Von Christian Stecker
Dass bei der Regierungsbildung die Inhalte im Vordergrund stehen werden, gehörte zu den oft wiederholten Beteuerungen von Spitzenpolitikern im zurückliegenden Bundestagswahlkampf. Ließe sich die SPD beim Wort nehmen, müsste sie zügig Koalitionsgespräche mit den Grünen und der Linken aufnehmen oder gar die Bildung einer Minderheitsregierung anstreben. Einen aussagekräftigen Blick auf die inhaltliche Übereinstimmung zwischen den Positionen der Parteien bietet der „Wahl-O-Mat“. Betrachtet man diese Übereinstimmungen (repräsentiert durch gekreuzte Kästchen) zwischen den im 18. Bundestag vertretenen Parteien anhand der 38 „Wahl-O-Mat“-Fragen zeigt sich, dass Rot-Rot-Grün, die meisten Überschneidungen (21) aufweist. Insbesondere in den zentralen Themen wie der Einführung eines Mindestlohnes, der Erhöhung des Spitzensteuersatzes, der Einführung einer Bürgerversicherung, der Abschaffung des Betreuungsgeldes oder dem Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare wollen SPD, Grüne und Die Linke die Politik in dieselbe Richtung verändern.
Für eine einträchtige Wiederauflage der Großen Koalition spricht dagegen weniger. Sieht man von den Bereichen (unterhalb der gestrichelten Linie) ab, in denen ohnehin ein Allparteienkonsens herrscht, beschränkt sich die Einigkeit der potentiellen Partner darauf, bestehende Gesetzeslagen beizubehalten, etwa zu Rüstungsexporten, (kein) Tempolimit und Sanktionen für sogenannte Jobverweigerer. Schmerzhafte Kompromisse oder gar Nichteinigung drohen CDU/CSU und SPD dagegen (erneut) in wichtigen Fragen wie Mindestlohn und Bürgerversicherung. Noch kärger ist die Menge an Gemeinsamkeiten zwischen CDU/CSU und Grünen.
Es zeigt sich auch, dass eine SPD-geführte Minderheitsregierung von deutlich mehr Übereinstimmungen profitieren könnte, als es einer starren CDU/CSU/SPD- oder SPD/Grüne/Die Linke-Koalition möglich wäre. Ließen sich alle Parteien darauf ein, in einzelnen Sachfragen bei gegebener Übereinstimmung miteinander zu kooperieren, könnte die SPD aufgrund ihrer mittigen Lage im politischen Spektrum wechselnde parlamentarische Mehrheiten in ganzen 28 Themenbereichen (7 mit der CDU/CSU, 21 mit Grünen und Die Linke) anführen. Nebenbei bemerkt, bräuchte eine solche Konstellation auf längere Sicht auch keine gegnerischen Mehrheiten im Bundesrat fürchten.
Zugegeben, das bloße Ankreuzen von Übereinstimmungen zwischen den Parteien in (vereinfachten) Themenbereichen vergisst neben wahlstrategischen Überlegungen der Parteien mindestens zwei Praktiken des politischen Spiels in Deutschland, die die Regierungsbildung entscheidend beeinflussen. Da ist zum einen die Tendenz von Parteien (insbesondere von Die Linke) auf Maximalforderungen zu beharren und darüber selbst mögliche Verbesserungen gegenüber der bestehenden Gesetzeslage auszuschlagen. Solch fehlende Bereitschaft zum Kompromiss könnte auch einen rot-rot-grünen Mindestlohn scheitern lassen. Zum anderen schnüren Regierungskoalitionen immer ein gesamtes Politikpaket, das alle Themenbereiche beinhalten muss und auch an Dissens in einzelnen Fragen (Stichwort Nato-Austritt) platzen kann. Minderheitsregierungen, die wechselnde Mehrheiten entlang verschiedener Politikbereiche bilden könnten, sind durch die Fixierung der Parteien auf stabile Mehrheitskoalitionen auf Bundesebene bisher ausgeschlossen.
Übereinstimmungen innerhalb der verschiedenen möglichen Mehrheitskoalitionen im 18. Deutschen Bundestag (nach Auswertung des Wahl-O-Mat)
Auch Bundeskanzlerin Merkel hat das alternative Format einer Minderheitsregierung in der ElefantInnen-Runde auf ARD/ZDF am Wahlabend lachend abgetan. Aus ihrer Sicht verständlich – hat die Union auch als stärkste Partei aufgrund ihrer relativ rechten Position im politischen Spektrum nur wenig Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Parteien, um eigene Anliegen mit parlamentarischen Mehrheiten umzusetzen (sieben Bereiche mit der SPD, vier mit den Grünen und sechs mit potentiell allen Parteien). Angesichts des deutlich größeren Handlungsspielraums einer SPD-geführten Minderheitsregierung ist die kategorische Ablehnung dieser Option durch die SPD dagegen unverständlich. Mindestens wäre es aus Sicht der Sozialdemokraten taktisch klug, Frau Merkel und Herrn Seehofer in anstehenden Koalitionsverhandlungen gelegentlich daran zu erinnern, dass für sozialdemokratische Kernanliegen im Bundestag alternative Mehrheiten bereit stünden.
Zahlreiche Gründe mögen auf Bundesebene in Deutschland gegen eine solche Minderheitsregierung sprechen – in erster Linie wohl aber „nur“ die normative Kraft des faktisch jahrzehntelang eingeübten Spiels von stabilen Mehrheitskoalitionen. Bei allen echten Problemen, die Minderheitsregierungen mit sich bringen, lehrt der Blick nach Dänemark, Neuseeland, Schweden und NRW jedoch, dass sich diese Probleme nicht nur zum Teil lösen lassen, sondern Minderheitsregierungen auch zahlreiche demokratietheoretisch wünschenswerte Dinge mit sich bringen – insbesondere dann, wenn es dem politischen Personal in erster Linie auf die Inhalte ankommt.
Weiterführende Literatur:
Steffen Ganghof, Christian Stecker, Sebastian Eppner und Katja Heeß (2012). Flexible und inklusive Mehrheiten? Eine Analyse der Gesetzgebung der Minderheitsregierung in NRW. Zeitschrift für Parlamentsfragen, 43 (4), S. 887-900.
Alexander Preker und Christoph M. Haas (2012). Flexibilität und Effektivität vor Stabilität. Ein Beitrag zur Diskussion von Minderheitsregierungen auf Bundesebene am Beispiel der politischen Praxis Dänemarks. Zeitschrift für Politik, 59 (4), S. 453-483.
Christoffer Green-Pedersen (2001). Minority Governments and Party Politics: The Political and Institutional Background to the “Danish Miracle”. Journal of Public Policy, 21 (1), S. 53-70.
Tim Bale und Torbjörn Bergman (2006). Captives no longer, but servants still? Contract Parliamentarism and the new minority governance in Sweden and New Zealand. Government and Opposition, 41 (3), S. 422-449.
Martin Delius, Michael Koß und Christian Stecker (2013). „Ich erkenne also Fraktionsdisziplin grundsätzlich auch an…“ – Innerfraktioneller Dissens in der SPD-Fraktion der Großen Koalition 2005-2009. Zeitschrift für Parlamentsfragen, 44 (3).
Stephan Klecha (2010). Minderheitsregierungen in Deutschland (Hannover: Friedrich-Ebert-Stiftung).
Christian Stecker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Systeme und Europäische Integration am Geschwister Scholl-Institut an der Ludwig Maximilians-Universität München.