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Akklimatisieren: Mein Wort-Schatz

Ich mag das Wort akklimatisieren. In den achtziger Jahren fuhr ich als Kind jedes Jahr mit meinen Großeltern in den Urlaub. Egal, ob im Sommer am Gardasee oder im Herbst an der Nordsee – erst mussten wir uns langsam an die ungewohnten Temperaturen, das andere Essen, die raue Luft gewöhnen. In der Hitze Italiens verließ man zur Mittagszeit den Strand, um sich in der Kühle des Hotelzimmers eine Auszeit zu gönnen, in Büsum war Barfußlaufen in den ersten Tagen tabu. Körper und Seele mussten erst mal ankommen können. Nach drei bis vier Tagen fing der Urlaub dann so richtig an! Heute jetten wir für zwei Nächte zum Sightseeing oder über Silvester in die Karibik. Mein Lieblingswort und sein Sinn spielen dabei keine Rolle mehr. Dafür haben wir gar nicht die Zeit! Vielleicht hat man deshalb manchmal das Gefühl, gar nicht weg gewesen zu sein!

Simona Ernst, Hamburg

 

Was mein Leben reicher macht

Meine Oma ist 97 und erfreut sich bester Gesundheit. Nur die Ohren und das Gedächtnis! Zu Weihnachten hole ich sie zu uns nach Hause und helfe ihr in den Mantel. Das sei ganz sicher nicht ihr Mantel, sagt sie. »Doch Omi, ganz bestimmt!« Sie schüttelt den Kopf, zieht den Mantel trotzdem an und sagt im Hinausgehen: »Du bist zwar ein Schatz, aber recht hast du trotzdem nicht!«

Jan Magatzki, Itzehoe

 

Zeitsprung


1964 bereiste mein Großvater Alfred Hesse die Mongolei und brachte eine Vielzahl von Zeichnungen und Skizzen mit. Seine spannenden Geschichten von wilden Reitern und mystischen Tempeln begeisterten uns Enkelkinder. 41 Jahre später, noch immer seine Worte im Kopf, kam ich selbst in dieses wunderbare Land. Viel hat sich nicht verändert, und an so mancher Stelle entdeckte ich ein mir vertrautes Motiv. Unmittelbar in der Nähe des Gandan-Tempelkomplexes in Ulan Bator befindet sich ein Tempel, der eine Statue des Megdshid Dshanrajsig beherbergt. 1913 eingeweiht, symbolisiert die Skulptur die Unabhängigkeit der Mongolei. 1938 demontierten die Russen den Buddha im Zuge der antilamaistischen Ausschreitungen. Anfang der neunziger Jahre wurde eine Kopie der Statue angefertigt und 1996 am ursprünglichen Ort aufgestellt. Interessanterweise sieht man kleine Unterschiede zwischen dem alten, 1964 gezeichneten, und dem neuen, 2005 fotografierten Dach des Tempels. Auch die Jurten vor dem Gebäude sind verschwunden.

Antje Kakuschke, Hamburg

 

Was mein Leben reicher macht

Während Viertklässler versuchen, eine alte Zeitung aus dem Jahre 1916 im Original zu entschlüsseln, bittet mich ein Erstklässler darum, diese Zeitung hinterher geschenkt zu kriegen. Auf meine Frage, ob er denn schon lesen könne, antwortet er: »Noch nicht. Aber bald.«

Edelgard Wilms, Eddigehausen, Niedersachsen

 

Straßenbild: Achtung


Es gibt den Corcovado in Rio, das Matterhorn in der Schweiz, das Monument Valley in den USA und was weiß ich noch, was man bestaunen kann. Aber wenn man mal auf der Autofahrt zwischen Bargteheide und Bad Oldesloe (das liegt in Schleswig-Holstein) in die Gegend guckt, gibt es mindestens genauso schöne Dinge zu sehen. Allerdings: Anhalten sollte man schon, an die Seite fahren und beim Aussteigen vorsichtig sein – sonst war es das Letzte, was man im Leben gesehen hat.

Dietrich von Horn, Bargteheide

 

Was mein Leben reicher macht

Neulich vor einem Möbelhaus. Ich habe mir ein Auto mit Hybridantrieb ausgeliehen, um die notwendigen und die überflüssigen Dinge nach Hause zu fahren. Als ich ausparke, versuchen neben mir ein Mann und seine Frau die viel zu langen Regalteile in ihr kleines Auto zu wuchten. Und als ich mit dem Wagen lautlos wie ein Fisch aus der Parklücke gleite, lassen sie alles liegen und stehen. Ich sehe sie im Rückspiegel mit großen Augen fassungslos hinter mir herblicken, als würde ich in einem Raumschiff sitzen. Da spüre ich das Glück in mir, den beiden das Wunder der Stille geschenkt zu haben.

Wolf Stahl, München

 

Wiedergefunden: Das Radio-Geschenk


Eigentlich suchte ich nur in alten Kisten nach Fotos für eine Familienfeier. Dabei fiel mir dieser Geburtstagsgruß meines Vaters an meine Mutter in die Hände. Mein Vater war in den fünfziger Jahren als Schiffskoch bei der Handelsmarine beschäftigt und auf der Ansgaritor nach New York oder in die Karibik unterwegs. Meine Mutter arbeitete in Kamen, Westfalen, in einem Altenheim. Viel schöner als jede SMS und auch jeder Anruf, der längst vergessen wäre, hat sich der telegrafische Gruß auch mehr als 50 Jahre nach seiner Versendung erhalten. Dieses »Radio-Geschenk« brachte die große weite Welt in Windeseile in die deutsche Provinz und hat die Empfängerin die große Distanz zu ihrem Schatz sicher vergessen lassen. Vor zwei Jahren haben meine Eltern ihre Goldene Hochzeit gefeiert, die Investition meines Vaters hat sich also offenbar gelohnt.

Elfi Zimmerling, Düsseldorf

 

Was mein Leben reicher macht

Wenn ich meinen 15-jährigen, stark pubertierenden Sohn sehe, wie er seiner zweijährigen Cousine Marmeladenbrote streicht und sie gemeinsam mit ihr verzehrt. Er ist doch auf einem guten Weg, denke ich dann.

Mona Klement, Schwabach

 

Was mein Leben reicher macht

Schon als Kind hatte ich Probleme mit Reißverschlüssen. Das hat sich im Rentenalter nicht geändert. So stehe ich letztens in Friedrichshafen auf dem Bürgersteig und kämpfe mit meiner Jacke. Ein älterer Herr kommt mir entgegen, bleibt stehen und sagt: »Diese Reißverschlüsse klemmen aber auch immer!« Ganz selbstverständlich macht er mir die Jacke zu. Das war ein Gefühl wie damals als Kind, wenn Mama mir geholfen hat. Schön war das. Und vor allem so selbstverständlich. Der freundliche Herr ging einfach weiter.

Hedi Winter, Friedrichshafen