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Was mein Leben reicher macht

Kränkelnd verlasse ich morgens das Haus und fürchte, dass das kein guter Tag wird. An einer belebten Straße in Berlin-Kreuzberg passiere ich zwei sehr gebrechliche alte Herrschaften, die sich offenbar zufällig getroffen haben. Die Frau fragt forsch: »Wie geht’s, wie steht’s?« Der Mann legt daraufhin sein breitestes Grinsen auf: »Beschissen schön!« Der Tag ist dann einfach herrlich geworden!

Daniela Dicks, Berlin

 

Zeitsprung: Noch im Einsatz

Diese beiden Fotos zeigen – von verschiedenen Seiten aufgenommen – dasselbe Fahrzeug, einen »Geräte­träger« der Firma Lanz. Auf dem ersten Bild freuen sich meine Kinder Bärbel (damals 12 Jahre alt), Friedrich (8) und Brigitte (5) zusammen mit ihrer Cousine Iris (5) und ihrem Cousin Peter (7) im Jahr 1959 auf einen Nachmittag bei der Heuernte. Das farbige Bild ist 55 Jahre später entstanden, zu Brigittes 60. Geburtstag. Auf der Pritsche zu sehen sind Friedrich, Martin (der Jüngste und damals für die Ausfahrt ins Heu noch zu klein) und Bärbel. Ich selbst (92) sitze am Steuer. Der restaurierte Traktor erstrahlt in neuem Glanz, wir Men­schen aber sind deutlich in die Jahre gekommen.

Hans Reitter, Schwanau-­Ottenheim, Baden

 

Was mein Leben reicher macht

Vom Frühstückstisch aus sehe ich den Schwalben zu, die sich über dem Tal sammeln. Ich begreife, dass sich dieser Sommer, in dem ich innerhalb eines Monats meinen Sohn geboren und meinen Vater begraben habe, seinem Ende zuneigt. Eine schwer zu beschreibende, bittersüße Melancholie kommt in mir auf.

Stefanie Läpple, Oberrot, Baden-Württemberg

 

Wunderfrucht

Im Garten unseres Pfarrhauses steht ein echter Wunderbaum: Er trägt einen dicken, orangefarbenen Kürbis. Viele Besucher glauben, wir hätten die Frucht aus Deko­ zwecken in die Krone des Baumes gelegt, doch dem ist nicht so: Der eigensinnige Kürbis hat seinen Weg ganz allein gefunden.

Isabel Pawletta, Gransee, Brandenburg

 

Das Versprechen

Hubertus, mein jüngster Sohn, wird 30 Jahre alt. Alex, sein ältester Bruder, ist 17 Jahre älter. Beim Räumen habe ich ein Büchlein gefunden, in das vor 20 Jahren der damals zehnjährige Hubertus schrieb: »Ich heirate niemanden außer den Alex, wenn man, wenn ich groß bin, Männer heiraten darf.«

Ingrid Halmburger, Wörthsee, Bayern

 

Die Kritzelei der Woche

s92-kritzelei

Vor 30 Jahren schafften wir den Fernseher ab und gewannen ein wichtiges Gut: Zeit! Am Abend saß ich am Küchentisch und fertigte Zeichnungen an. Vorgaben für mich selbst waren: kein Entwurf, einfach loslegen – unter Benutzung eines Ra­pidografen Stärke 0,35 mm. So füllten sich im Laufe der Jahre 20 Skizzenbücher. In der Anlage mein schönstes Werk. Das Zeichnen ist meine Meditation.

Karl Merkel, Baden­-Baden

 

Vigelinsch: Mein Wort-Schatz

Mein Vater Friedrich Evers, der vor zwei Jahren in Ratzeburg verstarb, sprach als gebürtiger Fehmaraner stets plattdeutsch. Besonders liebte er es, vertrackte Angele­genheiten »eine vigelinsche Sache« zu nennen – ob in der Garage beim Wer­keln oder auf dem heimischen Sofa beim Sudoku. Schon als Kapitän zur See und später als Seelotse auf dem Nord-­Ostsee­-Kanal gab es genügend vigelinsche Situa­tionen zu meistern. Im Himmel ist hoffent­lich nichts mehr knifflig­verzwickt, sondern alles nur klar und eindeutig…

Felix Evers, Neubrandenburg

 

Was mein Leben reicher macht

Unser kurdisches Adoptivenkelkind Avesta erzählt nach den Ferien ihrer Kindergarten­freundin: »Ich war mit Mama und Papa in der Türkei!« – »Ich war auch in der Türkei, aber ich hab dich nicht gesehen!« – »Dann warst du in einer anderen Türkei!« Ist doch logisch, oder?

Marion Fiekers, Bad Soden am Taunus