Die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus findet seit Monaten eine hohe Beachtung in den Medien wie auch in der politischen Öffentlichkeit. Dies hing zunächst maßgeblich damit zusammen, dass in Folge der Reaktorkatastrophe von Fukushima den Grünen mit ihrer Spitzenkandidatin Renate Künast gute Chancen eingeräumt wurden, stärkste parlamentarische Kraft zu werden. Mit dem Abflauen der Stärke von Bündnis 90/Die Grünen in den Umfragen und dem nicht unwahrscheinlichen Fall, dass die amtierende Regierungskoalition aus SPD und der Linken keine Mehrheit im künftigen Berliner Abgeordnetenhaus erreicht, rückt verstärkt die Frage in den Vordergrund, welche Parteien nach der Wahl eine gemeinsame Regierungskoalition bilden können.
In diesem Zusammenhang kommt den Politikzielen der Parteien eine entscheidende Rolle zu. Eine Grundlage zur Evaluierung der inhaltlichen Schnittmengen von Parteien, denen eine zentrale Funktion im Regierungsbildungsprozess zukommt, stellen die Wahlprogramme dar, die im Vorfeld von Wahlen verfasst werden und das Ziel haben, Wählern als auch den parteipolitischen Konkurrenten die eigenen Politikpositionen zu signalisieren. Eine quantitative Inhaltsanalyse der Wahlprogramme der Berliner Parteien zu den Abgeordnetenhauswahlen 2006 und 2011 macht deutlich, dass eine vergleichsweise große programmatische Dynamik vorherrscht (siehe Abbildung 1). So haben insbesondere CDU und FDP ihre wirtschaftspolitischen Positionen deutlich verändert: Während die Berliner Freidemokraten nunmehr moderate statt explizit marktliberale Positionen zur Abgeordnetenhauswahl 2011 vertreten, so hat die Union beinahe eine linke, der Haltung der SPD in sozioökonomischen Fragen sehr ähnliche Position in diesem Politikfeld eingenommen. Die Berliner CDU veränderte – im Vergleich zu 2006 – auch ihre gesellschaftspolitische Position und formuliert nunmehr eher progressive Politikziele. Insgesamt betrachtet haben sich die Christdemokraten in der Bundeshauptstadt derart auf die SPD zu bewegt, so dass sich die Positionen der beiden Parteien in den beiden Politikbereichen Wirtschaft und Gesellschaft kaum voneinander unterscheiden. Das programmatische Verhalten der Union kann dahingehend gedeutet werden, dass sie – aufgrund der Distanzverringerung zu SPD als auch Grünen – die inhaltlichen Hürden für ein rot-schwarzes oder schwarz-grünes Bündnis verringern wollte. Auch die Berliner Grünen haben sich ins Zentrum der gesellschaftspolitischen Dimension und damit in Richtung der Position des SPD-Wahlprogramms 2011 zu bewegt. Der nunmehr progressivste parteipolitische Akteur in Fragen der Innen-, Rechts und Gesellschaftspolitik ist – neben der Linken, die ihre Position im Politikraum nicht in signifikanter Form verschoben hat – die Piratenpartei.
Es wird also spannend werden, inwiefern sich die in den 2011er Wahlprogrammen der Berliner Parteien formulierten Politikziele im Regierungsbildungsprozess bemerkbar machen werden. Sollte es für eine rot-rote Neuauflage nicht reichen, dann erscheint eine große Koalition, ein rot-grünes wie schwarz-grünes Bündnis oder auch eine Dreier-Koalition unter Einbeziehung der Piratenpartei – etwa in Form einer Koalition aus SPD, Linken und Piraten – durchaus möglich. Dies hängt aber vor allem davon ab, wie viele Parteien im Berliner Abgeordnetenhaus vertreten sein werden und damit von der Frage, ob die Piratenpartei und die Liberalen den (Wieder-)Einzug in das Parlament überhaupt erreichen. Es bleibt also nicht nur bis zum 18. September, sondern auch in der Zeit nach der Wahl im Land Berlin politisch mehr als spannend.
Abbildung 1: Die wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Positionen der Berliner Landesparteien 2006 und 2011