Von Christian Hesse
Am vergangenen Montag fand im Innenausschuss des Bundestages eine Anhörung von Experten zum Wahlrecht statt. Der favorisierte Gesetzentwurf, auf den man sich fraktionsübergreifend (mit Ausnahme Der Linken) geeinigt hatte, ist eine Kombination aus Überbleibseln des alten Wahlrechts und dem früheren SPD-Vorschlag. Dieses Vier-Fraktionen-Modell (4F-Modell) sieht eine Kompensation von Überhangmandaten durch Ausgleichssitze vor.
Eine Analyse des Wahlrechts ist generell anspruchsvoll, weil dafür sowohl staatsrechtlicher und politikwissenschaftlicher als auch mathematischer Sachverstand nötig ist. Zwar ist das Wahlrecht keine Relativitätstheorie, doch braucht man immerhin so viel quantitative Kompetenz, dass eine nur juristische Beurteilung unvollständig bleibt und zu Fehldiagnosen führen kann. Das wurde beim letzten Wahlrechtsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht deutlich und spiegelt sich in dessen Urteil wieder.
Bei der Experten-Anhörung wurde das 4F-Modell als im Wesentlichen verfassungsfest beurteilt. Einige Experten konzentrierten sich darauf, primär die positiven Eigenschaften des Entwurfs herauszuarbeiten. Das dürfte den Gesetzgeber in dieser kritischen Zeit ohne gültiges Wahlrecht gefreut haben, war seine Ausgangssituation wegen immer detaillierterer Vorgaben aus Karlsruhe doch überaus kompliziert.
Das 4F-Modell hat aber Licht- und Schattenseiten. Ausgesprochen positiv ist zu werten, dass alle Wahlkreissieger in den Bundestag einziehen und dass der Proporz der Parteien nach Zweitstimmen sichergestellt ist. Positiv ist auch zu sehen, dass sich föderale Verzerrungen in Grenzen halten. Bis auf kleinere handwerkliche Mängel sind diese Aspekte gut realisiert.
Negativ zu werten ist die starke Variabilität der Bundestagsgröße. Sie besitzt eine Eigenschaft, die mathematisch als sensible Abhängigkeit vom Input bezeichnet wird. Mathematiker haben diese Eigenschaft als eine Voraussetzung für die Entstehung von mathematischem Chaos identifiziert. Wenn man in bestimmten Konstellationen ein wenig am Input wackelt (= kleine Änderungen an den Stimmenzahlen vornimmt), so ändert sich der Output erheblich (= werden große Änderungen bei der Bundestagsgröße ausgelöst).
Beispiele sind schnell zur Hand, etwa für das Bundestags-Wahlergebnis von 2009: Hätte Die Linke in Hamburg nur 8000 Stimmen mehr erhalten, dann würde sich, bliebe alles andere gleich, unter dem 4F-Modell die Hausgröße von 671 auf 666 Sitze reduzieren. Das ist eine 50-fache, zudem gegenläufige Hebelwirkung. Sie kann sich natürlich auch in die umgekehrte Richtung auswirken. Diese und andere Verstärkungsmechanismen führen dazu, dass bei Simulationen von realistischen Wahlergebnissen die Modelle mit Ausgleichssitzen für Überhangmandate nicht selten zu Bundestagsgrößen von um die 800 Mandaten führen.
Ein zweiter bedenklicher Punkt ist das negative Stimmgewicht. Ganz klassisch bezeichnet es die Paradoxie, dass eine Partei für hypothetisch mehr errungene Zweitstimmen weniger Sitze im Bundestag bekäme, oder umgekehrt. Das Bundesverfassungsgericht drückt es im letzten Wahlrechts-Urteil begriffserweiternd so aus: Die Zahl der Mandate einer Partei darf nicht erwartungswidrig mit der Stimmenzahl für diese Partei oder für eine konkurrierende Partei korrelieren. Dabei ist es für das Vorliegen des Tatbestandes unerheblich, ob er durch Überhangmandate, Ausgleichssitze oder Rundungen verursacht wird.
Auch das 4F-Modell lässt negative Stimmgewichte zu: Verfolgt man die Auswirkungen der 8000 zusätzlichen Stimmen für Die Linke in Hamburg, so ergibt sich unter dem 4F-Modell für diese Partei auf Bundesebene ein Mandatsverlust. Dieses von mir schon im Dezember in die Diskussion eingebrachte Beispiel spielte auch bei der Anhörung im Innenausschuss eine Rolle. Es ist nicht angemessen, den im Beispiel beschriebenen Fall als nur dem negativen Stimmgewicht ähnlich umzudeklarieren oder ihn formal-juristisch (aber quantitativ nicht überzeugend) als gutartig umzudeuten.
Angesichts dieses Beispiels ist die verbreitete Meinung überraschend, das 4F-Model sei frei von negativem Stimmgewicht. Weiter gehende Analysen zeigen sogar, dass dieser Effekt nicht nur in seltenen Ausnahmefällen auftritt. Allerdings könnten nur aufwendige Simulationen letztlich die Größenordnung der Wahrscheinlichkeit dieses Effekts ermitteln. Auch hinsichtlich negativer Stimmgewichte ist der Gesetzentwurf damit noch risikobehaftet.
Was bleibt als Fazit? Zu begrüßen ist, dass sich fast alle Bundestagsfraktionen auf ein Wahlrecht geeinigt haben. Positiv ist auch, dass bei den maßgeblichen Staatsrechtlern der Entwurf auf überwiegende Zustimmung trifft. Aus meiner Sicht kann es aber nur ein Übergangswahlrecht sein, das wegen der angesprochenen Punkte noch Korrekturbedarf aufweist.
Weitere Literatur:
Hesse, Christian (2012): Gutachten zum neuen Bundeswahlrecht, BGBl 2011 Teil I S. 2313.
Christian Hesse ist Professor für Mathematische Stochastik im Fachbereich Mathematik der Universität Stuttgart und zur Zeit Gastprofessor in den USA. Beim Wahlrechtsverfahren im Sommer 2012 hatte ihn das Bundesverfassungsgericht als Sachverständigen hinzugezogen.