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Die Grünen machen es richtig – und du?

Als ich mich heute früh noch aus dem Bett quälte, hatte Priska Hinz offensichtlich schon einen anstrengenden, aber erfüllenden Morgen hinter sich. „Nach zwei Stunden Bahnhofsaktion bin ich richtig wach #UndDu?“ twitterte die wahlkämpfende Grünen-Abgeordnete um 8.14 Uhr. Ich hingegen war noch nicht annähernd wach, hatte noch nicht mal den ersten Kaffee intus, und in diesem Moment ging mir endgültig auf, warum mir die „und du?“-Wahlkampagne der Grünen seit Wochen so übel aufstößt. Die Grünen sind ausgeschlafen, voll dabei, immer im Dienst der guten Sache, und von mir erwarten sie das gleiche. „Und du?“ fragen sie halb fordernd, halb tadelnd, bist du auch schon so weit wie wir?

Der Spruch, mit dem sie das Land plakatieren, bringt unfreiwillig all das auf den Punkt, was der Partei seit langem, teils zu Recht, teils zu Unrecht vorgeworfen wird: Dass sie den Wählern das richtige Leben vorschreiben wollten, sich auf der richtigen Seite der Geschichte wähnen, und überhaupt schrecklich überheblich seien.

Auf einem steht: „Mit Essen spekulier ich nicht – und du?“ und man hat dann sofort ein schlechtes Gewissen, ob man nicht über die unübersichtlichen Verzweigungen des Finanzmarkts doch mal ein paar Cent an steigenden Getreidepreisen verdient hat. Auf dem weg zur Arbeit komme ich an einem Plakat vorbei: „Was der Bauer nicht kennt, fress ich nicht – und du?“ Und eigentlich müsste ich jetzt umdrehen und nachsehen, ob nicht in meinem Kühlschrank oder den Regalen irgend etwas steht, was Spuren von Gentechnik enthalten könnte. So funktioniert die ganze Plakatkampagne. Die Grünen machen ihren Wählern keine Vorschläge, sie stellen Ansprüche.

Das ist fatal, weil es ja eigentlich nicht stimmt. Das Problem ist die Werbekampagne, nicht die Politik der Partei. Die Grünen haben ziemlich ausgefeilte Konzepte zu Finanzpolitik und Sozialpolitik zu bieten, zur Energie- und Umweltpolitik sowieso. Sie sind nicht die Zeigefinger-Partei, zu der vor allem die FDP sie machen will. Doof nur, dass ihre „Und du?“ Plakate davon so wenig erzählen und so viel vom moralischen Anspruch dieser Partei an ihre Wähler.

So stellen sich die Grünen als Partei der Selbstoptimierung dar. Die englische Band Radiohead hat dazu ein Lied geschrieben, „fitter, happier, more productive“ heißt es, es handelt von den vielen unerfüllbaren Ansprüchen an sich selbst. Kein Mikrowellenessen mehr, regelmäßig zum Sport, immer nett zu den Kollegen sein, und bloß nicht in der Öffentlichkeit weinen. Es ist natürlich ein ziemlich trauriges Lied.

 

Wie man mit Nebensätzen Politik macht

Wer wissen will, wie sehr die Sprache von Politikern und die Auslegungen von Journalisten längst ihre eigenen Dynamiken geschaffen haben, der sollte sich den vermeintlichen Steuerstreit in der SPD ansehen.

Die Partei hat angekündigt, bei einem Wahlsieg Steuern zu erhöhen. Der Spitzensatz der Einkommenssteuer soll von 42 auf 49 Prozent steigen, die Vermögenssteuer soll wieder kommen und auch an der Erbschaftssteuer soll wohl gedreht werden. So steht es im SPD-Wahlprogramm, jeder kann es nachlesen.

Am Sonntag nun machte eine Vorabmeldung des Spiegels die Runde. Darin wird Parteichef Gabriel mit der Aussage zitiert: „Die Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerdumping ist der bessere Weg zum Schuldenabbau und zu höheren Investitionen in Bildung und Infrastruktur in Deutschland als Steuererhöhungen.“ Klar, denkt man als unbedarfter Leser, Steuerbetrug ist ja illegal und Steuerdumping mindestens verwerflich, da wäre es natürlich besser, diese unschönen und für den Staat teuren Vergehen zu verhindern, anstatt ehrlich verdientes Geld zu besteuern.

Der Spiegel schreibt dann weiter: „Damit rückt Gabriel offenbar von den bisherigen Beschlüssen in dem Bereich ab.“ Gemeint sind die Steuererhöhungen. Das ist eine zulässige, aber zugespitzte Interpretation der Aussage des Parteichefs. Denn er hat ja nicht gesagt, dass er nun definitiv die Steuern nicht erhöhen will.

Was wäre die SPD ohne Probleme?

Also fragten Journalisten Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, ob sich denn nun was ändere am SPD-Kurs. Die Antwort war eindeutig: „Die Vorstellung der SPD ist nach wie vor: Wir wollen nicht alle Steuern für alle, aber einige Steuern für einige erhöhen“, sagte er noch am Sonntag. Erst wenn man erfolgreich sei bei der Bekämpfung von Steuerbetrug, könne man über Steuersenkungen nachdenken. Damit wäre die Sache eigentlich geklärt, könnte man denken.

Von wegen. Noch am Sonntagabend musste sich Steinbrück in einer RTL-Sendung von einem potenziellen Wähler anpampen lassen, was die SPD da wieder für ein Chaos veranstalte und ob er denn seinen Parteichef nicht im Griff habe. Montagmorgen füllte der vermeintliche Konflikt die Schlagzeilen. Und Spiegel Online zeigte einmal mehr, wie man einen Streit herbeischreibt, wo keiner ist. „Es ist völlig klar, dass unser Steuerkonzept bleibt. Abstriche daran stehen nicht zur Debatte“, sagte der SPD-Linke Ralf Stegner. Über den Kampf gegen Steuerbetrug sagte er: „Wenn wir es schaffen, da Milliardenbeträge reinzuholen, können wir über Steuersenkungen reden.“ Also genau das Gleiche, was Steinbrück zuvor auch schon gesagt hatte und keinerlei Widerspruch zu Gabriels Aussage. Spiegel Online aber moderierte Stegners Zitate mit dem Satz an: „Die SPD-Linke hat die Parteispitze vor einer Abkehr der im Wahlprogramm formulierten Steuererhöhungen gewarnt.“ Wo eine Warnung ist, da ist auch ein mögliches Problem, und Probleme und SPD, das passt einfach, das ist die große mediale Erzählung dieses Wahlkampfs.

Da macht auch Grünen-Spitzenmann Jürgen Trittin gerne mit, immerhin der Wunschkoalitionspartner der SPD. Es sei unklug, „hasenfüßige Signale zu setzen, also eigene Programmatik zu kassieren, um vorauseilend Koalitionsverhandlungen zu führen für eine große Koalition. Das erleichtert das Kalkül der Kanzlerin.“ Und der FDP-Abgeordnete Volker Wissing behauptete bei Twitter gar: „Gabriel macht die Kehrtwende.“

Was also ist das nun, ein Null-Ereignis, medial überdreht und zu einem vermeintlichen Konflikt hochgeschrieben? Ja und nein. Denn natürlich wollte Gabriel mit seinem Zitat durchaus ein Signal senden, das sagen auch Sozialdemokraten hinter vorgehaltener Hand. Er hat, indem er beides in einem Satz nannte, ohne Not einen direkten Zusammenhang zwischen Steuererhöhungen und dem Kampf gegen Steuerbetrug hergestellt. Das sollte bedeuten: Liebe Leute, die Ihr Angst habt, dass wir Euch Geld wegnehmen, unterstützt uns beim Kampf gegen die Betrüger, dann wird es auch für Euch vielleicht weniger teuer. Gabriel hat also versucht, die Wähler zu beruhigen und die Aufmerksamkeit weg von den SPD-Steuerplänen auf das Thema Steuerbetrug zu lenken. Die anderen Parteien versuchen mit ihren lauten Anschuldigungen nun, die SPD weiter in der Rolle des zerstrittenen Chaoshaufens festzunageln. Daraus wiederum machen dann Journalisten ihre Geschichten.

Es ist also lautes Wahlkampfgerangel mit echtem politischen Hintergrund. Ausgelöst durch einen vermeintlich harmlosen Satz Gabriels. Von außen mögen solche Erregungsspiralen merkwürdig erscheinen. Innerhalb des Berliner Politikbetriebs sind sie nur logisch.

 

Mal wieder eine Unterschriftenaktion in Hessen

Für einen Landespolitiker ist es natürlich nicht so einfach, wenn die eigene Wahl am gleichen Tag stattfindet wie die alles überschattende Bundestagswahl. Beim Getöse um Berlin gehen die kleineren Fragen gerne man unter und man wird mitgerissen, in Sieg oder Niederlage – und wenn man Kandidat der SPD ist, sieht es vieles nach Niederlage aus. Man muss sich noch mehr abstrampeln als sonst, um gehört zu werden.

Thorsten Schäfer-Gümbel hat jetzt also den Steuerhinterziehern und Steuerumgehern den Kampf erklärt. Er hat einen Gesetzentwurf vorbereitet, der die Verjährung nach fünf Jahren abschaffen würde und die bequeme Möglichkeit zur Selbstanzeige gleich auch. Vor allem aber hat Schäfer-Gümbel eine Unterschriftenaktion angekündigt. Am kommenden Montag soll es losgehen in Frankfurt. Die Bürger sollen dann bitte unterschreiben für eine „Null-Toleranz-Strategie“. Das klingt richtig, das klingt gut, denn wer will schon Toleranz für Steuersünder, das sind ja Verbrecher!

Die hessischen Politiker scheinen es überhaupt zu haben mit Unterschriftenaktionen. Natürlich ist der jetzige SPD-Versuch nicht gleichzusetzen mit der infamen Kampagne Roland Kochs (CDU), der einst einfach mal Unterschriften gegen „kriminelle Ausländer“ sammelte. Eines aber haben solche Aktionen dann doch stets gemein: Es geht weniger um konkrete Politik (Steuergesetze sind kaum Ländersache, Schäfer-Gümbel könnte nach einem möglichen Wahlsieg lediglich mehr Kontrolleure einstellen), sondern darum, Stimmungen für sich zu nutzen. Davon könnten am Ende vielleicht sogar die großen Mitstreiter in Berlin profitieren. Schließlich war es Kanzlerkandidat Peer Steinbrück, der einst die Kavallarie auf die renitenten Schweizer und ihr Bankgeheimnis loslassen wollte. Man hört, Schäfer-Gümbel käme bald auch nach Berlin.

 

„Wenn Du bis morgen 12:00 Uhr nicht zurückgetreten bist, knallt es ganz gewaltig“

Ja, uns Journalisten ermüdet der Streit bei den Piraten mittlerweile auch. Doch leider schafft die Partei es immer wieder, noch eine neue, dramatischere Eskalationsstufe im innerparteilichen Umgangston zu erklimmen. Und das sagt dann wiederum durchaus etwas über eine Partei aus, die in vier Landtagen sitzt und dieses Jahr in den Bundestag einziehen will. Deshalb wollen wir also auch das neueste Drama zumindest kurz dokumentieren.

Glaubt man Johannes Ponader, dem politischen Geschäftsführer der Piratenpartei, ist am gestrigen Mittwochabend folgendes passiert: Um 18 Uhr schickte Christopher Lauer, bekannter Pirat und Mitglied im Berliner Abgeordnetenhaus, eine bemerkenswerte SMS an ihn, Ponader:

„Lieber Johannes, wenn Du bis morgen 12:00 Uhr nicht zurückgetreten bist, knallt es ganz gewaltig. Ich seh mir nicht mehr länger schweigend und untätig an, wie Du meine Partei gegen die Wand fährst. Gruß, Christopher“

Wenn es diese Nachricht tatsächlich gab, ist sie eine unverhohlene Drohung. Ponader kam ihr offensichtlich nicht nach. Dafür postete er die vermeintliche SMS und die darauf folgende Kommunikation mit Lauer am heutigen Donnerstagmittag kurzerhand in einem Blog im Internet. Es endet mit Lauers Statement: „Alter, wie verstrahlt bist Du denn? Du merkst ja gar nichts mehr.“

Ponader schreibt dazu im Blog: „Ich bin mir bewusst, dass die Veröffentlichung einer ‚privaten‘ SMS eigentlich einen Vertrauensbruch darstellt, aber von Vertrauen kann bei dem Inhalt wohl keine Rede mehr sein.“ Den Eintrag verbreitete er über seinen Twitter-Account, dem über 10.000 Leute folgen.

Auf Anfrage von ZEIT ONLINE will Lauer die Echtheit der SMS weder bestätigen noch dementieren: „Ich kann Ihnen die Frage, ob ich diese SMS überhaupt geschrieben habe, nicht beantworten“, sagt er. Es gäbe zwei Möglichkeiten: „Entweder sie ist echt, dann ist es eine private Nachricht und hat in der Öffentlichkeit nichts verloren. Oder sie ist nicht echt und er hat sich das ausgedacht, dann ist es schon ein starkes Stück.“ Er habe gar keine Zeit für Personaldebatten, sondern bemühe sich um eine inhaltliche Neuaufstellung für die Bundestagswahl.

Bei Twitter reagierten andere Piraten entnervt auf das neuerliche Skandälchen. „Möchte Euch alle auf den stillen Stuhl verbannen. Bis zur #btw13. Mindestens.“ schreibt die Wirtschaftspolitikerin Laura Dornheim. Und der Pirat Jan Leutert twittert: „Treffen sich zwei Piraten mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Keine Pointe.“

Johannes Ponader selbst sagt zu Lauers Reaktion: „Das geht am Thema vorbei. Wenn jemand einen Rücktritt fordern will, soll er das auch öffentlich machen.“ Er habe die SMS veröffentlicht, „weil wir so die Chance auf Knall, Versöhnung und dann Neuanfang haben“. Es gehe ihm „nicht um eine Personaldebatte, sondern um eine Debatte über den innerparteilichen Umgangsstil“. Mit Lauer selbst habe er seit der SMS keinen Kontakt mehr gehabt.

 

Von wegen Neustart: Drei ganz normale Tage bei den Piraten

Am Abend der Wahlniederlage von Niedersachsen waren sie sich alle einig, die Piraten. Es müsse jetzt Schluss sein mit der ständigen Selbstbespiegelung. Stattdessen: „Themen mit Köpfen“ verbinden, wie Parteichef Schlömer das nannte. Eigene Inhalte nach vorne bringen. Sachpolitik machen. Sich als Alternative präsentieren. Was also ist passiert seitdem?

An diesem Mittwoch gegen halb vier konnten die Piraten einen kleinen Erfolg verbuchen. Im Landtag von Nordrhein-Westfalen stellten sie den ersten Antrag aller Fraktionen zu einem Thema, das in dem Bundesland gerade die Gemüter erhitzt und die Titelseiten füllt. Nach der Abweisung eines Vergewaltigungsopfers in zwei katholischen Kölner Kliniken wollen die Piraten die kirchlichen Häuser per Gesetz zwingen, niemanden mehr abzuweisen. Ob man diesen Antrag nun gut findet oder nicht: Die Partei mischt damit vorne in der Debatte mit, die anderen müssen nun nachziehen. Ein kleiner, alltäglicher Erfolg.

So weit, so gut. Zur gleichen Zeit aber macht ein Interview mit dem politischen Geschäftsführer der Partei, Johannes Ponader, die Runde, das ausgerechnet die NRW-Piraten vom Podcast „Krähennest“ führten. Darin spricht sich dieser dafür aus, den Bundesvorstand der Partei, dem er selbst angehört, auf einem Sonderparteitag möglichst bald neu zu wählen. Beim Parteitag im November hatten die Piraten genau eine solche vorgezogene Neuwahl noch abgelehnt – und zwar auf Initiative von Parteichef Bernd Schlömer. Das Gremium, so Ponader jetzt, sei zu intransparent, und er stelle sich außerdem die Frage: „Wird es gelingen, einen guten, mutigen, inspirierten, provokanten Wahlkampf zu führen mit diesem Bundesvorstand?“

Und schon war sie wieder da, die Personaldebatte und Selbstbeschäftigung. „In welcher Parallelwelt sind fehlende Personaldebatten schuld am aktuellen Parteizustand und eine solche Debatte Lösung für irgendwas?“, twitterte Ponaders Vorstandskollege Klaus Peukert genervt. Was ihm wiederum die Frage einbrachte, warum er das nicht erst intern mit Ponader bespreche. Alles war wieder so wie immer.

Ähnlich festgefahren scheint die Situation im für die Partei vielleicht wichtigsten Streit: Wollen sie die „Ständige Mitgliederversammlung im Internet“ (SMV) einführen, mit der sie auch zwischen den Parteitagen Beschlüsse fassen können? Peukert fragte: „Warum stimmt die sogenannte Internetpartei immer noch nicht im Internet ab?“ In der Tat könnte die SMV bestenfalls einlösen, was die Piraten ja seit ihren ersten Tagen versprechen: die neuen Techniken für ein „Update der Demokratie“ nutzen.

Weil die SMV aber noch unausgegoren ist und viele befürchten, dass sie missbraucht werden könnte, kämpfen viele Piraten vehement gegen sie. Unter ihnen der stellvertretende Parteichef Sebastian Nerz, der am Dienstag in der taz prompt seinen Kollegen Peukert entgegnete, man solle „nicht den Fehler machen, auf demokratische Grundprinzipien zu verzichten, nur weil es hip oder modern wäre“. Es gebe „schlicht keine technische Lösung für solche Online-Abstimmungstools“.

Das bemerkenswerte ist nicht der Konflikt im Vorstand, der ist so alt wie das Thema selbst. Bemerkenswert ist, dass die beiden es jetzt durch ihre Äußerungen wieder auf die Tagesordnung heben, obwohl sie doch wissen, dass die Fronten hier verhärtet sind und es keine kurzfristige Lösung geben wird. Sie konnten also nichts erreichen, außer ein weiteres Mal den Eindruck zu bestätigen, dass sich Ober-Piraten uneinig sind und offen (sie würden sagen: transparent) streiten.

Fragt man Birgit Rydlewski, die als Piraten-Abgeordnete in NRW den Antrag zum Krankenhaus-Skandal mit eingebracht hat, was sie von den Personaldebatten und Streitereien hält, die so oft ihre Arbeit verdecken, seufzt sie erst einmal. Dann sagt sie: „Jetzt eine Personaldebatte aufzumachen, das ist, naja, eine schwierige Sache.“ SPD und Grüne werden ihrem Antrag heute nicht zustimmen, sie haben als Reaktion noch schnell ein eigenes Papier eingebracht, dass ein bisschen anders klingt. „Das geht wohl aus parteipolitischen Gründen nicht, dass sie mit uns gemeinsame Sache machen“, sagt Rydlewski. Sie will diese „Spielchen“ nicht mitmachen und deshalb mit SPD und Grünen stimmen. „Mir geht es ja um die Sache“, sagt sie.

Eigentlich ein gutes Beispiel für gelungene Piraten-Politik. Doch selbst im Piraten-Kosmos auf twitter ist der Antrag längst kein Thema mehr, sondern er ist überdeckt von Ponaders Neuwahl-Vorstoß.

Sicher, es sind erst drei Tage vergangen seit ihrer ersten Niederlage. Doch so sieht er bisher aus, der Neustart der Piraten.

 

Flügelkämpfe helfen den Piraten

Das einzig wirklich dämliche an der neu gegründeten Piraten-Untergruppe ist ihr Name: „Frankfurter Kollegium“ – das klingt in seiner altdeutschen Gestelztheit wie eine Mischung aus Burschenschaft und Adorno-Fanclub.

Sonst aber gibt es gegen den Verein, der sich als sozialliberaler Flügel in der Partei versteht, wenig zu sagen. Die Piraten wollen eine Vollpartei sein, das haben sie auf ihrem jüngsten Parteitag eindrücklich gezeigt, und in einer solchen geht es nicht ohne Flügel. Es ist das Natürlichste in der Parteienwelt, dass ihre Mitglieder miteinander um den Kurs ringen – wenn sie groß genug sind und ihre Positionen entsprechend vielfältig. Was ist schlimm daran, wenn sie sich dafür organisieren?

Nun aber schlägt dem neu gegründeten Flügel Empörung aus der eigenen Partei entgegen. Unter anderem gibt es bereits ein kritisches „Watchblog“ voller Verschwörungstheorien und mehrere Satire-Seiten, Twitter ist voll von wütenden Wortmeldungen. Das ist bestenfalls unterhaltsam, meist aber allzu reflexhaft und naiv. Denn diese Wut wird getragen von Piraten, für die es nur eine Maxime gibt: bloß nicht werden wie die anderen Parteien. Bloß keine „herkömmlichen“ Machtkämpfe und Grüppchenbildungen.

Dabei gibt es diese Kämpfe, die Grüppchen und Flügel auch bei den Piraten längst. Das zeigt jeder Parteitag und besonders beispielhaft der erbitterte Streit um das Bedingungslose Grundeinkommen. Diese Netzwerke organisieren Mehrheiten, bestimmen Debatten, ringen um Posten. Aber sie tun all das völlig im Verborgenen, weil es sie bei den ach so basisdemokratischen Piraten ja offiziell eigentlich nicht geben darf. Das ist das Gegenteil der Transparenz, die die Piraten im Brustton der Avantgarde von der Restgesellschaft einfordern.

Das „Kollegium“ ändert das. Sein Mitgründer, der stellvertretende Bundesvorsitzende Sebastian Nerz, hat deshalb völlig Recht, wenn er twittert: „Wir arbeiten damit – ganz bewusst – um Welten transparenter als große Teile der Netzwerke in der Partei.“

Einige Piraten haben nun Angst, dass nun bald eine sozialliberale Elite die Partei beherrschen könnte. Schließlich sind viel namhafte Funktionäre aus Bundes- und Landesvorständen und von Wahllisten Mitglied im Kollegium. Doch anstatt zu jammern, sollten die Kritiker dem etwas entgegensetzen: Am besten gute Argumente und eigene Themen.

Noch entscheidet die Gesamtheit der (auf Parteitagen anwesenden) Mitglieder über Programm und Posten. Dort können die Piraten die Anträge des Kollegiums (hoffentlich aus inhaltlichen Gründen) ganz einfach durchfallen lassen und ihre Vorreiter aus den Ämtern wählen. Die Frankfurter Flügel-Gründung schadet der parteiinternen Demokratie nicht. Wenn sie aber dazu beitragen würde, das naiv-romantische Politikverständnis und Selbstbild vieler Piraten zurechtzurücken, hätte es sich schon gelohnt.

 

Kohls Kurzzeit-Heimkehr

Da sitzt er also, der Altkanzler. Der Übervater. Der Ausgestoßene und doch Verehrte. Mit den Augen versucht Helmut Kohl zu lächeln, sich zu bedanken für den langen, warmen Applaus, den ihm die Bundestagsfraktion der Union spendet. Deutlichere Gesten fallen dem 82-jährigen seit seinem schweren Sturz vor einigen Jahren schwer, längst sitzt er im Rollstuhl, sind seine seltenen Reden nur noch undeutlich zu verstehen. Aber heute ist all das egal.

Heute ist Kohl in den Bundestag gekommen, um seiner Unionsfraktion den Glanz seiner historischen Größe zu spenden, für ein paar Minuten wenigstens. Am 1. Oktober vor 30 Jahren wurde Kohl Kanzler, und seine Partei feiert das in dieser Woche gleich mit einer Reihe von Veranstaltungen. Neben Fraktionschef Volker Kauder und Kanzlerin Angela Merkel, die ja mal sein „Mädchen“ war, sitzt er nun, und die beiden applaudieren ihm stehend. Davor rangeln die Fotografen um das beste Bild, bis Kauder sie hinausscheucht. „Ihr sollt jetzt rausgehen!“, meckert er sie an.

Was dann passiert? Man erfährt es nachher von Teilnehmern, die sich durch die Bank „bewegt“ zeigen von Kohls Auftritt. „Besonders für die Jungen war das ein Ereignis“, schwärmt Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU). „Hier ist meine Heimat, die Fraktion der CDU und CSU, hier bin ich zu Hause“, erklärte der Altkanzler. Er wolle nicht viel sagen, so Kohl – und richtete dann doch deutliche Worte an seine ehemaligen Mitstreiter. „Wir werden den Frieden nur erhalten, wenn wir Bereitschaft zum Miteinander haben“, sagte er zur Europapolitik. Man müsse „einander ernst nehmen“. Und der Altkanzler lobte die Fraktion, die ehemalige wie die heutige: „Ohne uns hätte es dieses Deutschland nicht gegeben.“

Volker Kauder, der die Moderatoren-Rolle übernahm, malte das Verhältnis der Partei zu ihrem Altkanzler in rosigsten Tönen. „Der herzliche Applaus zeigt: Sie gehören ganz fest in unsere Mitte“, sagte er in Kohls Richtung. Diejenige, die ihn einst im Zuge des Spendenskandals aus dieser Mitte gestoßen hatte, Kanzlerin Merkel, schwieg dazu. Überhaupt ergriff Merkel bei Kohls Rückkehr nicht einmal das Wort. Das sei aber gar kein schlechtes Zeichen, beeilten sich CDUler nachher zu versichern, schließlich rede sie ja schon beim großen Festakt für den Altkanzler an diesem Donnerstag. Mehr Kohl als nötig will Merkel sich dann doch nicht antun.

Zehn, vielleicht fünfzehn Minuten redet Kohl, und danach schwirren zweischneidige Komplimente durch den Reichstag. Seine „geistige Frische“ lobt die Staatsministerin Maria Böhmer, ein anderer seine „inhaltliche Klarheit“. Sie hatten anscheinend Schlimmeres befürchtet. Nur ein bisschen unverständlich sei er an manchen Stellen gewesen. „Irgendwas war mit Griechenland“, rätselt ein Teilnehmer, „aber was, hab ich nicht richtig mitbekommen“.

Nach kaum einer halben Stunde ist alles vorbei. Fraktionschef Kauder verlässt als einer der ersten den Saal, ein wenig später kommt Kohl herausgerollt. Eine Etage tiefer gibt es jetzt noch einen Empfang für ihn, „es gibt Herzhaftes“, heißt es. Seine Begleiter rollen ihn also in einen der großen Bundestagsaufzüge. Da kommt Angela Merkel herbei und quetscht sich als eine der letzten noch hinein in den Raum. So fahren sie gemeinsam hinab, der alte Kanzler und die nicht mehr ganz so neue Kanzlerin.

 

Piraten-Wahlkämpfer fordern Rücktritt von Buchautorin Schramm

Schon seit Tagen gärt bei vielen Piraten der Ärger über Julia Schramm, ihr Buch, und ihr Verhalten in Sachen Urheberrecht. Nun hat er sich an prominenter Stelle Bahn gebrochen: Der Landesvorstand der Piratenpartei Niedersachsen fordert geschlossen den Rücktritt der Piratin von ihrem Amt als Beisitzerin im Bundesvorstand. Am Donnerstag um 13:02 Uhr tauchte auf der Mailingliste der „Servicegruppe Presse“ der öffentliche Brief auf, in dem es heißt, die aktuelle Diskussion schade gerade in Niedersachsen sehr, wo am 20. Januar ein neuer Landtag gewählt wird: „Gerade auch im Hinblick auf unsere geplante Wahlkampfkampagne zum Thema ‚Urheber-, Markenschutz- und Patentrecht‘ stehen wir momentan im Lichte der Öffentlichkeit sehr schlecht da.“

Deshalb solle Schramm sich dafür einsetzen, dass die digitale Ausgabe ihres Buches für nicht-kommerzielle Nutzung frei verfügbar gemacht wird. Falls dies nicht möglich sei, was angesichts eines längst festgezurrten Autorenvertrags mehr als wahrscheinlich ist, schreiben die niedersächsischen Piraten weiter: „empfehlen wir Dir den nächsten richtigen Schritt zu gehen, um die Glaubwürdigkeit gerade in einem wichtigen Kernthema der Piratenpartei zu behalten: Rücktritt“.

Der Absender der Briefs, der stellvertretende Landesvorsitzende Thomas Gaul, bestätigte ZEIT ONLINE dessen Echtheit und erklärte: „Wir sind der Meinung, das wir uns positionieren müssen, denn was da gerade passiert, ist nicht im Sinne der Piratenpartei.“ Er fürchtet vor allem Rückschläge für den Landtagswahlkampf. „Das ist Negativreklame.“

Andere Piraten stöhnen nun wiederum laut auf über das Vorpreschen der Niedersachsen. Anke Domscheit-Berg twitterte: „gehts noch? Wir wollen urheber stärken u. downloader entkriminalisieren! Wo steht, wir wollen urheber zu gratis ebooks zwingen?“ Der Berliner Verleger und Pirat Enno Lenze reagierte mit Galgenhumor und bastelte den Piraten aus Frust gleich eine Vorlage für zukünftige offene Briefe. Der Twitterer @tante schrieb: „Es gibt schon Unterschiede zwischen den Piraten Landesverbänden. Berlin is „links“, Bayern „konservativ“, Niedersachsen peinlich.“

Der politische Geschäftsführer der Partei, Johannes Ponader, der Schramm in den vergangenen Tagen verteidigte, wusste am frühen Nachmittag noch nichts von dem Brief. Er würde so etwas aber mittlerweile nicht mehr zu hoch hängen, sagte er ZEIT ONLINE. In der Parteiführung hat man sich längst gewöhnt an die ständigen internen Streitereien. Der Vorsitzende Bernd Schlömer wollte den Vorgang nicht kommentieren. In einer Stellungnahme hatten sie zuvor Schramm verteidigt.

 Mitarbeit: Juliane Leopold