Wegen einer Blinddarmentzündung musste mein Vater im Februar 1953 operiert werden. Die Rechnung dafür fand ich beim Aufräumen unter einem Haufen von Papieren wieder. Wenn man die heutigen Krankenhauskosten kennt (ein Kliniktag für Privatpatienten kostet etwa 700 Euro!), erscheinen 52,50 Mark unglaublich!
Mein Leben ist seit Kurzem um eine wunderbare Begegnung reicher: Durch einen Zufall habe ich nach über 65 Jahren mein einstiges Kindermädchen wiedergefunden. Und das kam so: Ich lebe in Bonn, verbringe die Wochenenden aber meist in Andernach, wo mein Großvater nennenswertes Land besaß. Weil Reiten bei uns eine Familienkrankheit ist, hatte ich mich im Herbst bei der dortigen Reitlehrerin angekündigt, um Stunden für meine Enkel zu planen. Auf dem Weg zum Stall überquerte ich eine fremde Wiese, entschuldigte mich bei der alten Dame auf der angrenzenden Terrasse für die Grenzverletzung und nannte dabei auch den Grund meines Kommens. Die Dame ermunterte mich näherzutreten. Wir stellten uns vor, wobei ich den Namen der großväterlichen Familie nannte, der dort bekannter ist als der meine, die Dame, »Frau Saal«, lachte erstaunt: »Bei Norrenbergs habe ich gearbeitet!« Ich bat sie um ihren Mädchennamen: »Bermel« Ich fragte nach, ob sie vielleicht mit unserem heiß geliebten Kindermädchen Friedel Bermel verwandt sei. »Ich bin doch die Friedel, ich hab dort die Kinder gehütet, der Helle und die Gitty waren die liebsten Kinder. Und wer sind Sie?« – »Ich bin die Gitty.« – »Nein!« – »Doch!« Und so habe ich als Zeugnis der uralten Beziehung ein Foto aus dem Jahr 1946 ausgegraben – sie links, 19-jährig, und ich rechts, mit drei Jahren, bei der Jause in unserem Garten. Der Landwirt ist übrigens ein Verwandter von Friedel, weshalb sie – inzwischen alleinstehend und gehbehindert – in die dortige Einliegerwohnung gezogen ist. Und obwohl ich oft auf dem Hof war, um mit den Kindern Pferde zu gucken, haben wir uns erst jetzt getroffen!
Neulich kaufte ich mir ein gebrauchtes Exemplar der Kamera Box-Tengor von Zeiss Ikon aus den fünfziger Jahren. Als ich sie öffnete, fand ich darin zu meiner Überraschung noch einen belichteten Film, wie er nur bis zum Jahr 1960 produziert worden war. Meine Neugier war schier grenzenlos: Ob sich der Film wohl noch entwickeln lassen würde? Was würde sich auf den Negativen wohl verbergen? Und siehe da: auf allen Negativen war das gleiche Motiv zu erkennen, ein etwa dreijähriger Junge auf einem Dreirad. Ich nahm Kontakt zum Vorbesitzer der Kamera auf, und es stellte sich heraus, dass das Bild im Jahr 1962 aufgenommen worden war. Der Junge war ein Cousin der Frau des Verkäufers, sie hatten untereinander aber keinen Kontakt mehr. Es war ein magischer Moment. Ein Gruß aus der Vergangenheit.
Als ich meinen Wäscheschrank aufräumte, tauchte sie auf: die – ehemals weiße – Seife zur Hochzeit von Lady Diana Spencer und Prince Charles am 29. Juli 1981. Meine Freundin hatte sie mir, einem Lady-Diana-Fan, aus England mitgebracht. Statt die Seife ihrer Bestimmung zuzuführen, verwahrte ich sie in einem kleinen rosa Karton. So überdauerte sie nun bald 32 Jahre. Ach, wäre es den beiden Königskindern doch vergönnt gewesen, wie auf der Seife zusammen alt und grau zu werden! Diana ist tot und Charles mit einer anderen verheiratet. Im Gedächtnis geblieben ist kein schönes Märchen, sondern eine traurige Seifenoper.
Zu Weihnachten 1944 sandte mein Großvater diese auf dünnem Pergamentpapier gemalten Grüße an seine Familie ins Sudetenland. Damals war er als Funker in der Festung Saint-Nazaire an der Loire-Mündung eingeschlossen. Nach Kriegsende verbrachte er noch drei Jahre in französischer Gefangenschaft. Dieses Jahr aber feiert unsere Familie Weihnachten mit Gästen aus Frankreich: Mein ältester Bruder hat eine Französin geheiratet. Mit dem Baby Clara und den Schwiegereltern sind sie zu uns gekommen. Welch ein Wandel nach drei Kriegen zwischen Frankreich und Deutschland innerhalb eines Jahrhunderts!
Im Herbst letzten Jahres ist mein 90-jähriger Vater verstorben. In seinen Papieren und Aktenordnern fand ich diesen Wunschzettel. Ich muss ihn wohl 1962 im Alter von sieben Jahren geschrieben haben. Dass mein Vater ihn aufgehoben hat, berührte mich sehr. Ski fahre ich heute nicht mehr. Bücher habe ich mir immer gewünscht und von meinen Eltern bekommen – auch wenn das Geld mal knapp war. meine Leidenschaft habe ich später zum Beruf gemacht: Ich wurde Buchhändlerin und Diplom-Bibliothekarin.
Beim Ordnen des Nachlasses meiner kürzlich verstorbenen Mutter fand ich diese Postkarte. Gerichtet ist sie an meinen damals 27-jährigen Großvater. 1912 verlobte er sich mit meiner späteren Großmutter, die auch die Postkarte abschickte. Es erscheint wie ein kleines Wunder, dass ich die 100 Jahre alte Karte gerade jetzt gefunden habe! Sie hat alle Kriege und politischen Umbrüche des Jahrhunderts dazwischen unbeschadet überstanden – auch den Bombentreffer auf das Haus meiner Großeltern in Magdeburg.
Anna und Gunnar Möhring, Niederndodeleben, Sachsen-Anhalt
»Oma, hattest du einen Freund, als du so alt warst wie wir?«, fragen meine pubertierenden Nichten meine Mutter beim Sonntagskaffee. meine Mutter ist 81 Jahre alt und im Kriegswinter 1945 von Schlesien ins Münsterland geflüchtet. »Mein liebster Freund war ein Schulkamerad namens Friederich Menke aus unserem Nachbardorf in Schlesien«, antwortet meine Mutter und holt aus ihrer Erinnerungsschublade ein winziges, vergilbtes Foto mit einem noch winzigeren Kerlchen mit roter Zipfelmütze.
Gedankenverloren erzählt sie von diesem Freund, den sie am Abend vor der Flucht das letzte mal gesehen hat. Traurig vermutet sie, dass der Junge wohl damals ums Leben gekommen sei. Einige Wochen später meldete sich meine mutter völlig aufgelöst bei mir: »Du kannst dir nicht vorstellen, wer mich gerade angerufen hat: Friederich Menke aus Schlesien.«
Ich war tatsächlich sprachlos. Wie konnte der Jugendfreund nach 66 Jahren auf einmal anrufen? Doch die Lösung ist ganz einfach. mein Bruder, der das Gespräch verfolgte, hatte den Namen im Internet ausfindig gemacht. Der Mann wohnt nur 100 Kilometer entfernt, und ein erstes Treffen, welches uns alle tief berührte, fand kurz nach dem Telefonat statt.
Über 20 WG-Jahre lang hat mich dieses Spiel begleitet – an alle Wohnorte. Beim jüngsten Scrabble kamen die Erinnerungen hoch – dabei suchten wir nur einen freien Zettel. Als Gelegenheitsspieler waren wir alle keine Helden, hatten aber meistens viel Spaß am Küchentisch. Was Manu, Anne und Bigi machen, ist mir bekannt, wo Antje, Marion, Sandra und all die anderen stecken, würde ich zu gerne wissen. Vielleicht finde ich sie ja auf diesem Weg wieder …
Würzburg 2012: Ich warte am Bahnhof auf einen Zug und komme mit einem älteren Herrn ins Gespräch, der zu seinem 50-jährigen Abi-Jubiläum fährt. Er trägt ein Hörgerät und merkwürdige Socken aus Naturwolle, aber seine Bewegungen und sein Lächeln lassen mich an jemand denken, den ich früher gut kannte.
Würzburg 1966: Uns gegenüber zog ein Medizinstudent ein, in den ich mich voller Inbrunst verliebte. Als ihn sein Vater nach einer nicht bestandenen Prüfung zum Studium nach Kiel beorderte, folgten Briefe und ein (heimlicher) Besuch meinerseits in Kiel. Als ich später nach Hamburg zog, besuchte auch er mich noch einmal, dann verloren wir uns aus den Augen. Würzburg 2012: Als ich am Bahnhof neben ihm saß, wagte ich nicht zu fragen. Doch Gott sei Dank gibt es heute das Internet. Schnell habe ich den Doktor gefunden. Ich rufe ihn in der Praxis an. Er kommt an den Apparat. Er ist es. Er hat mich nicht erkannt. Wir haben uns verändert in 46 Jahren. Wie schnell unsere Zeit auf dieser Erde vergeht. Nie habe ich es so deutlich gespürt. Doch gleichzeitig spüre ich ein sehr warmes Gefühl.