Danke auch, dass es oft nicht nur notwendige Dinge waren, sondern auch solche, die das Leben verschönt haben.

Und das Zweite: Wir haben es wirklich gebraucht! Ohne Euch und die Hilfe der Kirchen hätten wir kaum so durchhalten können. Als wir 1958 heirateten, bekamen wir 350 Mark Gehalt und mußten noch 50 Mark für das Motorrad abzahlen. Was wir auf dem Leib hatten, war fast hundertprozentig von „drüben“: entweder gleich passend oder umgeändert, auch immer weitergegeben, untereinander ausgetauscht oder gegen andere Dinge getauscht, verkauft. Ja, auch verkauft, weil man Geld dafür bekam, das ja immer knapp war. Jetzt kann man es sagen: Vom Kaffeeverkauf (40 Mark das Pfund) haben wir lange die Kohlen und den Koks bezahlt, die uns 700 Mark in einem Winter kosteten, das war zuletzt ein Monatsgehalt. Ohne all das hätte meine Frau arbeiten gehen müssen und hätte nicht so viel Zeit und Kraft und Liebe in die vier Kinder stecken können, was, wie wir glauben, sich gelohnt hat.

Und das Dritte: Die lange, lange Zeit, in der das alles geschehen ist. Wenn gute alte Verwandte gestorben sind, die das heute nicht mehr erleben und an die wir heute besonders denken, kamen neue Geber dazu. Die Kette ist nicht abgerissen! Einmal Gutes zu tun ist sehr leicht, aber über einen so langen nicht absehbaren Zeitraum es durchzuhalten war schon etwas Großartiges. Aber natürlich war es nicht nur das Materielle. Es waren von Eurer Seite das Denken, die Liebe, sicher auch das Gewissen, das Wissen um das Leben auf der anderen Seite des „Vorhangs“. Aber die Hauptsache war das Tun – und ein bisschen auch das Menschliche den Herrschenden gegenüber: Ihr habt die Macht, aber wir haben die Westpakete.

Bernhard Sparsbrod, Eisenach-Madelungen

 

Wiedergefunden: Aishas Füße

Vor einigen Wochen suchte ich auf meiner Festplatte nach einer Fotografie. Früher suchte man in Alben oder Kartons nach Fotos, aber das ist vorbei. Heute sieht es auf meiner Festplatte genauso chaotisch aus wie früher in meinen Kartons. Deshalb fand ich nicht das Foto, das ich suchte. Aber ein anderes. Darauf sieht man Aishas Füße und einen gelben Zettel. Entstanden ist das Foto vor über zwei Jahren bei einem Theater-Workshop in der Kölner Oper. Aisha nahm als eine meiner Schülerinnen an diesem Workshop teil. Ich weiß noch, dass dieser Tag ein voller Erfolg war und dass Aisha das Foto so gut gefiel, dass sie es als Hintergrund für ihr Handy benutzte.

Ich hatte Aisha seit der Abschlussfeier nicht mehr gesehen, aber durch das Foto dachte ich wieder häufiger an sie und an ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. Und dann stand sie auf einmal vor der Tür des Klassenraumes, in dem ich gerade unterrichtet hatte. Einfach so, nach der vierten Stunde, mit einer neuen Ponyfrisur und einer weißen Rose. Metaphysische Kräfte? Zuerst finde ich das Bild, nach dem ich gar nicht gesucht hatte, und dann steht Aisha plötzlich vor mir. Unglaublich! Wir umarmten uns, sie schenkte mir die Rose und machte – wie immer – nicht viele Worte. Sie war schon früher ein zurückhaltendes Mädchen gewesen, jetzt war sie eine zurückhaltende junge Frau. Sie werde im nächsten Jahr ihr Abitur machen, erzählte sie, vielleicht würde sie danach studieren. Es gehe ihr gut, sie käme zurecht. Wir plauderten ein bisschen, dann musste ich wieder in den Unterricht. Ich wünschte Aisha viel Glück auf ihrem Weg. Mit ihrem „Migrationshintergrund“ wird sie es schwerer haben als andere junge Frauen. Dieses politisch korrekte Wortungetüm vermittelt nur wenig von der Realität, in der Aisha sich wird behaupten müssen. Aber sie wird ihren Weg gehen, da bin ich mir sicher. Und ich freue mich, dass ich sie ein wenig auf diesem Weg begleitet habe.

Evelyn Meessen, Köln

 

Wiedergefunden: Kriegsalbum des Vaters

Es ist mein größter Schatz: Das Kriegsalbum meines Vaters, das er in den Jahren der Gefangenschaft (1943 bis 1947) mit Fotos und eigenen Zeichnungen angefertigt hat. Als ich vor Kurzem für drei Monate nach Neuseeland reiste, brachte ich das Album vorher zu Freunden, die einen Safe haben. Mein Haus hätte ja in der Zwischenzeit abbrennen können!

Ich bin in Breslau geboren, meine Mutter hat immer fotografiert und die Bilder meinem Vater in die Gefangenschaft geschickt. Diese Briefe waren ewig unterwegs, und so hat mein Vater erst im April 1944 erfahren, dass er seit November 1943 eine Tochter hatte.

Im Februar 1945 ist meine Mutter mit mir auf die Flucht gegangen und hat auf abenteuerliche Weise Nordwalde in Westfalen erreicht. Dort fand uns mein Vater wieder, und weil ich durch die vielen Fotos in der Familie wusste, wie er aussieht, konnte ich ihm bei seiner Rückkehr einfach so um den Hals fallen.

Jutta Kolodziejczyk, Münster

 

Wiedergefunden: Ticket zum World Trade Center

Beim Wühlen in alten Fotokisten fiel mir diese Eintrittskarte in die Hände. 1985 war ich mit meiner großen Schwester in Amerika gewesen. Sie zeigte mir die große, weite Welt, und staunend blickte ich die mächtige Glasfassade des World Trade Center empor. Eine Fahrt hinauf zur Aussichtsplattform war damals ein fester Programmpunkt jedes New-York-Besuchs. Nie werde ich die Aussicht von den Twin Towers vergessen, die nur 16 Jahre später in sich zusammenkrachen sollten, nie diese Urlaubswochen, nie die Zeit mit meiner großen Schwester, die vor ein paar Wochen starb. Wenn ich diese Eintrittskarte betrachte, wird mir klar, wie vergänglich doch alles noch so Große und Erstaunliche ist – und alles noch so Geliebte und Verehrte.

Leonhard Peters, Itzehoe

 

Wiedergefunden: Die Retterin

Als Achtjähriger musste ich mit dem Fahrrad einen langen Weg zur Schule in ein anderes Dorf fahren, es war 1952. Einmal lief mir ein Kind vor das Rad, ich stürzte über den Lenker und landete mit dem Kopf auf dem Asphalt. Klaffende Wunde an der Augenbraue, viel Blut. Was nun? Keine Erwachsenen weit und breit, kein Auto, auch noch kein Handy damals, nur entsetzte Mitschüler. Da kam eine 13-jährige Schülerin und wusste, was zu tun war. Sie half das Blut stillen, schob mein Fahrrad und brachte mich, einen Kilometer weit, zu einem Arzt. Und dann begleitete sie mich zwei weitere Kilometer zu Fuß nach Hause, ich hatte einen großen Kopfverband. An diesem Tag versäumte sie die Schule.

Die Narbe unter der Augenbraue habe ich bis heute, aber der Vorfall fiel mir erst 56 Jahre später wieder ein. Was mag aus dieser 13-Jährigen geworden sein? Sie müsste jetzt über 70 sein. Wäre es nicht Zeit, sich einmal zu bedanken? Als Achtjähriger war es mir peinlich gewesen, ich hatte sogar dezent die Straßenseite gewechselt, wenn ich sie nach dem Unfall einmal sah. Dann zog ich in die Stadt. Vor einiger Zeit traf ich einen Klassenkameraden wieder. Ich erzählte ihm davon und sagte: „Ich weiß nur noch, dass sie Karin hieß und ihr an einer Hand drei Finger fehlten.“ – „Das gibt es nicht, das ist meine Schwägerin!“, aber er wisse nicht, wo sie wohne, der Kontakt sei seit langer Zeit abgerissen. Dann aber hat er, ein halbes Jahr später, über drei Ecken doch ihre Adresse herausgefunden. So konnte ich ihr nach 57 Jahren einen Brief schreiben, handschriftlich natürlich. Dieser Brief schlug in ihr Herz ein wie ein Komet aus fernem Universum. Sie las ihn unter Tränen, wie sie mir später erzählte, wieder und wieder. Jetzt haben wir uns getroffen – eine sehr herzliche alte Dame! Die Dankbarkeit ist manchmal eine späte Frucht, aber sie verjährt nicht, und es lohnt, sie zu ernten. Sie tut beiden Seiten gut.

Friedemann Schulz von Thun, Hamburg

 

Wiedergefunden: Die Trabi-Bestellung

Ende 1977 habe ich einen Trabant bestellt. Das war damals Routine. Ich glaube, dass es zu jeder Zeit von jedem DDR-Bürger eine solche Bestellung gab – oder sogar mehrere –, weil jeder wusste, dass die Realisierung Jahre dauern würde. So konnte auch ich als Berufseinsteiger ohne finanzielle Polster es mir leisten, ein Auto zu bestellen, obwohl es keine Kredite für solche Konsumgüter gab. Die rund 10.000 DDR-Mark für den Trabant würden im Laufe der Zeit schon zusammenkommen. Und tatsächlich: Die Zeitspanne bis zur Auslieferung verlängerte sich von Jahr zu Jahr, ich habe den Trabant nie bekommen. Dreizehn Jahre waren eben nicht genug, um das Fahrzeug für mich zu produzieren.

Christoph Pollmer, Dresden

 

Wiedergefunden: Die Spuren der Kindheit

War es wirklich Zufall, dass David Blum aus Ann Arbor, Michigan, auf seiner Spurensuche in Bamberg an den Apotheker Erich-Michael Luft geriet, dem er sein Anliegen in Englisch vortragen konnte? Er wollte den Ort wiederfinden, an dem in der Nachkriegszeit seine Eltern mit Tausenden anderer osteuropäischer Juden vor der Auswanderung nach Palästina Zuflucht gefunden hatten. Der Apotheker knüpfte den Kontakt zu mir, weil er weiß, dass ich mich als Heimatpfleger auch mit dieser Epoche beschäftige. Mit Mister Blum, einem Hautarzt, wanderte ich von seiner damaligen elterlichen Wohnung in der Ulanenkaserne (Bild) zur Synagoge der Israelitischen Kultusgemeinde und zur ehemaligen Frauenklinik, wo David Blum im November 1946 das Licht der Welt erblickt hatte. Bewegt berichtete er, dass er viele Jahre mit sich gerungen hat, ob er seinen Geburtsort jemals wiedersehen wollte, den er nur von alten Fotos und aus Erzählungen seiner Eltern kannte. Nach dieser Zeitreise aber ist er sicher, dass er wiederkehren wird in unsere schöne Weltkulturerbestadt.

Hanns Steinhorst, Bamberg

 

Wiedergefunden: Die Werkstattrechnung

Es war vor vierzig Jahren. Wir waren Studenten und wollten im Bayerischen Wald eine Woche wandern, doch bei meinem alten Käfer war die Kupplung ausgeleiert, und die Bremsen funktionierten nicht mehr optimal. Notgedrungen brachte ich den Wagen an unserem Zielort in die Werkstatt, um den Kundendienst und die notwendigen Reparaturen vornehmen zu lassen, während wir wanderten. Acht Tage später saßen wir im Linienbus, um unseren Ausgangsort wieder zu erreichen, und ich zerbrach mir den Kopf darüber, was das jetzt wohl kosten würde: 100 Mark oder 200, dazu eine Woche Parken in der Werkstatt? Doch als ich die Rechnung sah, konnte ich es kaum glauben: keine 26 Mark (das wären umgerechnet 13,27 Euro), inklusive achttägiger diebstahlsicherer Aufbewahrung – und das Auto war perfekt repariert!

Bernhard Stille, Deggendorf

 

Wiedergefunden: Der Pulli

Vor einiger Zeit fiel mir beim Kleiderschrankaufräumen ein grauer Pulli in die Hände, der einmal meinem Vater gehört hatte. Mein Vater ist bereits vor achtzehn Jahren gestorben, den Pulli haben zunächst ich und später mein Mann getragen, bis er schließlich in den Tiefen des Kleiderschranks verschwand. Als ich ihn auseinanderfaltete, wurde mir nach langer Zeit wieder bewusst, dass der rechte Ärmel immer überflüssig gewesen war, denn der Arm, den er hätte kleiden sollen, war weg.

Mein Vater hatte für mich immer nur einen Arm, und zwar den linken. Den rechten hatte er mit siebzehn Jahren an der Ostfront verloren. Und natürlich war da immer die kindliche Frage, wie man denn seinen Arm verlieren kann, einfach so, und dazu noch den rechten? Andere Leute verlieren ihr Taschentuch oder ihre Geldbörse, mein Vater seinen Arm. Natürlich fehlte der Arm meines Vaters, zum Beispiel beim Schuhebinden. Oder beim Frühstück: Ein Frühstücksei kann man nicht mit einem Arm essen. Manchmal nahm mein Vater mich abends mit zum „Versehrtenschwimmen“. Da waren dann nur Männer mit Stümpfen, und ich hätte diese unvollständigen Schwimmer gern nach ihren Armen und Beinen gefragt. Aber dazu reichte mein Mut dann doch nicht.

In den letzten zehn Jahren habe ich nach und nach registriert, dass die Zeit der „abben“ Arme und Beine vorbei ist: Die meisten der so durch den Krieg „versehrten“ Männer sind gestorben. Dann gab es im Fernsehen einen Film über Kriegsrückkehrer aus Afghanistan. Dort sah ich sie wieder, die Männer meiner Kindheit. Einer hielt mit dem verbliebenen Arm seine kleine blonde Tochter auf dem Schoß. Geschichte wiederholt sich eben doch. Leider.

Evelyn Meessen, Köln

 

Wiedergefunden: eine Vertröstung

Als ich vor über 60 Jahren versuchte, die ZEIT zu abonnieren, erhielt ich den beiliegenden Bescheid: Das Papier reiche nicht, um auch eine Zeitung für mich zu drucken. Das hat mich jedoch nicht davon abgehalten, mein Leben mit dieser Wochenzeitung zu verknüpfen. Sie hat mir vergnügliche Stunden bereitet, meine Familienstandsveränderungen publik gemacht, mir eine neue Ehefrau gefunden und mich oft wissender werden lassen, ohne dass mich dies sonderlich belastet hätte – zumal ich heute von dem Abonnment meiner Frau profitiere, das ursprünglich einmal ein Studentenabo war.

Jürgen Diederichsen, Hamburg