Seit dem Frühjahr habe ich nach vielen Jahren endlich wieder ein Klavier. An diesem verbringe ich, wann immer ich mag, einige Minuten allerschönsten Kurzurlaub.
Auf dem Elbe-Radweg von Magdeburg bis Cuxhaven. Bange Frage: Erreichen wir – beide um die siebzig – das Ziel, oder müssen wir wieder, wie im letzten Jahr, des heftigen Gegenwindes wegen auf halber Strecke aufgeben? Schon der Auftakt ist vielversprechend: ein geradezu fürstliches Unterkommen in Burg bei Magdeburg. In Wittenberge gibt ein Hotel sogar Rabatt für Radler! Das Radfahren ist eine ganz besondere Art des Reisens – naturnah, in ständigem Kontakt mit Einheimischen und anderen Radlern: Woher des Wegs? Wohin des Wegs? Schließlich ist das Ziel nach einer Woche erreicht. Freude und Genugtuung: Wir gehören noch nicht zum alten Eisen!
Das Mittagskäffchen in trauter Kollegenrunde an der italienischen Bude auf dem Uni-Campus – schon um dem drohenden „Suppenkoma“ nach dem Mensaessen entgegenzuwirken.
Vor einigen Wochen suchte ich auf meiner Festplatte nach einer Fotografie. Früher suchte man in Alben oder Kartons nach Fotos, aber das ist vorbei. Heute sieht es auf meiner Festplatte genauso chaotisch aus wie früher in meinen Kartons. Deshalb fand ich nicht das Foto, das ich suchte. Aber ein anderes. Darauf sieht man Aishas Füße und einen gelben Zettel. Entstanden ist das Foto vor über zwei Jahren bei einem Theater-Workshop in der Kölner Oper. Aisha nahm als eine meiner Schülerinnen an diesem Workshop teil. Ich weiß noch, dass dieser Tag ein voller Erfolg war und dass Aisha das Foto so gut gefiel, dass sie es als Hintergrund für ihr Handy benutzte.
Ich hatte Aisha seit der Abschlussfeier nicht mehr gesehen, aber durch das Foto dachte ich wieder häufiger an sie und an ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. Und dann stand sie auf einmal vor der Tür des Klassenraumes, in dem ich gerade unterrichtet hatte. Einfach so, nach der vierten Stunde, mit einer neuen Ponyfrisur und einer weißen Rose. Metaphysische Kräfte? Zuerst finde ich das Bild, nach dem ich gar nicht gesucht hatte, und dann steht Aisha plötzlich vor mir. Unglaublich! Wir umarmten uns, sie schenkte mir die Rose und machte – wie immer – nicht viele Worte. Sie war schon früher ein zurückhaltendes Mädchen gewesen, jetzt war sie eine zurückhaltende junge Frau. Sie werde im nächsten Jahr ihr Abitur machen, erzählte sie, vielleicht würde sie danach studieren. Es gehe ihr gut, sie käme zurecht. Wir plauderten ein bisschen, dann musste ich wieder in den Unterricht. Ich wünschte Aisha viel Glück auf ihrem Weg. Mit ihrem „Migrationshintergrund“ wird sie es schwerer haben als andere junge Frauen. Dieses politisch korrekte Wortungetüm vermittelt nur wenig von der Realität, in der Aisha sich wird behaupten müssen. Aber sie wird ihren Weg gehen, da bin ich mir sicher. Und ich freue mich, dass ich sie ein wenig auf diesem Weg begleitet habe.
Jetzt ist es genau ein Jahr her, seit wir mit unserer kleinen äthiopischen Tochter, einem Baby damals noch, zu Hause angekommen sind. Was in den Jahren vor der Adoption eine verzweifelte Ahnung war, ist heute springlebendige, fröhliche Gewissheit: Das Leben mit Kind ist zum Verrücktwerden schön!
Als Opa kinderwagenschiebend in der Stadt. Eine ältere Dame: „Haben Sie es gut, meine Enkel sind in Amerika!“ Daran denke ich immer wieder, wenn ich von Wachstum und Beschleunigung lese oder von der Zersplitterung von Familien und Freundschaften. Globale Chancen, globale Verstörungen.
Morgens aufstehen, barfuß durch die taunasse Wiese zu den Himbeersträuchern gehen und Beeren pflücken fürs Müsli. Ein paar schon in den Mund stecken, denken: „Im Paradies muss es Himbeerhecken geben“, und spüren, dass es hier, wo ich lebe, schon ein kleines Paradies auf Erden ist.
Donnerstagabend in Essen, der Film Zarte Parasiten läuft an. Angekündigt ist ein Publikumsgespräch mit dem Regisseur Christian Becker und dem Hauptdarsteller Robert Stadlober direkt nach der Vorführung. Der Film ist zu Ende, Regisseur und Schauspieler treten vor das Publikum, es werden erste interessierte Fragen gestellt. Christian Becker und Robert Stadlober antworten engagiert. Gleichzeitig aber beginnen die ersten Zuschauerinnen und Zuschauer, den Saal zu verlassen. Bald begeben sich kleinere und größere Gruppen auf den Heimweg. Was für ein respektloses Verhalten! Wie kann man zu einer Filmvorführung mit anschließendem Publikumsgespräch gehen, wenn man an dem Gespräch nicht interessiert ist? Oder keine Zeit hat, so lange zu bleiben? Dann sollte man sich besser einen anderen Tag für seinen Kinobesuch aussuchen. Wenn im Fernsehen ein Film zu Ende ist oder mich langweilt, kann ich abschalten, zappen, den Raum verlassen. Bei Veranstaltungen mit echten Menschen, die als Schauspieler, Redner, Vorleser unmittelbar vor dem Publikum stehen, kann es nur einen Grund geben, aus dem man vorzeitig ginge: aus Protest, etwa gegen verbale Entgleisungen. Ansonsten ist es eine Frage des Respekts und der guten Manieren, bis zum Schluss der Veranstaltung sitzen zu bleiben und zuzuhören. Das kann doch nicht so schwer sein!