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„Warum erst jetzt?“ – Stuttgart 21 stand schon vor der großen Protestwelle auf wackeligen Beinen

 

AndreaIn einigen Beiträgen zu Stuttgart 21 klingt an, dass die Ausbau-Gegner derzeit massiv mobilisieren und dadurch die politische Stimmung nachhaltig beeinflussen – manche Kommentatoren verknüpfen damit sogar die Schicksale von Politikern und Regierungen. Beispielsweise erregte eine Umfrage des „Stern“ große Aufmerksamkeit, die sowohl in Stuttgart als auch in ganz Baden-Württemberg Bevölkerungsmehrheiten gegen das Projekt ermittelte. Dabei wird häufig davon ausgegangen, dass diese Änderung des Stimmungsbildes im Zuge der Proteste erfolgt sei – und dies wiederum wirft die Frage auf, warum die Gegner des Projektes erst seit kurzer Zeit so präsent sind, obwohl das Projekt doch schon seit 15 Jahren auf der öffentlichen Agenda steht.

Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, einen genaueren Blick auf die diversen Umfragedaten zu Stuttgart 21 zu werfen: In der Bürgerumfrage „Leben in Stuttgart“, die vom Statistischen Amt der Stadt Stuttgart im Frühjahr 1995 durchgeführt wurde, standen 51% der Stuttgarterinnen und Stuttgarter hinter dem Großprojekt – 30% der Befragten hielten Stuttgart 21 für eine „sehr gute“, immerhin 21% für eine „gute“ Maßnahme. Andererseits sahen rund 30% das Projekt skeptisch (21% fanden es „sehr schlecht“, weitere 9% „schlecht“) und immerhin 18% waren unentschieden. Schon damals konnte man also nicht gerade von einer breiten Unterstützung für das Projekt sprechen.

Dieses uneinheitliche Stimmungsbild verschlechterte sich schrittweise über die Jahre hinweg. Im Jahr 2007 – also noch vor der großen Wirtschafts- und Finanzkrise, die möglicherweise eine allgemein skeptische Stimmung hätte verursachen können – hatten einer groß angelegten Stuttgarter Bürgerumfrage zufolge nur noch 31% der Stuttgarter eine „gute“ oder „sehr gute“ Meinung über das Projekt. Ihnen standen 48% gegenüber, die eine „schlechte“ oder „sehr schlechte“ Meinung hatten. In einer weiteren Bürgerumfrage im Sommer 2009 manifestierte sich dieser Trend, der Anteil der „guten“ und „sehr guten“ Meinungen zu S21 ging noch einmal leicht zurück, auf 29%, der Anteil „schlechter“ und „sehr schlechter“ Meinungen lag fast unverändert bei 47%.

Vergleicht man diese Zahlen mit dem Ergebnis der Stern-Umfrage (51% aller Baden-Württemberger bzw. 67% der Stuttgarter stimmten dort gegen S21, 26% der Baden-Württemberger und 30% der Stuttgarter dafür*), so wird deutlich, dass die Proteste der vergangenen Monate zwar die vorhandene Skepsis gegenüber S21 sichtbar gemacht haben. Die Überzeugung von Befürwortern oder Unentschiedenen hielt sich jedoch in Grenzen: Mobilisierung ja, Konvertierung nein.

Anders gesagt war die Gruppe der Skeptiker schon seit längerer Zeit beachtlich, sie hat es aber nicht geschafft, im politischen Prozess Gehör zu finden. Auch die meisten Parteien haben das Vorhaben unterstützt. Erst als der Protest auf die Straße verlegt wurde, wurden aber auch die Kritiker von Stuttgart 21 wahrgenommen.

Was bedeutet dies nun für die aktuelle Debatte? Der eingangs dargelegte Gedanke, dass das Projekt bereits seit 15 Jahren diskutiert werde, ist Grundlage des zentralen Arguments der Ausbau-Befürworter: Sie sagen, dass der Planungsprozess über die Jahre hinweg bereits alle Gruppen angehört und alle demokratischen Instanzen durchlaufen habe, daher dürfe er nun nicht einer Stimmungsdemokratie geopfert werden. Faktisch gab es aber offensichtlich nur unzureichende Möglichkeiten für die Ausbau-Gegner, ihre Argumente vorzutragen. Das politische System war nicht in der Lage, diese Stimmen und Stimmungen einzufangen.

Diese Beobachtung alleine ist noch kein Grund, das bisherige (zweifellos demokratisch legitimierte) Verfahren in Frage zu stellen. Sie gibt allerdings Anlass dazu, sich nicht allzu sehr an die gefassten Beschlüsse zu klammern, sondern das Schlichtungsverfahren ergebnisoffen zu gestalten.

*Vielen Dank für die Hinweise auf den Zahlendreher, die Passage wurde korrigiert.