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Wiedersehensfreude

Wir sind ein Ehepaar von zusammen 164 Jahren und mehr als 50 Jahre miteinander verheiratet. Gerne gehen wir im nahen Wald spazieren. Meine Frau schlägt dann immer ein Tempo an, als dürfe sie den Zug nicht verpassen. Das ist mir zu schnell, also spazieren wir getrennt. Manchmal kreuzen sich zufällig unsere Wege – und dann begrüßen wir uns, als hätten wir uns seit drei Jahren nicht gesehen.

Günter Jacobi, Reinbek

 

Zeitsprung: Brandenburger Tor

1965

1965 lebte ich in Ost-Berlin. Wenige Kilometer entfernt begann West-Berlin und war doch für uns wie ein fremder Planet. Damals fotografierte ich den Platz vor dem Brandenburger Tor. Sowjetische Soldaten bewachten die Absperrung am Niemandsland vor der Mauer. Trotz ihrer fast lässig wirkenden Haltung spürte ich Angst und blieb daher beim Fotografieren in sicherer Entfernung.

2010

Im Herbst 2010 reiste ich nach Berlin und machte von der gleichen Stelle aus ein neues Foto. Das öde Sperrgebiet, das zu DDR-Zeiten keiner betreten durfte, ist heute ein belebter Platz, über den Touristen schlendern. Sie laufen durch das Brandenburger Tor, als sei das ganz selbstverständlich. Wie anders die Atmosphäre 45 Jahre zuvor: Beängstigende Leere, über der Quadriga weht die DDR-Flagge, Adler und eisernes Kreuz sind entfernt, das Brandenburger Tor steht in unerreichbarer Ferne. Wie glücklich bin ich über den Zeitsprung, den die zwei Fotos dokumentieren.

Ruth Stiegel, Neu-Ulm

 

Zugabe

Das Auge isst mit
sagt der Koch und legt noch ein
Radieschen aufs Brot

Gisela Gregull, Hagen

 

Gastfreundschaft auf Walliserdeutsch

Ende einer Skiwoche, Samstag in der Früh, kurz vor 6.00 Uhr. Ich stehe fröstelnd am Bahnhof in Zermatt, wo tagtäglich sich Hunderte von Touristen aus aller Welt tummeln. Mein Zug geht erst etwas später, ich bin viel zu früh dran. Es ist bitterkalt, der Bahnhof fast menschenleer – ziemlich ungemütlich. Ich bin ohne Frühstück vom Hotel zum Bahnhof geeilt und jetzt stehe ich hier mit einem unbändigen Bedürfnis nach einer heißen Tasse Kaffee. Ich frage einen Bahnarbeiter, wann der Bahnhofskiosk öffnet und ob man eventuell irgendwo ein heißes Getränk herbekommen könnte. „Um diische Ziit niana“ (um diese Zeit nirgendwo), sagt er, kurz angebunden, und verschwindet irgendwo im Bahnhofsgelände. Einige Minuten später kommt einer seiner Kollegen auf mich zu: „Siid ier’s mit em Kaffee?“ (Sind Sie das mit dem Kaffee?). Ich nicke und er bedeutet mir, dass ich ihm folgen solle. Er führt mich quer über das ganze Bahnhofsgelände, dann im Bahnhofsgebäude durch mehrere Zimmer hindurch, bis zu einem gemütlichen Raum mit einem Kaffeeautomaten, in dem die Bahnangestellten wohl selbst ihren Kaffee zu „ziehen“ pflegen. Hier könne ich meiner Sucht frönen, sagt er freundlich – auf Walliserdeutsch natürlich. Mir wird so richtig warm ums Herz und ich fühle mich heimelig – und das nicht nur wegen des duftenden frischen heißen Kaffees … Wieder einmal bin ich angetan von der wohltuenden, selbstverständlichen Gastfreundschaft der Walliser und denke, dass wir hier in Deutschland wohl einiges von ihnen lernen können.

Rosa Maria Luible-Ernst, Augsburg

 

Lieber Herr Luther,

im nasskalten Winter jagt man keinen Hund vor die Tür. Aber die Post kommt – zuverlässig. Immer freundlich und hilfsbereit, ersetzen Sie Ihren Kunden auf den Dörfern um Bad Oldesloe ein ganzes Postamt. 36 Dienstjahre und jeden Tag 12 bis 14 Kilometer Laufleistung haben Sie mir verraten – da ist es nur fair, dass Sie einmal die schönen Grüße bekommen, die Sie uns sonst immer bringen.

Matthias Schütt, Schürensöhlen, Schleswig-Holstein

 

Überraschung

Späte Fliege klopft
Von außen an die Scheibe
Weiß um den Winter

Traudi Hell, Pollenfeld, Oberbayern

 

Hup-Raum

Mein siebenjähriger Enkel zegt mir seine LKW-Sammelkarten. „Der hier hat 12600 Hubraum und der 13400“, sagt er stolz. Ich wundere mich, wie selbstverständlich er mit diesen großen Zahlen umgeht. „Weißt du auch, was Hubraum ist?“, frage ich. „Na klar, so weit wie man die Hupe hören kann“, ist die Antwort. Ein Wunder-Kind, sagte ich es schon?

Walburg Scharnagl, Dillenburg

 

„Ich dich auch!“

Als Eltern eines Sohnes mit Down-Syndrom erleben wir viele bereichernde Momente im Leben. Denn nichts ist bei der Entwicklung unseres Sohnes Moritz so selbstverständlich wie bei unbehinderten Kindern. Fast alle Fertigkeiten sind mit viel Anstrengung, Liebe und Geduld erarbeitet worden. Vor allem das Sprechen macht große Schwierigkeiten.

Umso beglückender war es, als er nachmittags aus der Schule kam, ich ihn mir gutgelaunt schnappte, wir uns auf unser Sofa warfen und ich ihm sagte: „Moritz, ich hab’ Dich lieb“. Ich erwartete daruafhin eigentlich nichts. Doch da geschah es. Moritz sagte in Zeitlupe angestrengt aber voller Überzeugung: „Ich Dich auch“! Mir schossen die Tränen voll Freude in die Augen, ich war tief berührt. An diesen Moment denke ich immer gerne zurück, wenn mal wieder nicht alles so glatt geht.

Regina Hönerlage, Ratingen

 

Kreidewelten

© MMchen / photocase.com

Mit unserem zweijährigen Sohn im Hof mit Straßenkreide malen, bedeutet, dass er ein Fahrzeug nennt und mein Mann oder ich dieses dann auf die Pflastersteine bringen müssen. Und dann nach getaner „Kreidearbeit“ kaffeetrinkend auf den Stufen sitzen und unserem Sohn dabei zusehen, wie er in seine Kreidefahrzeuge „einsteigt“ und sich mit lauten Motorgeräuschen mit Bus, Auto oder Hubschrauber in unsichtbare Fantasiewelten begibt.

Constanze Rößler, Bensheim