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Schröder, Steinmeier und die Stimme, auf die es ankommt

„Der klingt wie früher Schröder“ – ein derzeit des Öfteren gehörter Satz, wenn es um Auftritte des SPD-Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier geht. Für Steinmeier ist das wahrlich nicht das Schlechteste! Die sonore Stimme Schröders war ein echtes „Pfund“ des Kanzlers. In Umfragen etwa nach dem zweiten TV-Duell zwischen Schröder und Stoiber 2002 stimmten rund 75 Prozent der Befragten der Aussage „Er hat eine angenehme Stimme“ zu; bei Stoiber waren es weniger als 30 Prozent. Wenn es Steinmeier gelingt, diese Stimmenanalogie zu kultivieren, könnte er dieses Mal davon profitieren, so wie Schröder 2002 gegenüber Stoiber.

 

Wie die Wirtschaftskrise doch noch die Wahl beeinflussen kann

Die Wirtschaftskrise nutzt bisher vor allem der Union. Aber wenn die Arbeitslosigkeit deutlich steigt und die Angst in der Bevölkerung wächst, könnte sich das ändern.

Auf die Finanzkrise folgte die staatliche Bankenrettung; auf die Wirtschaftskrise folgten staatliche Bürgschaften für Unternehmen. Der Staat greift wieder aktiv ein, nach sozialdemokratischer Manier. Gegeißelt werden „gierige“ Manager, der Kapitalismus gerät in die Kritik. Was läge da näher als Verluste für bürgerliche Parteien, die zumeist als wirtschaftsnah gelten, und Gewinne für linke Parteien?

Fortsetzung hier auf Zeit Online.

 

Aktueller Wahlkampfwasserstand: Ruhe vor dem Sturm

Das Fahrwasser ist aktuell noch ziemlich ruhig – vor allem wählerseitig ist der Wahlkampf noch vergleichsweise weit weg. „Die Ferien, nicht die Wahlen sind wichtig“, könnte man sagen. Online-Umfragen im Vorfeld der Europawahl haben gezeigt, dass bislang kaum eine Politisierung der Wählerschaft zu beobachten ist. Nur jeder fünfte Wähler hat sich demnach für den Europawahlkampf interessiert. Auch seit dem lassen sich keine Anzeichen zunehmender Politisierung finden.

Aber: Das ist eher die Ruhe vor dem Sturm: Die Parteien (und auch die Wähler) rollen sich erst langsam warm – ganz wie bei einer Flachetappe der Tour de France (die Europawahl wäre demnach etwa ein eher müder Zwischensprint oder aber eine Bergwertung der Kategorie 4 gewesen). Die Musik spielt dabei am Ende – und so wird es auch dieses Mal sein: In der gleichen Umfragen vor der Europawahl sagen rund zwei Drittel der Befragten, dass der Ausgang der Bundestagswahl für Sie wichtig ist. Ein Politisierungspotenzial ist eindeutig vorhanden.

Dass moderne Wahlkämpfe erst spät in Fahrt kommt (und auch immer Wähler sich erst spät entscheiden), zeigt auch ein Blick zurück auf die Wahl 2005. Erst mit dem TV-Duell zwei Wochen vor der Wahl hat die SPD ihren Wahlkampf (und ihre Attacken v.a. auf Kirchhof) massiv intensiviert – und damit ist es ihr gelungen, eigene Anhänger zu mobilisieren und ihre Aufholjagd zu beschleunigen. Umfragen aus dem damaligen Wahlkampf zeigen, dass die Wähler – nach eigenen Angaben – sich spät entschieden haben: Jeder zehnte Wähler hat sich erst am Wahltag selbst entschieden; insgesamt ein Viertel der Wähler in den Tagen vor der Wahl (einschließlich des Wahltags). Die Aufholjagd der SPD ebenso wie das überraschend starke Abschneiden der FDP, das waren beides Ergebnisse sehr später Bewegungen.

Allerdings ist die Situation für die Regierungsparteien – und hier insbesondere für die SPD, die aktuell sicherlich noch den größten Mobilisierungs- und Überzeugungsbedarf hat – schwieriger als 2005: Es ist ein schmaler Grat zwischen Mobilisierung und Kabinettsdisziplin, Wahlkampf und Regierungskooperation. Die Politisierung von Themen fällt ihr bislang schwer und man darf gespannt sein, wie sich die SPD hier thematisch und personell in den kommenden Wochen aufstellt, um diesen Balanceakt zu meistern. Je näher der Wahltag aber rückt, umso legitimer wird es, Wahlkampf zu führen. Das Unbehagen, das auf allen Seiten – Parteien, Medien, Wählern – sowohl im Kontext von Arcandor als auch jetzt im Zuge von Krümmel noch zu beobachten ist, wird dann nachlassen. Der Wahlkampf wird in Schwung kommen – und die Wähler werden bereit sein.

 

Klimawandel und Krümmel – die umweltpolitischen Positionen der Parteien im Bundestagswahlkampf 2009

Umweltpolitik gilt als klassisches Beispiel für ein Themenfeld, das in wirtschaftlichen Krisenzeiten für Wähler wie auch für Parteien in den Hintergrund rückt. Nun ist es nicht nur durch die Klimawandeldebatte, sondern auch durch die Störfälle im Kernkraftwerk Krümmel – Vattenfall sei dank – wieder auf der politischen Agenda aufgetaucht.

Welchen Stellenwert hat das Thema Umweltpolitik in längerfristiger Perspektive? Dazu kann zunächst die Häufigkeit der Nennung positiver Aussagen zum Thema „Umweltschutz“ in den Wahlprogrammen von Union, SPD, FDP und Grünen heranziehen. Eine solche langfristige Perspektive liefert das „Comparative Manifesto Project“ (CMP; vgl. Budge et al. 2001; Klingemann et al. 2006), in dessen Rahmen die Wahlprogrammen von Parteien per manueller Inhaltsanalyse erfasst werden – auch unter umweltpolitischem Blickwinkel. Wie die Daten zeigen, geriet das Thema Umweltschutz vor allem zu den Wahlen 1987 und 1990 – und damit nach der Tschernobyl-Katastrophe – in den Fokus der programmatischen Debatte. Dies gilt nicht nur für die Grünen, sondern auch für die SPD, die CDU/CSU und auch die FDP. Nach diesen Zahlen thematisierte das SPD-Wahlprogramm 1990 nahezu in jedem vierten Satz das Thema Umweltschutz in positiver Weise. Während der 1990er Jahre büßte das Thema allerdings wieder an Wichtigkeit ein, die Nennungen in den Wahlprogrammen der Parteien – mit Ausnahme der Grünen – erreichten wieder Werte, wie sie zuvor aus den Bundestagswahlprogrammen der 1960er Jahren bekannt waren. Zu den Bundestagswahlen 2002 lag der Anteil von Sätzen mit positiven Aussagen zum Umweltschutz in den Wahlprogrammen von SPD, FDP, Union und PDS bei deutlich unter 5 Prozent.


Quelle: Datensatz des „Comparative Manifesto Project“ (Budge et al. 2001, Klingemann et al. 2006).

Wie haben sich nun die Positionen der Parteien zwischen 2005 und 2009 im Hinblick auf deren umweltpolitische Ausrichtung entwickelt? Zeigen sich Auswirkungen der medial sehr prominent platzierten Debatte um den Klimawandel? Kann die SPD durch die Besetzung des Umweltministeriums mit Sigmar Gabriel und damit einem der ihren die Debatte um das Kernkraftwerk Krümmel mit den umweltschutzpoltischen Aussagen in ihrem Wahlprogramm kombinieren, um ihr umweltschutzpolitisches Profil zu schärfen? Da der CMP-Datensatz nur Informationen bis zur Bundestagswahl 2002 liefert, verwenden wir das wordscore-Verfahren (Laver et al. 2003), um die Positionen der Parteien bei den Bundestagswahlen 2005 und 2009 zu schätzen.

[Als Referenzpositionen wählen wir – wie in früheren hier präsentierten Analysen – die Expertenbefragung von Benoit und Laver (2006) aus, in der die Positionen der deutschen Parteien auf einer Dimension wiedergegeben sind, die den Tradeoff zwischen Umweltschutz und Wirtschaftsinteressen abbildet. Je niedriger die Werte für die Parteien, desto mehr wird dem Schutz der Umwelt Vorrang vor Interessen der Wirtschaft gegeben.]

Die Positionen der fünf Bundestagsparteien inklusive deren statistischen Schwankungsbereichs auf dieser Dimension sowie auf einer sozioökonomischen Links-Rechts-Achse sind in der folgenden Abbildung wiedergegeben. Es überrascht kaum, dass Bündnis 90/Die Grünen die Partei sind, die dem Umweltschutz Vorrang gegenüber den Interessen der Wirtschaft geben. Ebenso war zu erwarten, dass die wirtschaftsliberale FDP wirtschaftlichem Wachstum Vorrang gegenüber Policies gewährt, die auf einen stärkeren Umweltschutz abzielen. Die Positionen von Union, SPD und der „Linken“ sind ausgewogener und somit zwischen Grünen und Liberalen angesiedelt, wobei die Christdemokraten wirtschaftsnäher als die Sozialdemokraten und die Linken sind.

Von größerem Interesse sind die Veränderungen der Parteipositionen auf der umweltpolitischen Dimension. Gegenüber den Wahlprogrammen 2005 haben – abgesehen von der „Linken“ – alle aktuell im Bundestag vertretenen Parteien ihre Positionen hin zu mehr Vorrang vor Umweltschutz gegenüber Interessen der Wirtschaft abgeändert. Dies gilt vor allem für die eher wirtschaftsnahen Parteien Union und FDP, aber auch für Grüne und – in schwächerem Ausmaß – die SPD. Dies kann sicherlich als Reaktion der Parteien auf die Studien und Prognosen zur globalen Erwärmung gewertet werden. Ob jedoch die Sozialdemokraten ihr verabschiedetes Wahlprogramm nutzen können, um sich umweltpolitisch vor allem gegenüber den Bündnisgrünen zu profilieren, wie momentan in den Medien spekuliert wird, ist eher fraglich. Nach wie vor sind Bündnis 90/Die Grünen die Partei in Deutschland, die am klarsten für den Vorrang des Umweltschutzes gegenüber Interessen der Wirtschaft eintritt.

Literaturverweise

Benoit, Kenneth & Laver, Michael (2006). Party Policy in Modern Democracies. London: Routledge.
Budge, Ian; Klingemann, Hans-Dieter; Volkens, Andrea; Bara, Judith & Tanenbaum, Eric, Mapping policy preferences. Estimates for parties, electors and governments 1945-1998. Oxford: Oxford University Press.
Klingemann, Hans-Dieter; Volkens, Andrea; Bara, Judith; Budge, Ian & McDonald, Michael (2006). Mapping policy preferences II: Estimates for parties, electors and governments in Eastern Europe, European Union and OECD 1990-2003. Oxford: Oxford University Press.
Laver, Michael; Benoit, Kenneth; Garry, John (2003). Extracting Policy Positions from Political Texts Using Words as Data. American Political Science Review 97, 311-331.

 

Für jeden was dabei… willkommen in der Welt der Umfragen.

Dieses Mal ist wirklich für jeden was dabei: Im Willy-Brandt freut man sich über die „aktuelle Stimmung“ im neuesten ZDF-Politbarometer: SPD +4, CDU/CSU -3. Ignorieren wird man dort den ARD-Deutschlandtrend (SPD -2), ärgern wird man sich über die Projektion der Forschungsgruppe Wahlen: Trotz +4 in der – ebenfalls auf der Wahlabsichtsfrage basierenden – aktuellen Stimmung keine Änderung bei der Projektion (weiterhin 25); dafür verliert die Union in der Projektion einen Punkt (jetzt 37), obwohl doch ihr Verlust in der aktuellen Stimmung nur -3 war: -3 (Stimmung)=-1 (Projektion), aber +4 (Stimmung)=0 (Projektion), hm, ärgerlich für die SPD. Die Union freut sich eher indirekt – sie verliert in den Umfragen zwar überall, gleichzeitig reicht es aber für schwarz-gelb bei ARD und ZDF für eine eigene Mehrheit (und erst recht, wenn man die aktuelle Diskussion um Überhangmandate mit bedenkt). Allerdings gilt dies nur, wenn man unterstellt, dass die Union wirklich mit der FDP reagieren will. FDP in den Umfragen? Gewinnt in der ARD (+1), verliert aber in der aktuellen Stimmung des ZDF (-2). Grüne? In beiden Projektionen unverändert. Linke? Gewinnen überall dazu. Ach, Umfragen können so schön, einfach für jeden was dabei – fast wie am Wahlabend, wo es ja auch selten Verlierer gibt.

 

Nur Ärger mit diesem Twitter… oder?

Dieser Twitter macht in diesem Wahljahr nur Ärger. Erst veröffentlicht er das Ergebnis der Wahl des Bundespräsidenten zu früh, jetzt droht er offenkundig, das auch im Vor- und Umfeld der Bundestagswahl zu tun. Kein Wunder, dass Politiker „Twitter-Manipulationen bei Bundestagswahl“ fürchten, wie Spiegel Online kürzlich berichtete.

Worum geht es? Infratest dimap (für die ARD) und die Forschungsgruppe Wahlen (für das ZDF) befragen an Wahltagen Tausende von repräsentativ ausgewählten Wählerinnen und Wählern vor Hunderten von repräsentativ ausgewählten Stimmlokalen. Das sind die so genannten „Wahltagsbefragungen“ (die mit anderen im Vorfeld durchgeführten Umfragen wenig gemein haben). Sie sind die Basis der Prognose des Wahlergebnisses, die um Punkt 18.00 Uhr (mit vorherigem Countdown!) über die Sender geht. Die Institute befragen den ganzen Tag über, fangen aber natürlich schon tagsüber an, ihre Ergebnisse auszuzählen. Und sie machen noch etwas: „Die sogenannten Exit-Polls mit Zahlen und Trends zum Wahlausgang werden den Parteien nachmittags mitgeteilt“, heißt es bei Spiegel Online dazu.

Die Sorge ist nun, dass diese Parteien diese Informationen diesem Twitter sagen und der es dann allen anderen weitererzählt. Und dass dann alle anderen (zumindest die, die noch nicht gewählt haben) unter dem Eindruck von diesem Twitter ins Wahllokal stürmen und alles „manipulieren“.

Hierzu sind zwei Dinge festzustellen:

(1) In § 32 des Bundeswahlgesetzes heißt es unter der Überschrift „Unzulässige Wahlpropaganda und Unterschriftensammlung, unzulässige Veröffentlichung von Wählerbefragungen“ in Absatz (2): „Die Veröffentlichung von Ergebnissen von Wählerbefragungen nach der Stimmabgabe über den Inhalt der Wahlentscheidung ist vor Ablauf der Wahlzeit unzulässig.“ Weiterhin heißt es in § 49a unter dem Stichwort „Ordnungswidrigkeiten“ in Absatz (1): „Ordnungswidrig handelt, wer … entgegen § 32 Abs. 2 Ergebnisse von Wählerbefragungen nach der Stimmabgabe über den Inhalt der Wahlentscheidung vor Ablauf der Wahlzeit veröffentlicht.“ Absatz (2) benennt die Strafe: „(2) Die Ordnungswidrigkeit [kann] nach … Absatz 1 Nr. 2 mit einer Geldbuße bis zu fünfzigtausend Euro geahndet werden.“ Da kann der Twitter ja schon mal mit dem Sparen beginnen. Im Ernst: Die Frage ist wohl, was hier „Veröffentlichung“ heißt. Wie viele Parteifunktionäre und Journalisten dürfen die Ergebnisse vorab erfahren, ohne dass dies „öffentlich“ ist? 10? 100? 1000? Oder sollte man die Zulässigkeit auf Personen, die bereits gewählt haben, beschränken? Denn die können ja nicht mehr manipulieren…

(2) … was zum zweiten Punkt führt: Die These, dass diese Informationen problematisch sind: Wer CDU wählt, weil die Sonne scheint, SPD wählt, weil der Nachbar ihm gerade erzählt hat, dass er das auch getan habe, wer grün wählt, weil das seine Lieblingsfarbe ist, „Die Linke“ wählt, weil sie irgendwie aus Ostdeutschland kommt, oder FDP wählt, weil er gerade eben neueste Umfrageergebnisse gehört hat. Ist das relevant? Ist eines davon besser oder schlechter als das andere?

Hinzu kommt – ich hatte das an anderer Stelle schon einmal skizziert -, dass die Forschung hierzu bislang keine eindeutigen Befunde präsentieren konnte. Mobilisierung in Folge veröffentlichter Umfragen ist ebenso möglich wie Demobilisierung, Vorteile für den vermeintlich Führenden sind ebenso vorstellbar wie Vorteile für scheinbar zurückliegende Parteien. Einen einseitigen Effekt jedenfalls hat die Forschung bislang nicht nachweisen können.

Vielleicht sollte man einmal ganz neu darüber nachdenken, wie man mit diesen Informationen aus Wahltagsbefragungen (und diesem Twitter) umgeht. Nicht wie Dieter Wiefelspütz (SPD), der anregt, „über ein Verbot der Wählerbefragungen nachzudenken“. Oder Dorothee Bär von der CSU, die fordert, alle Eingeweihten auf einen „Kodex des Stillschweigens zu verpflichten“. Das ist doch ziemlich elitär. Warum nicht eine Pflicht für die Institute, jede Stunde den aktuellen Zwischenstand zu veröffentlichen? Das würde vielleicht sogar die Leute mobilisieren. Twitter sei dank.

 

Battleground-Wahlkreise? Zur aktuellen Diskussion um Überhangmandate

Die These einer Amerikanisierung von deutschen Wahlkämpfen hat mittlerweile einen langen Bart. Im Zuge der aktuellen Diskussion um mögliche Überhangmandate könnte allerdings ein neues, bislang wenig diskutiertes Element hinzukommen: Battleground-Wahlkreise.

„Battleground states“ sind in den USA jene Bundesstaaten, in denen es sowohl für Demokraten als auch Republikaner möglich erscheint, die (relative) Mehrheit zu erreichen. Und wer die relative Mehrheit gewinnt, der gewinnt – bei Präsidentschaftswahlen – alle Wahlmännerstimmen dieses Bundesstaates: „the winner takes it all“. Diese Bundesstaaten liefern also eine potenziell große Prämie für eine Partei, weshalb dort die Wahlkampfschlacht besonders heftig tobt – battleground state eben.

Was das mit Überhangmandaten zu tun hat? Die Gewinner der 299 Wahlkreise bei der Bundestagswahl werden ebenfalls per relativer Mehrheitswahl gefunden: Wer die meisten Stimmen in einem Wahlkreis bekommt, zieht als direkt gewählter Wahlkreisabgeordneter in den Bundestag ein. Im bundesdeutschen Wahlsystem ist dies – eigentlich – eine Nebensächlichkeit (siehe hierzu auch den Beitrag von Thomas Gschwend). Über die Machtverteilung im Bundestag wird anders entschieden. Nämlich über die Verteilung der Zweitstimmen. Wenn die Union 35 Prozent der Zweitstimmen erhält, erhält sie auch ungefähr 35 Prozent der Sitze im Deutschen Bundestag (bzw. etwas mehr, weil ja Parteien, die an der 5%-Hürde scheitern, bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt werden).

Bei 598 Sitzen im Bundestag und einem angenommenen Stimmenanteil von 35 Prozent sind dies also rund 210 Sitze. Diese werden in einem zweiten Schritt auf die Bundesländer (und die dortigen Listen der Union) verteilt. In Baden-Württemberg etwa leben rund 12 Prozent der deutschen Wahlberechtigten, also wird die Union dort in etwa 25 Sitze (12 Prozent von 210) gewinnen. Sagen wir, die Union erhält dort 30 Sitze, weil die CDU ja dort immer gut abschneidet. Baden-Württemberg hat aber zugleich bei der Bundestagswahl im Herbst 38 Wahlkreise. Und hier kommt die zu ergatternde Prämie aus Sicht der Parteien ins Spiel: Wenn die Union alle 38 Wahlkreise in Baden-Württemberg gewinnt, wird sie auch mit 38 Abgeordneten aus Baden-Württemberg in den Bundestag einziehen – die Differenz zwischen den 38 Direktmandaten und den 25 bis 30 ihr „zustehenden“ Sitzen ist die Extra-Prämie, die zu holen ist, das sind die Überhangmandate. Und bei knappem Wahlausgang kann das in der Tat den machtpolitischen Ausgang der Wahl bestimmen.

Dass Ähnliches eintritt, ist sehr wahrscheinlich – darauf hat Joachim Behnke mit seinen Analysen eindrucksvoll hingewiesen. Allerdings darf man eines nicht vergessen: Die anderen Parteien – allen voran die SPD -, mit denen die Union im Kampf um Direktmandate konkurriert, können (und werden) auf diese Szenarien reagieren. Die SPD sollte (und wird) alles daran ansetzen, um etwa in Baden-Württemberg (und anderen Ländern mit einer hohen Wahrscheinlichkeit für Überhangmandate) in ihren (relativen) Hochburgen die Mehrheit zu gewinnen (Mannheim wäre ein solches Beispiel). Denn jedes einzelne Direktmandat, das die Union nicht gewinnt, bedeutet ein Überhangmandat weniger (und lässt die Prämie der Überhangmandate wieder abschmelzen). Die SPD sollte also gezielt in diesen Wahlkreisen besonders aktiv sein. Das möchte aber die Union überhaupt nicht, also wird auch sie in diesen Wahlkreisen ihre Aktivitäten intensivieren. Und so entsteht ein Battleground-Wahlkreis.

 

Der Kirchhof-Komplex (und -Reflex)

Wahlkampf 2005 – alles läuft gut für die Union. Bis Kirchhof kommt. Das ist mehr als Folklore, sondern lässt sich auch mit Zahlen untermauern: Je bekannter Kirchhof in der Bevölkerung wurde, desto unbeliebter wurde er auch, wie die folgende Grafik zeigt (die auf täglichen Interviews in der heißen Phase des Wahlkampfs 2005 basiert):

Innerhalb kürzester Zeit sank das Ansehen Kirchhofs auf der etwa aus den ZDF-Politbarometern bekannten Skala von -5 bis +5 um annähernd zwei Punkte. Da sonst schon Verschiebungen in der Größenordnung von wenigen Zehntelpunkten als bemerkenswert gelten, ist dies ein dramatischer Einbruch.

Darauf hat die Union jetzt reagiert und im laufenden Wahlkampf Steuersenkungen für die Zukunft angekündigt. Ob das den Wähler allerdings mehr überzeugt als die Strategie 2005 – wo doch Wirtschaftswissenschaftler nahezu unisono mit dem Gegenteil rechnen?

 

Bayern gegen Bremen

Duelle zwischen Bayern und Bremen kennt man vor allem im Fußball. Doch auch bei der Europawahl gibt es dieses Duell, vor allem im Unionslager. Während alle anderen Parteien mit bundesweit einheitlichen Listen zur Europawahl antreten, tritt die Union mit Landeslisten (also einer eigenen Kandidatenliste pro Bundesland) an. Dieser Umstand ist der CSU geschuldet – da sie in Bayern (und nur dort) antritt, muss auch die CDU in jedem einzelnen der übrigen 15 Länder mit einer eigenen Liste antreten.

Die Vergabe der Sitze erfolgt am Sonntag zweistufig: Zunächst auf die CDU insgesamt, dann – nach der Anzahl der pro Bundesland erhaltenen Stimmen – auf die einzelnen Landeslisten der CDU. Nun wird die CDU, das dürfte eine nicht allzu kühne Prognose sein – rund 35 der 99 deutschen Sitze am kommenden Sonntag gewinnen können. Dass einer davon von einem bremischen Kandidaten besetzt werden wird, ist aber nahezu ausgeschlossen. Zu klein ist der Anteil Bremens an der deutschen Bevölkerung (und damit auch innerhalb der CDU-Wählerschaft), nur 0,8 Prozent der Wahlberechtigten leben dort. Die CDU-Liste Bremens wird nicht zum Zuge gekommen, selbst ihr Spitzenkandidat wird nicht ins EP einziehen. Und das alles nur (ein wenig überspitzt formuliert) wegen der CSU. Bayern gegen Bremen – manchmal auch abseits des Platzes.