Leichenbittermiene – das Wort erinnert mich an meine Kindheit in den sechziger Jahren in einem kleinen ostwestfälischen Ort. Ich weiß noch genau, dass immer dann, wenn jemand gestorben war, der Leichenbitter von Haus zu Haus ging, alle von dem Tod in der Nachbarschaft informierte und sie zur Beisetzung und dem anschließenden Leichenschmaus bat. Das Phänomenale an unserem Leichenbitter war, dass er auch im Alltag traurig und bedrückt wirkte und man ihn nie ohne Leichenbittermiene sah.
Seit Jahren beziehe ich hier in Neuseeland die ZEIT und tue mich schwer damit, alte Exemplare einfach ins Altpapier zu geben. In diesem verregneten Sommer, zwischen Weihnachten und Neujahr, habe ich nun angefangen, Pappmaschee-Puppen zu fertigen. Abgesehen von der Versiegelung, bestehen die Köpfe zu hundert Prozent aus ZEIT und die letzte farbige Lage aus ZEITmagazin – weil’s so schön glänzt … Es ist eine kleine Kompanie entstanden, und jede Puppe hat eine Geschichte: Der Philosoph hat einen Traum, und das deutsche Mädel grüßt Hannah Höch (die Flagge auf der Stirn stammt allerdings aus einem Artikel über Havanna). Die Hexe hat es mir besonders angetan, da ihre Zähne noch den Schriftzug des Magazins erkennen lassen (ganz eindeutig: der Zahn der ZEIT). Die Gesichtshaut besteht aus dem Titelblatt der Ausgabe 52/10, einem superschönen Bild von Michael Sowa. Als ich heute den Rest des reichlich zerfledderten Magazins fotografierte, fiel mir die Frage im Inhaltsverzeichnis auf: »Muss ich mich über selbst gebastelte Weihnachtsgeschenke besonders freuen?« Wie passend!
Die Gäste sind gegangen,
Die Zimmer rauchverhangen,
Im Kopf ist’s nicht sehr klar;
Das Haus steht leer und schweiget,
Und aus dem Innern steiget
Der Knoblauchdunst so sonderbar.
Seht ihr den Mond dort stehen?
Ich kann ihn doppelt sehen,
Ist das nicht wunderschön?
So geht’s beim langen Zechen,
Wenn wir die Leber schwächen
Und allzu laut nach Hause gehn.
Die Welt ist gar nicht stille,
Geschirr steht da in Fülle,
Nix traulich und nix hold!
Schleppt euch in eure Kammer,
Wo ihr den Katzenjammer
Verschlafen und verscheuchen sollt.
Kommt bitte, liebe Brüder,
Nicht morgen gleich schon wieder!
Die Flaschen sind ja leer.
Verschont das Haus mit Saufen,
Ihr gottverfressner Haufen;
Doch schön war’s wieder einmal sehr!
Was die deutsche Sprache betrifft, bin ich keine Muttersprachlerin. Ein Leben lang außerhalb eines deutschsprachigen Raums lebend, bin ich eher eine Beobachterin. Aber ich habe auch meine Wort-Schätze. Der neueste stammt aus dem deutschen Fernsehen. Nie vorher habe ich solch ein schönes und lustiges deutsches Wort gehört wie vor Kurzem beim Wintersport schauen: Skischuhschnalle. Das Wort klingt so, als ob es sich die Dadaisten ausgedacht hätten. Meine achtjährige Tochter war genauso begeistert, noch bevor sie merkte, dass das Wort auch Semantik hat. Es lebe die Konsonanz!
Bei unseren (fast) täglichen Scrabble-Partien freue ich mich, wenn ich eins der Wörter benutzen kann, die im Duden als »veraltet« bezeichnet werden – veraltet wie wir selbst. So auch das Wort Eidam, obwohl sich dieses beim Scrabbeln nicht gerade empfiehlt mit seinem Missverhältnis zwischen Vokalen und Konsonanten. Ob unsere Nachkommen dieses Wort überhaupt noch kennen, weiß ich nicht. Ich stelle mir den Eidam jedenfalls als einen jungen, vielleicht auch nicht mehr ganz so jungen Mann vor, der, entsprechend gekleidet, bei den Eltern seiner Erwählten um die Hand ihrer Tochter bittet. Und natürlich hat er ein gesichertes Einkommen. Diesem Bild entsprechen die Vertreter dieser Spezies in unserer Familie nicht unbedingt, und trotzdem haben wir sie sehr gern.
Der Student befindet sich immer im Zwiespalt: Was bezeichnet er als »Zuhause«, den Studienort oder das Elternhaus? Dank der kleinen sprachlichen Unterschiede innerhalb Deutschlands bin ich gegen dieses Problem gefeit: Ich bin in Norddeutschland zu Hause und in Süddeutschland daheim. So einfach kann es sein.
Ludwig ist gestorben. Kurz vor seinem Geburtstag und viel zu früh. Wir besuchen seine Frau, die Schwiegermutter meines Zwillingsbruders. Und sie macht eine Flasche Sekt auf! Weil mein Bruder und ich selbst bald Geburtstag haben. Zwischen Lachen und Weinen denken wir an Ludwig und trinken – auf uns alle.
Endlich Wochenende, es ist klirrend kalt. Die Feuerwehr hat die Rollschuhbahn geflutet, nun ist sie zum Eislaufen freigegeben. Abends, bei Flutlicht, drehen meine Schwester und ich unsere Runden. Wir genießen die Stille und die klare Mondnacht. Wir schwätzen, lachen, frieren, tauschen die Schals und merken, dass wir es noch können.
»Da gab’s doch mal so ein nettes Faschingsfoto von uns und unseren Freunden «, sagt die 36-jährige Tochter mit Aufforderungscharakter in der Stimme. Die Mutter findet die Aufnahme der maskierten Sprösslinge und erinnert sich: Wer hätte vor mehr als dreißig Jahren gedacht, dass die kleine Hexe einst andere ergotherapeutisch bezaubern würde, der bewaffnete Indianer Jugendliche mit sozialen Problemen unterstützen, die kecke Squaw neben ihm ihr Sprachtalent und ihre Sportbegeisterung beruflich umsetzen, dass ihre Freundin mit dem Cowboyhut in einer Fotoredaktion landen und dass der Indianerhäuptling sein Know-how international (und zurzeit tatsächlich in Amerika) einbringen würde? Das Leben ist voller Überraschungen!
An ähnlicher Stelle wie die Leser Sabine Schwarz und Uwe Kühnle fand auch Salvo Costa eine eigentümliche Plakatierung. Ein weiteres Beispiel für unbeabsichtigten Humor.