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Green Big Brother

 

Wer in diesen Tagen der Website der Grünen einen Besuch abstattet, der mag seinen Augen nicht trauen:  Mitarbeiterüberwachung bei der Öko-Partei! Auf der Homepage läuft derzeit die Live-Übertragung einer Webcam, die auf die Schreibtische der grünen Wahlkampfhelfer ausgerichtet ist. Man sieht, was die Leute dort arbeiten, ob sie überhaupt arbeiten, man darf beobachten, was es zu essen gibt (Reis mit Gemüse, später Pizza) und man versteht jedes Wort („Puh, vielleicht sollte man mal lüften…“)

Dass Konzerne wie die Telekom, die Bahn oder Lidl ihre Mitarbeiter ausspionieren, das passt ins Bild. Jetzt auch die Grünen?! Ein Skandal?

Keineswegs. Die Aktion ist eine temporäre und die Mitarbeiter wissen natürlich Bescheid. „Drei Tage wach“ haben sie die Grünen getauft. Im Endspurt vor der Europawahl bieten sie ihren potentiellen Wählern eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung an. Auf der Seite läuft nämlich nicht nur der Live-Stream aus der Wahlkampfzentrale, die User haben auch die Möglichkeit, zu jeder Tages- und Nachtzeit Fragen zu den politischen Positionen der Grünen zu stellen: Wie stehen die Grünen zu den EU-Agrarsubventionen? Sind Atomkraftwerke wirklich unsicher? Wie soll die von den Grünen geforderte Internet-Kulturflatrate funktionieren? Was halten die Grünen von „Killerspielen“ und Cannabis? Beantwortet werden sie (meistens) innerhalb recht kurzer Zeit und natürlich öffentlich.

Sogar bei praktischen Lebenfragen weiß das „Team Grün“ Rat. Als Userin Nina um 3.02 Uhr wissen will, wie „ich meinen Tofu am besten würzen [kann], damit er Geschmack annimmt?“, kommt – nach 50 Minuten – eine Antwort:

„Hi Nina, du kannst unterschiedlich bei Tofu vorgehen.

1) Du kaufst gewürzten Tofu. Damit ersparst du dir weitere Gedanken.

2) Du kaufst Tofu Natur. Diesen kannst du mit Öl und Gewürzen zu allem verwandeln, was du möchtest. Ich rate dir, den Tofu in Öl und Gewürzen/Salz/Tomate/Zeugs einzulegen und ihn dann in der Pfanne zu braten. Weiterhin einige Zeit in Brühe oder Gewürzkram den Tofu schmoren zu lassen, schadet nicht.“

Unbeantwortet bleibt dagegen die Frage von User Hammelsprung, der um 2.15 Uhr bittet: „Könnt ihr mich um 8:30 wecken?“ Und auch die Bemerkung von Reinhard bleibt unkommentiert: „Ich beobachte Euch: Der David sitzt ernsthaft vorm Laptop und arbeitet und der Daniel guckt Bilder an. Ist das OK?“

Die Aktion kommt an bei den Usern – obwohl die Technik noch nicht ganz ausgereift ist. Will man beispielsweise wissen, ob neue Fragen und Antworten auf die Seite gestellt wurden, muss man jedes Mal die komplette Homepage neu laden – samt Livestream-Video. Das nervt ein wenig.

Die Idee allerdings ist großartig. Plötzlich ist Europapolitik nicht mehr gähnend langweilig. Politische Positionen sind nicht mehr in einem 100-Seiten-Wahlprogramm versteckt sondern werden lebensnah präsentiert. Der sonst so undurchsichtige Parteiapparat wird auf einmal ganz menschlich.

Führt das Konzept zu einer besseren, transparenteren Politik? Wohl eher nicht, es ist ja bislang bloß die Wahlkampfaktion einer kleinen Partei. Nach der Wahl werden Webcam und öffentlicher Dialog mit den Usern wieder abgeschaltet werden, der Politikbetrieb beschäftigt sich wieder mit sich selbst. Aber wir werden uns an die Aktion erinnern – wenn wir beim nächsten Parteitag, bei der nächsten Bundestagssitzung, bei der nächsten Videobotschaft der Kanzlerin gern noch eine öffentliche Zwischenfrage gestellt hätten.