Kürzlich fiel er mir nach zwei Jahrzehnten wieder in die Hände: der einzige Entschuldigungsbrief, den ich aus der Zeit meiner Tätigkeit als Lehrer aufbewahrt habe. Er hatte die schlichte Aufgabe, dem Lehrer die Nichtanfertigung einer schulischen Aufgabe zu begründen – und wurde zu einem historischen Dokument. Er stammt nämlich vom 12. November 1989. Die Mutter meiner Schülerin schrieb:
Werter Herr Meyer-Rienecker,
Antje wollte am Wochenende die Zeichnung beenden. Durch das Öffnen der Grenze hatten wir uns kurzfristig zu einem Verwandtenbesuch nach Ratzeburg und Mölln entschieden. Wir fuhren gleich nach Schulschluß am Sonnabend los. Heute kamen wir durch einen Verkehrsstau erst spät nach Hause. Wir bitten Sie höflichst um Entschuldigung, wenn Antje nun nicht die Aufgabe erledigt hat. Sie wird dieses so schnell wie möglich erledigen.
Hochachtungsvoll …
Für mich persönlich ist diese Fundsache ein außergewöhnliches Beispiel erlebter Geschichte. Denn ich hatte seinerzeit, auch durch meine Teilnahme an Aktivitäten des Neuen Forums, nicht nur die von Wunschdenken getragene Hoffnung, sondern die feste Überzeugung, dass der totale Machtverlust der Herrschenden im Bereich ihres »Grenzregimes« zu unumkehrbaren Veränderungen in der DDR führen musste. Und so wurde auch aus unserer parteigesteuerten Lenin-Oberschule in der grenznahen Kleinstadt zwischen Schwerin und Hamburg eine Realschule, die nach sechsjähriger Katharsis den Namen des in Wittenburg geborenen und aufgewachsenen Schriftstellers Hans Franck (1879 bis 1964) erhielt. Den Kunsterzieher und Deutschlehrer aber, der, parteilos und nicht zu jeder staatsbürgertreuen Geste bereit, rund dreißig Jahre DDR-Schule überstanden hatte, wählten die Kollegen zu ihrem Direktor.
Georg Meyer-Rienecker, Wittenburg