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Sammelsurium: Mein Wort-Schatz

Als Kind herrschte ich über einen wunderbaren Schatz, der in meinem Kinderzimmer, ohne erkennbares System, weitflächig verteilt war. Diesen Schatz hatte ich in vielen Jahren liebevoll zusammengetragen. Es handelte sich um außerordentlich wertvolle Dinge, wie Muscheln, Steine jeder Größenordnung, rostige Schrauben mit Muttern und Unterlegscheiben, Hunderte von Einzelteilen aus dem Märklin-Baukasten, halb fertige Traktoren und Portalkräne, speckige Stofftiere, Sportabzeichen der verschiedensten Leistungsstufen und viele andere Herrlichkeiten. Nichts davon hätte ich hergegeben, es sein denn über meine Leiche. Meine Mutter allerdings konnte den Wert der außergewöhnlichen Sammlung offenbar auch nicht andeutungsweise ermessen. Sonst hätte sie nicht eines unschönen Tages in wenig freundlichem Ton zu mir gesagt, ich solle doch endlich das ganze Sammelsurium wegschaffen. Geblieben ist mir ein frühkindliches Trauma neben der Gewissheit, dass es kein hässlicheres Wort auf der ganzen Welt gibt, als das Teufelswort Sammelsurium, vor allem im Zusammenhang mit den Schätzen eines Kindes. Und sollte ich jemals einen Meuchelmord begehen, wird mein Anwalt gut daran tun, diese tiefe Verletzung strafmindernd vorzubringen.

Willi Oberholz, Wittlich

 

Was mein Leben reicher macht

40 Tage lang war ich auf Krücken angewiesen: Außenknöchelfraktur. Und jetzt bin ich endlich wieder unabhängig!
Kann losgehen, wann ich will, mit dem Fahrrad durch den Park fahren und muss nicht mehr jeden unnötigen Weg vermeiden. Kann in der Bibliothek die Wendeltreppe nach oben laufen und mir einen Roman von Martin Suter ausleihen. Schwimmen. Klavierspielen mit Pedal. Ich genieße meine wiedergewonnene Freiheit und danke allen, die mir geholfen und mich ertragen haben.

Rebecca Theurer, Weimar

 

Erinnerung an Hedwig

Als ich Schwester Hedwig kennenlernte, war sie kurz vor der Rente. Eine kräftige, mittelgroße Krankenschwester, die zupacken konnte. Das Tun war ihre Stärke, weniger das Diskutieren. Kamen Praktikanten ins Pflegeheim mit neuen
Ideen, dann meinte Hedwig: »Die kommen her, stecken ihre Nase überall rein, wollen alles verändern, dann gehen sie studieren. Uns bleibt die Arbeit, weil sie die Alten völlig durcheinanderbringen« Wer die Pflegestation von Schwester Hedwig für die nächste Schicht übernahm, konnte sich darauf verlassen, dass alle sauber in frisch bezogenen Betten lagen. Hedwig war das Symbol für die Satt- und Sauberpflege. Sie starb in einem Pflegeheim, in dem es für Hygiene einen Zeitplan gab, für den sich niemand wirklich verantwortlich fühlen wollte. Nun hatte die Satt- und Sauberpflege einen geringeren Stellenwert. Alle wollten therapieren, in Gesprächsrunden, mit Maltherapie, Basteln, Musiktherapie, Tanz, Veranstaltungen, Ausflügen, Filmvorführungen und Vorträgen. Manchmal roch es unter Hedwigs Bettdecke. Dann war sie unruhig, murrte vor sich hin, der Schlaganfall hatte ihr die Sprache genommen. Aber keiner wollte sie verstehen. Einmal wurde sie in den Rollstuhl gesetzt. Es hieß, sie müsse beschäftigt werden. Sie sollte in die Bastelrunde. Hedwig hatte nie im Leben gebastelt. Plötzlich drängten Blase und Darm. Sie bat um Hilfe, aber Basteln war angesagt, nicht Säuberung. Die Therapeutinnen waren für den Schmutz in Hedwigs Unterhose nicht zuständig. Freundlich erinnerte man sie daran, dass sie eine Windel trug. Die Selbstverwirklichung kreativer Mitarbeiter in der Altenpflege bringt Qualitätspunkte. Erfolgreich wehrte sich Hedwig von nun an gegen jede Therapie, indem sie wütend mit dem noch funktionierenden Arm um sich schlug. Die Scham hatte sie nicht mehr losgelassen. Bald bedrängte sie keiner mehr. Nur wenn sich die Tür öffnete und der Therapiehund schnüffelnd um ihr Bett schlich, lag sie ganz still, liefen Tränen über ihr angespanntes Gesicht, vielleicht, weil sie an ihren Hund dachte und die Zeit der Selbstbestimmtheit zu Hause.

Margarete Noack, Berlin

 

Zeitsprung

1971

2011

1971: Das medizinische Staatsexamen hatten wir bestanden. Ein Glas Sekt entließ uns in eine hoffnungsvolle Zukunft, und wir verteilten uns über die damalige Bundesrepublik. Kürzlich trafen wir uns am Studienort Freiburg wieder: ein Landarzt, ein Radiologe, ein Internist und ein Nephrologe. Und natürlich feierten wir das Wiedersehen nach vierzig Jahren wiederum bei einem Glas Sekt. Die Haare sind grauer, die Bäuche runder geworden. Lediglich die Tischdecke
hat sich kaum verändert. Wir sind jetzt alle im Ruhestand, aber uns kam es vor, als seien nur vier Wochen zwischen den Aufnahmen vergangen.

Joachim Hacker, Eisenbach

 

Was mein Leben reicher macht

Was für ein Tag! Abends heimgekommen von einer Wanderung mit lieben Menschen. Auf dem Tisch ein Zettel: »Für den besten Vermieter der Welt. Opa, es steht ein Kuchen für Dich im Kühlschrank, lass es Dir schmecken!«

Dieter Blezinger, Markdorf

 

Die brasilianischen Verwandten

Schon als Kind haben mich die alten Fotos im Album meiner Großeltern fasziniert. Da waren Menschen verschiedenen Alters zu sehen, inmitten gerodeter Wälder, zum Teil zu Pferd, die Kinder barfuß. Es hieß: »Das sind Verwandte, die nach Brasilien ausgewandert sind.« Keiner konnte (oder wollte?) mir die verwandtschaftlichen Verhältnisse erklären. Als ich jetzt nach fünfzig Jahren meinen Stammbaum auf einer Internetseite eingab, kam nach kurzer Zeit die Nachricht, dass in Brasilien jemand einen Stammbaum hat mit den Namen einiger meiner Vorfahren. 92 Prozent Übereinstimmung! Sollten das die verloren gegangenen Verwandten sein? Inzwischen findet ein reger E-Mail-Kontakt zwischen Brasilien und Deutschland statt. Meine Urgroßmutter, die ich noch kennengelernt habe, und die Großmutter des brasilianischen Verwandten waren Schwestern! Nun haben alle Menschen auf den Fotos Namen und Identität bekommen. Ich weiß den Grund der Auswanderung und kenne nun so manche Anekdote über meine Urgroßmutter. Es ist ein wunderbares Gefühl, einen Zweig seiner Familie wiedergefunden zu haben.

Kerstin Forneck, Königswinter

 

Was mein Leben reicher macht

Kürzlich, an einem Montag, hatte mein Mann einen Geburtstagswunsch: einmal Baden-Badens Flair erleben! Doch: Alle Museen zu, im Friedrichsbad wurden Männlein und Weiblein getrennt. Nur ein Stadtbummel – das war nicht das, was wir wollten. So saßen wir im Park, in Angesicht der Büste von Kaiserin Augusta, und mein Mann erzählte von Kaisern und Königen, von ungewollten Kriegen und vermeintlichem Frieden, von Hoffnungen und Verträgen.
Eine Zeitreise über 500 Jahre aus der Sicht eines Historikers. Bei mir blieb das Gefühl: Ich habe 50 Jahre auf diesen Mann gewartet, und jetzt wartet der Regen in den Wolken, wartet der Tag für einen langen Augenblick auf die nächste Sekunde, wartet die Zeit auf das Ende der Geschichte. Nur meine Warterei hat ein Ende, ich bin Königin, und der Vertrag hält.

Ute Stumpf, Aglasterhausen, Baden-Württemberg

 

Kritzelei der Woche

Diese Schreibtischunterlage zeigt in konzentrierter Form vieles, was ich vor etwa 23 Jahren mit meiner ersten Freundin am Telefon besprochen habe. Es war wie bei wohl vielen Jungen, die zum ersten Mal verliebt sind: Eher sprachlos hat man vor Augen, was gar nicht so einfach zu formulieren ist. Also sammelten sich bei mir die Skizzen, während meine Freundin richtig schön erzählen konnte. Das Produkt hat sie nie gesehen, wenn ich mich recht erinnere.

Oliver Ehlers, Heidelberg

 

Was mein Leben reicher macht

Wenn mein Sohn weinend zur Mutter läuft, weil Papa ihm womöglich Ehec-verseuchtes Gemüse in die Frühstücksbox gelegt hat und er sterben muss, wenn er es isst. Das macht mein Leben nicht wirklich reich, aber es gibt mir zu denken.

Michael Kühne, Hannover