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Erinnerung an Albert Schweitzer

Im Seniorenheim, in dem ich arbeite: Die Sonne brennt auf den Innenhof. In Demenz versunken, schauen einige Bewohner im Schatten trübe vor sich hin. Nur eine 98-Jährige, mit Hut und Handschuhen, scheint fröhlich zu sein. „Sie können diese Hitze gut ertragen?“ frage ich sie. Da blitzen ihre Augen auf: „Ja, in Brasilien ist es heiß gewesen, und auch in Lambarene, bei Albert Schweitzer“. Ich setze mich zu ihr. „Schweitzer sang in der Sonne. Ich war Schwester, bei ihm und in Brasilien. Mich erinnert die Sonne an meine Hilfe für die Kranken.“ Sie neigt den Kopf, schließt die Augen und erträgt die unerträgliche Hitze geduldig.

Detlef Romey Schienke, Mölln

 

Lieber Hofrat Hahnemann,

ruft es eigentlich Ihre Verwunderung hervor, dass exakt 200 Jahre nach dem Erscheinen Ihres Organon der rationellen Heilkunde die Homöopathie in der Fach- und Laienwelt noch ebenso kontrovers diskutiert wird wie zu Ihren Lebzeiten? Keine andere medizinische Behandlungsmethode hat jemals derartige Gefühlsstürme bei Anhängern und Gegnern hervorgerufen. Ach, wenn Sie uns bloß noch erklären könnten, worauf Sie diese extremen Reaktionen zurückführen!

Schöne Grüsse,
Gaby Rottler, Weißenburg

 

Livestream aus dem Nest

„Komisch“, denke ich bei mir beim Frühstück mit Blick auf den Balkon, „der Vogel, der eben dort in der Nische gelandet ist, muss doch auch mal wieder wegfliegen!“ Und dann die Entdeckung: In der äußersten Ecke baut dieser Winzling sein Nest!
Das war Ende Juni, und ich beschloss, den Balkon für die Saison zu sperren. Installierte eine Webcam und glänzte bei meiner Frau mit Frühstücksfernsehen der besonderen Sorte: Livestream aus dem Grauschnäpper-Nest. Aus der verrückten Idee ist mittlerweile ein Blog geworden und aus den drei Eiern …

Daniel Rudolph, Berlin

 

Wiedergefunden: Der Pulli

Vor einiger Zeit fiel mir beim Kleiderschrankaufräumen ein grauer Pulli in die Hände, der einmal meinem Vater gehört hatte. Mein Vater ist bereits vor achtzehn Jahren gestorben, den Pulli haben zunächst ich und später mein Mann getragen, bis er schließlich in den Tiefen des Kleiderschranks verschwand. Als ich ihn auseinanderfaltete, wurde mir nach langer Zeit wieder bewusst, dass der rechte Ärmel immer überflüssig gewesen war, denn der Arm, den er hätte kleiden sollen, war weg.

Mein Vater hatte für mich immer nur einen Arm, und zwar den linken. Den rechten hatte er mit siebzehn Jahren an der Ostfront verloren. Und natürlich war da immer die kindliche Frage, wie man denn seinen Arm verlieren kann, einfach so, und dazu noch den rechten? Andere Leute verlieren ihr Taschentuch oder ihre Geldbörse, mein Vater seinen Arm. Natürlich fehlte der Arm meines Vaters, zum Beispiel beim Schuhebinden. Oder beim Frühstück: Ein Frühstücksei kann man nicht mit einem Arm essen. Manchmal nahm mein Vater mich abends mit zum „Versehrtenschwimmen“. Da waren dann nur Männer mit Stümpfen, und ich hätte diese unvollständigen Schwimmer gern nach ihren Armen und Beinen gefragt. Aber dazu reichte mein Mut dann doch nicht.

In den letzten zehn Jahren habe ich nach und nach registriert, dass die Zeit der „abben“ Arme und Beine vorbei ist: Die meisten der so durch den Krieg „versehrten“ Männer sind gestorben. Dann gab es im Fernsehen einen Film über Kriegsrückkehrer aus Afghanistan. Dort sah ich sie wieder, die Männer meiner Kindheit. Einer hielt mit dem verbliebenen Arm seine kleine blonde Tochter auf dem Schoß. Geschichte wiederholt sich eben doch. Leider.

Evelyn Meessen, Köln

 

Der erste Studenten-Sommer

Präpkurs für immer vorbei, Testate geschafft, den Umzugskraftakt bewältigt, und jetzt mit zwei Freunden aufs Dach klettern. Bei eisgekühltem Rosé, Pistazien, ein wenig Jazz, Teelichtern und den typischen Studentengesprächen (über Gott, die Welt, die Liebe und die Organsystemeklausur) den Abend genießen. Ach, wie fühlen wir uns erwachsen und frei! Und bald, zu Hause, schlafen wir wieder im Hochbett im Kinderzimmer und lassen uns von unseren Eltern verwöhnen. Kann es etwas Schöneres geben als diesen ersten Studenten-Sommer?

Jana Burkhardt, Rostock

 

Man hätte es verhindern können

Es soll ein toller Tag werden. Die Wolken verziehen sich langsam, der wunderbar blaue Himmel wird sichtbar. Es ist Sommer. Einundzwanzig junge Menschen machen sich auf den Weg zur Loveparade nach Duisburg, angereist aus den verschiedensten Fleckchen dieser Welt. Sie wollen feiern, fröhlich und friedlich. Doch weder sie selbst, noch alle anderen ahnen, was passieren wird. Nein, kein Wirbelsturm, kein Erdbeben, keine Flutkatastrophe. Nichts was einfach passiert. Sondern etwas, das man hätte planen können, das man hätte verhindern können. Eine Warnung, die man hätte ernst nehmen sollen. Und schließlich ein Fehler, für den man aufrichtige Reue zeigen müsste. Etwas, bei dem man kein Risiko hätte eingehen dürfen, nur um als Region besser da zu stehen, um die Wirtschaft anzukurbeln oder um ein Versprechen zu halten. Nur wegen solcher Kleinigkeiten. Aber hier geht es doch um Menschen! Junge Menschen, die noch ihr ganzes Leben vor sich hatten. Hoffnungen, Träume, Ziele. Und es geht um Menschen für die eine Welt zusammen bricht, weil sie die verloren haben, die sie lieben. Das macht mich traurig. Und dass es vielen so ganz egal zu sein scheint, das regt mich auf.

Nina Lenz, Mühlacker, Baden-Württemberg

 

Kritzelei: Herta Müller

Ich hatte das Vergnügen, Herta Müller an der Universität in Köln zu hören, bevor sie den Nobelpreis verliehen bekam. Persönliches Fazit nach der Lesestunde: „Man sollte ihr nur wohlüberlegte Fragen stellen, sonst fühlt man sich unter ihrem Blick wie ein dummes Schaf!“ Als wir einige Zeit später im Literaturkurs der Volkshochschule das Werk Herta Müllers besprachen, versah ich gleich zu Beginn der Unterrichtsstunde ein Blatt aus meinem Notizblock mit dieser gewonnenen Ansicht und malte mich entspannt durch den Unterricht, wobei mich ihre Bild-Text-Collagen
ganz besonders beeindruckt haben. Hier das Resultat meiner bildlichen Vorstellungskraft aus Erinnerung und Neuem.

Jutta Wagner, Köln

 

Hitze

Jetzt wird geschlossen
sagt die Hibiskusblüte
zum Sommerabend

Edith Linvers, Recklinghausen

 

Verbalerotik vom Finanzamt

Endlich! Nach Monaten des Wartens flattert der Brief vom Finanzamt mit unserem Einkommensteuerbescheid ins Postfach. Es ist für mich als Do-it-yourself-Steuerbearbeiter immer wieder eine spannende Sache, eine Art Lottogefühl. Gut, es dauert etwas, bis meine Frau und ich herausfinden, ob wir Geld wiederbekommen oder zahlen müssen. An die Unübersichtlichkeit von amtlichen Schreiben hat man sich mit den Jahren gewöhnt. Was ist schon einfach im Leben! Doch dann, beim Überfliegen des wortgewaltigen Erklärungstextes, stoßen wir auf folgenden Satz: „Der Vorläufigkeitsvermerk hinsichtlich der Nichtabziehbarkeit von Beiträgen zu Rentenversicherungen als vorweggenommene Werbungskosten umfasst auch die Frage einer eventuellen einfachgesetzlich begründeten steuerlichen Berücksichtigung.“ Ist das nicht pure Verbalerotik? Einen Moment lang muss ich an Immanuel Kant denken, der seine Leser nicht minder raffiniert dusselig schreiben konnte. Mein Problem: Ich weiß nicht, was das Finanzamt von mir will! Das heißt: Wollen die überhaupt, dass ich was weiß?

Arnold Illhardt, Telgte