Von Sebastian Fietkau
In seiner Schlussfolgerung vom 22. Juni 1993 legte der Europäische Rat in Kopenhagen erstmals einen Katalog von verfassungsrechtlichen Anforderungen für beitrittswillige Staaten fest. Allerdings haben die Ratsmitglieder neben wirtschaftlichen und politischen Kriterien eine entscheidende Voraussetzung nicht bedacht: Zur Aufnahme in die EU benötigte es offensichtlich mindestens eine Teilnahme am Eurovision Song Contest (#ESC). Bis zu dem an diesem Wochenende stattfindenden 57. ESC in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku wurden ausschließlich Länder in die Europäische Union aufgenommen, die vorher ihr musikalisches Talent den europäischen Zuschauern unter Beweis gestellt haben.* Gleiches gilt für alle aktuell anerkannten Beitrittskandidaten und selbst nur bei gestellten Aufnahmeanträgen lag eine vorherige Teilnahme am Liederwettstreit vor.
Die ursprüngliche Zielsetzung des ESC ähnelt dabei in gewisser Weise sogar der europäischen Vision von Monet & Co. Vor dem Hintergrund eines politischen zersplitterten und technisch zurückgeworfenen Europas gab es bereits 1955 erste Pläne der European Broadcasting Union (EBU) für eine gesamteuropäische Musikveranstaltung, welche zeitgleich in alle Teilnahmeländer übertragen werden sollte. Ohne jegliche politische Botschaften sollte der Kontinent friedlich vereint in der Musik ein Land samt Komponist und Interpreten zum Sieger wählen. Europa sollte einander wieder zuhören.
Im Startfeld des ersten Grand Prix Eurovision de la Chanson im Jahr 1956 konkurrierten alle zukünftigen Mitglieder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (plus die Schweiz) schon zwei Jahre vor Inkrafttreten des EWG-Vertrags. Noch in den 1960er Jahren zogen sämtliche Länder der späteren EG-Norderweiterung von 1973 und der EFTA-Erweiterung von 1995 nach. Die bis dato diktatorisch regierten Länder Griechenland, Spanien und Portugal nahmen noch vor ihrer friedlichen Demokratisierung und den beiden Süderweiterungen in den 1980er am ESC teil. Und auch für die meisten Staaten des ehemaligen Ostblocks begann die musikalische vor der politischen Karriere im Europa der frühen 1990er Jahren und somit deutlich vor den späteren Ost-Erweiterungen von 2004, bzw. 2007.
Während die EU sechs weiteren Staaten einen offiziellen Kandidatenstatus eingeräumt hat, welche allesamt dem europäischen Publikum bereits vorstellig wurden, kommt die berechtigte Frage auf, wo die Vision über die Ausdehnung von Europa bei den Machern des Eurovision Song Contest aufhört. Klar zu Europa zählt für sie beispielsweise der gesamte westliche Balkan. Teilweise noch zu Kriegszeiten standen einige ehemalige jugoslawische Republiken auf der ESC-Bühne; dies alles vor dem Europäischen Rat in Thessaloniki 2003, bei dem die Balkanstaaten als potenzielle Beitrittskandidaten bestätigt wurden. Ebenso ist die Türkei seit 1975 ein fester Bestandteil des Teilnehmerfeldes; 36 Jahre vor dem offiziellen EU-Kandidatenstatus. Und selbst bei der gescheiterten EU-Bewerbung Marokkos von 1987 wurde sieben Jahre zuvor ein Beitrag zum Grand Prix entsandt. Tatsächlich wurde 1950 bei der Grenzziehung des teilnahmeberechtigten EBU-Raums fast der gesamte Mittlere Osten und nordafrikanische Raum – als teilweise noch kolonial verwaltete Gebiete europäischer Staaten – in die Planung miteinbezogen. Nach dem Arabischen Frühling scheint es also die besten Voraussetzungen für eine zukünftige Annäherung dieser Staaten an die EU zu geben. Potentielle Mitglieder könnten schon bald eine der entscheidenden Beitrittskriterien erfüllen und aus den europäischen Hauptstädten gäbe es dann vielleicht bald zu hören: Libya twelve point – la Lybie douze points.
Sebastian Fietkau ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung.
* Allein die Tschechische Republik debütierte 2007 im Eurovision Song Contest erst drei Jahre nach Aufnahme in die EU.