von Andrea Römmele und Henrik Schober
„Entdecke die Möglichkeiten“ – mit diesem Slogan wirbt eine allseits bekannte schwedische Möbelhauskette für ihre Produkte, die in schier unendlich vielen verschiedenen Kombinationen angeordnet werden können. Dieser Abschied von festgelegten Mustern hat sich mittlerweile in vielen Bereichen des täglichen Lebens niedergeschlagen. Egal ob Essen oder Kleidung, Autos oder eben Möbel: Überall wird munter individuell drauflos kombiniert. Wird es also nicht Zeit, dass sich auch die Politik diesem Trend öffnet?
„Entdecke die Möglichkeiten“ könnte auch zum Credo der Minderheitsregierung um Hannelore Kraft werden. Sie muss wechselnde Partner aus der Opposition für Ihre Vorhaben gewinnen und könnte in dieser auf den ersten Blick äußerst unbequemen Situation schon bald Vorteile erkennen. Denn diese Art des Regierens in wechselnden, themenspezifischen „Patchwork-Koalitionen“ mag in Deutschland ungewöhnlich sein, sie trifft aber den politischen Zeitgeist. Wir sind auf dem Weg zu einem Vielparteiensystem (die Linke muss nicht die letzte Neugründung bleiben) und die altbekannten Lager brechen zusehends auf. So gilt mehr denn je die Forderung, dass alle demokratischen Parteien in der Lage sein müssen, miteinander zu kooperieren – und zwar auch und gerade außerhalb formeller Koalitionsvereinbarungen.
Ist die Minderheitsregierung also ein Zukunftsmodell? Die spezifischen Anforderungen, die das Regieren aus einer Minderheitsposition mit sich bringt, geben zumindest Anlass für Optimismus:
• Die führenden Politiker sind darauf angewiesen, integrativ und überparteilich zu wirken. Der zentrale Mechanismus des Regierens kann nicht pure, an den Parteiinteressen ausgerichtete Machtausübung sein, sondern muss argumentatives Überzeugen im Sinne aller Beteiligten beinhalten.
• Für die Bürger kommt hinzu, dass die Öffentlichkeit an Bedeutung gewinnt. Gerade bei kontroversen Themen kann die Unterstützung durch die Medien und die Bevölkerung ein wichtiger strategischer Faktor sein. Die Parteien müssen die Bürger somit für konkrete Projekte gewinnen und können sich nicht darauf beschränken, sie alle fünf Jahre um ihre Stimmen zu bitten.
Für NRW hat die Entscheidung für eine Minderheitsregierung zunächst einen ganz konkreten positiven Effekt: Neuwahlen bleiben uns vorerst erspart. Wenn man das allgegenwärtige Wort vom „Wählerwillen“ ernst nimmt, ist nicht zu bestreiten, dass dies tatsächlich nicht im Sinne derer wäre, die im Mai ihre Stimme abgegeben haben.
Dennoch ist natürlich auch Kritik berechtigt: Niemand weiß, ob Rot-Grün in NRW die Hoffnungen, die hier generell an das Modell Minderheitsregierung geknüpft werden, erfüllen wird – ebenso gut kann eine Phase unerträglicher taktischer Spielchen auf uns zukommen. Und natürlich hat sich Hannelore Kraft durch ihren abrupten Umschwung gewissermaßen selbst überholt und steht nun unter Erklärungsdruck. All das ist aber Teil eines Lernprozesses, den die deutsche Politik durchlaufen muss. Denn mittelfristig gibt es nur eine Alternative zu immer größeren Koalitionen unter Beteiligung von immer mehr Parteien, die sich gegenseitig blockieren: eine an Inhalten orientierte Minderheitsregierung. In Schweden hat man diese Möglichkeit übrigens schon längst entdeckt…