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Menschenwürde lässt sich nicht pauschalieren: Was das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Hartz IV für die Sozialpolitik bedeutet

StruenckWieder einmal kommt Wegweisendes aus Karlsruhe. Mit ihrem Urteil zur Berechnung der Regelsätze des Arbeitslosengeldes II („Hartz IV“) haben die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts neben vielen Details eine zentrale Richtlinie vorgegeben: Pauschale Sozialleistungen, die das Existenzminimum sichern sollen, können nur „den durchschnittlichen Bedarf“ decken. Es gebe jedoch in Einzelfällen auch einen besonderen Bedarf, der „unabweisbar“ und „laufend“ sei, heißt es in der Urteilsbegründung.
Diese Richtlinie hilft zum Beispiel chronisch Kranken, die in Zukunft zusätzliche Leistungen bekommen werden, genau wie auch schulpflichtige Kinder. Diese Richtlinie relativiert aber auch ein zentrales Ziel der früheren Gesetzgebung, als Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammen gelegt wurden. Denn unter anderem sollte die Auszahlung der Sozialleistungen massiv vereinfacht werden. Zuvor berechnete sich die alte Arbeitslosenhilfe nach dem früheren Einkommen. Also mussten jeweils individuelle Ansprüche ermittelt werden. Das kostete Geld und Personal.
Als das Arbeitslosengeld II eingeführt wurde, gab es nur noch pauschale Regelsätze plus zusätzliche Leistungen wie Wohngeld und einige Sonderbedarfe. Die früheren Empfängerinnen und Empfänger von Arbeitslosenhilfe waren im Grunde die Verlierer der Reform.
Doch dem Bundesverfassungsgericht ging es weniger um bestimmte soziale Gruppen, sondern um den Einzelnen und seine Menschenwürde. Sie zu bewahren, hängt vom konkreten Bedarf im Einzelfall ab. Pauschale Sozialleistungen passen nicht zu einer Grundsicherung, die ein menschenwürdiges Existenzminimum garantieren soll.
So weit, so klar. Wegweisend sind in Karlsruhe allerdings nicht nur einige Urteile, sondern auch deren Widersprüche. Sie sorgen meist dafür, dass so gut wie alle mit dem Urteil leben können, zum Beispiel auch die Bundesregierung. Denn an anderen Stellen haben die Richterinnen und Richter festgestellt, dass die derzeitigen Regelsätze nicht zu gering seien, um das physische Existenzminimum zu sichern. Ist das wirklich ein Widerspruch?
Wichtig ist die Betonung des „physischen“ Existenzminimums. Im Sozialrecht ist allerdings vielfach davon die Rede, dass das „sozio-kulturelle Existenzminimum“ gesichert werden solle. Die Richterinnen und Richter verwenden den Begriff des „menschenwürdigen Existenzminimums“. Dazu gehört nach ihrer Meinung nicht nur die physische Existenz, sondern auch ein „Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“. Wenn aber die Regelsätze an sich ausreichen, um die physische Existenz zu sichern, und nur in Einzelfällen besondere Bedarfe hinzukommen, was ist dann mit denjenigen, bei denen keine besonderen Bedarfe feststellbar sind? Müssen die mit der Sicherung des physischen Existenzminimums zufrieden sein, entgegen der eigentlichen Leitlinie des Gerichts? Oder ist die Konsequenz dann nicht, dass alle Empfängerinnen und Empfänger von Arbeitslosengeld II automatisch Anrecht auf zusätzliche Leistungen gemäß ihrem Bedarf haben? Bleibt dadurch auch das Lohnabstandsgebot zu den untersten Lohngruppen auf dem Arbeitsmarkt gewahrt?
Die Antwort auf diese offenen Fragen ist ebenfalls offen. Denn der Gesetzgeber habe „einen Gestaltungsspielraum“ bei der Bemessung des Existenzminimums. Das betrifft im Übrigen auch die Methode, die allerdings nachvollziehbar und offen sein müssen. Nur „Schätzungen ins Blaue hinein“ sind nicht vertretbar. Die bisherigen Methoden des Gesetzgebers waren aber häufig genau solche Schätzungen. Das heftig umstrittene Statistik-Modell, in dem die untersten 20 Prozent der Beschäftigten zum Maßstab genommen werden, ist hingegen durchaus akzeptabel.
Wie so oft hat der Gesetzgeber also auch einen Gestaltungsspielraum, wenn es darum geht, die Vorgaben des Verfassungsgerichts umzusetzen. Auch wenn dies durch politische Machtverhältnisse entschieden wird, hat das Gericht einen unumstößlichen Pflock eingeschlagen: Eine soziale Grundsicherung sollte zwar Gleichheit zum Ziel haben. Aber ihre Instrumente können und dürfen deshalb nicht gleich sein. Das gebietet die Menschenwürde.

 

Althaus und Magna, Rösler und die PKV, Hoff und Opel – zwei Thesen zu Lobbyismus und Politikberatung

AndreaMit dem Wechsel von Dieter Althaus zum Autozulieferer Magna beobachten wir wieder einmal den engen Zusammenhang zwischen Politik und Wirtschaft, nachdem erst kürzlich der Wechsel eines Vertreters der privaten Krankenkassen in das Gesundheitsministerium für Aufruhr gesorgt hatte. In solchen Zusammenhängen wird gerne von der „gekauften Republik“, von „Lobbykratie“ etc. geredet. Dies soll hier aus der Sicht der empirischen Sozialforschung in aller Kürze unter Berücksichtigung der neuen Forschungsergebnisse beleuchtet werden. Denn dass das Thema auch aus akademischer Sicht relevant ist, zeigen nicht zuletzt die Debatten, die derzeit in der Politischen Vierteljahresschrift (PVS) und der Zeitschrift für Politikberatung (ZPB) geführt werden.*

These 1: Veränderungen in der Staatlichkeit verlangen nach mehr Politikberatung und nach anderen Formen der Politikberatung. Lobbyismus ist eine davon.

Mit steigenden Problemen, mehr Themen und mehr Schnittstellenmanagement steigt auch der Bedarf an Expertenwissen in der Politik. Dieses Wissen stellt nicht nur die Wissenschaft bereit; auch Unternehmen, auch die Wirtschaft produzieren es und dieses Wissen muss seinen Weg in die Politik finden. Aber: Die Grenze zwischen Wissensvermittlung und Beeinflussung, also Lobbying, ist fließend. Es bedarf strenger Transparenz-Regelungen, wie sie schon verschiedentlich eingefordert wurden, um drohendem Missbrauch Einhalt zu gebieten. Immerhin geben laut einer Studie von LobbyControl 89,5% der Bundestagsabgeordneten an, einer Nebentätigkeit nachzugehen, für 33,6% bedeutet dies gar Einkünfte von über 1000 Euro monatlich bzw. 10.000 Euro jährlich. Zweifellos liegt in solchen außerpolitischen Engagements großes Potenzial für einen Austausch, von dem sowohl Politik als auch Wirtschaft profitieren. Jedoch hat die Studie von LobbyControl auch gezeigt, dass die Angaben der MdBs offensichtlich nur unzureichend überprüft werden – von echter Transparenz kann also keine Rede sein.

These 2: Das politische System muss Karrierewege aus der Politik heraus zulassen, denn auch die Wirtschaft braucht die Expertise der Politik.

Dass der Wissenstransfer von der Politik in die Wirtschaft stattfindet, ist zunächst ein gutes Zeichen. Sicher hat Magna gute Gründe dafür, sich die Dienste eines ehemals ranghohen Politikers wie Dieter Althaus zu sichern. Jedoch: Eine Karenzzeit, die „fliegende Wechsel“ verhindert und beispielsweise von LobbyControl auch schon gefordert wurde, ist unbedingt notwendig. Hier muss meiner Ansicht nach schärfer reguliert werden, um zu engen Verstrickungen zwischen altem Mandat und neuem Job vorzubeugen. Ein unrühmlicher Extremfall ist in diesem Zusammenhang die Berufung des ehemaligen hessischen Europaministers Volker Hoff zum „Vize-Präsidenten für Regierungsangelegenheiten“ des Autobauers Opel. Selbstbewusst traut er sich zu, trotz der neuen Funktion als Opel-Lobbyist parallel auch sein Landtagsmandat weiterführen zu können. In Abstimmungen, die Opel betreffen (das Unternehmen hat in den vergangenen Monaten bekanntlich einige Finanzspritzen der hessischen Landesregierung erhalten), werde er sich eben enthalten. Solche Aussagen machen selbst den liberalen Koalitionspartner nervös.

* Siehe die in Kürze erscheinenden Diskussionsbeiträge von Christian Humborg in ZPB 1/2010 sowie von Svenja Falk, Andrea Römmele, Henrik Schober und Martin Thunert in PVS 1/2010.

 

Kompetenzen und Konsequenzen – die Neuorientierung der SPD steht bevor

Andrea RömmeleWie lässt sich das Wahlergebnis vom Sonntag erklären, oder genauer gefragt: Wie lässt sich die historische Niederlage der SPD erklären? Zahlreiche Punkte werden derzeit diskutiert, in diesem Blog hat Andreas Wüst sehr anschaulich die beiden Kandidaten gegenübergestellt.

Aus Sicht der Wahlkampfforschung beeinflussen neben der Kandidatenfrage zwei weitere Faktoren die Wahlentscheidung: die Identifikation mit einer Partei und die ihr zugeschriebenen Kompetenzen in politischen Sachfragen. Mit sinkender Parteiidentifikation, die wir in allen etablierten Demokratien vorfinden, steigt logischerweise die Bedeutung von Themen und Kandidaten. Die folgenden Umfragedaten stellen die wahrgenommene Problemlösungskompetenz der Parteien zu bestimmten Sachfragen dar.

Parteikompetenzen April 2009

Kompetenzen April

Quelle: Infratest dimap, DeutschlandTrend April 2009

Die Daten sprechen eine klare Sprache: In nahezu allen wichtigen Themenbereichen liegt die CDU/CSU im Frühjahr deutlich vor der SPD, es gibt lediglich zwei klare Ausnahmen: der arbeitnehmerfreundlichere Umgang mit der Krise wird der SPD ebenso zugeschrieben wie die Kompetenz in ihrem Kernthema, der sozialen Gerechtigkeit.

Es ist den Sozialdemokraten im Laufe des Wahlkampfes jedoch nicht gelungen, in diesen Themengebieten weiter zu punkten, geschweige denn andere Themengebiete für sich zu gewinnen. Auch leichte Verbesserungen in manchen Bereichen ändern nichts am Gesamtbild. Für eine echte, durch Themen ausgelöste Trendwende wären Gewinne in viel größeren Dimensionen vonnöten gewesen – gerade dann, wenn der eigene Kandidat gegenüber der Amtsinhaberin klar zurückliegt.

Parteikompetenzen September 2009

Kompetenzen September

Quelle: Infratest dimap, DeutschlandTrend September 2009

Die Kombination von schlechten Kompetenzwerten und einem wenig überzeugenden Kandidaten kann das schwache Abschneiden der SPD also erklären – zumindest zum Teil. Wenn sich die Partei nun thematisch und auch personell neu aufstellt, zieht sie damit im Grunde die richtigen Schlüsse aus der Wahlniederlage. Allerdings ist zu bedenken, dass die Partei gerade im Wahlkampfendspurt in einigen Kompetenzbereichen noch leichte Zugewinne verbuchen konnte und auch der Spitzenkandidat zuletzt Boden auf die Kanzlerin gutmachen konnte. Ein tabula rasa könnte der SPD daher ebenso schaden wie ein „weiter so“. Dies alles spricht dafür, dass sich die Partei für die nötige Neuaufstellung Zeit nimmt und die anstehenden Entscheidungen mit Bedacht fällt.

 

Nur eine Frage der Definition? Wahlberechtigte mit Migrationshintergrund

Erstmals hat sich am gestrigen Freitag der Bundeswahlleiter zur Anzahl der Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund bei einer Wahl geäußert. Auf Grundlage von Daten des Mikrozensus 2007 kommt er auf insgesamt 5,6 Millionen. Das entspricht 9 Prozent aller Wahlberechtigten und damit wahrscheinlich mehr als bei jeder vorherigen Bundestagswahl. 2,6 Millionen seien Spätaussiedler, 2,1 Millionen eingebürgerte Zuwanderer. Hinzu kämen 290.000 Personen mit Migrationshintergrund, die in Deutschland geboren wurden sowie 566.000 Deutsche, die mindestens ein Elternteil mit Migrationshintergrund haben. Als Hauptherkunftsländer werden Polen mit 762.000, Russland mit 705.000, Kasachstan mit 442.000, die Türkei mit 327.000 in der ersten und 149.000 in der zweiten Generation sowie Rumänien mit 313.000 Personen genannt.

Die Gesamtzahl der Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund scheint damit höher zu sein als bislang angenommen. Ich selbst kam auf der Grundlage des Mikrozensus (MZ) 2005 auf schätzungsweise 4,1 Millionen Wähler mit Migrationshintergrund. Wie der Bundeswahlleiter machte ich die Sowjetunion und ihre Nachfolgestaaten (ca. 1 Million), gefolgt von Polen (ca. 500.000), der Türkei (ca. 500.000) und Rumänien (ca. 300.000) als wichtigste Herkunftsländer aus. Während also die Angaben für die Herkunftsländer sehr ähnlich sind, ergibt sich doch eine erstaunliche Differenz bei der Gesamtzahl der Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund.

Die Materie ist – zugegebenermaßen – komplex, denn im Mikrozensus wird, übrigens erst seit 2005, zwischen etlichen Personen(-gruppen) mit Migrationshintergrund differenziert. Da sind zunächst diejenigen mit eigener Migrationserfahrung und diejenigen ohne eigene Migrationserfahrung. Beide Gruppen kann man unter anderem danach differenzieren, ob die deutsche Staatsbürgerschaft ohne Einbürgerung oder erst durch Einbürgerung vorliegt. Auf der Grundlage des MZ 2005, der ein wenig verlässlicher über den Migrationshintergrund Auskunft geben kann als der MZ 2007, komme ich auf 7,7 Millionen Deutsche mit Migrationshintergrund. Da die Verteilung nach Altersgruppen für Wahlforscher ungünstig ausgewiesen wird (die 15- bis 20-Jährigen bilden eine Gruppe), kann die Zahl der Wahlberechtigten (also derjenigen ab 18 Jahren) auf der Grundlage der publizierten Ergebnisse nicht exakt beziffert werden. Ich kam und komme durch eine Schätzkalkulation für 2005 auf insgesamt 5,1 Millionen wahlberechtigte Deutsche mit Migrationshintergrund – nach der Definition „Migrationshintergrund“ des Mikrozensus. Es ist plausibel, dass sich diese Zahl seit 2005 auf nun 5,6 Millionen erhöht hat.

Nun vermute ich allerdings, dass die Zahl der Personen mit Migrationshintergrund im Mikrozensus zu hoch ist. Dabei bestehen überhaupt keine Probleme bei den Eingebürgerten und den Befragten mit Migrationshintergrund der zweiten Generation. Als problematisch betrachte ich aber die Gruppe der „Deutschen mit eigener Migrationserfahrung, die nicht eingebürgert wurden“. Diese Gruppe umfasst im MZ 2005 1,77 Millionen. Laut Definition des Mikrozensus fallen hierunter „Spätaussiedler, Flüchtlinge und Vertriebene deutscher Volkszugehörigkeit ohne Einbürgerung“. Diese Personen und Gruppen sind unzweifelhaft gewandert (größtenteils unter erheblichem Zwang), aber sollte man ihnen deshalb auch gleich das Etikett „Migrationshintergrund“ anheften? Durch den expliziten Ausschluss von Personen, die vor 1949 zugewandert sind und derjenigen, die vor 1949 mit ausschließlich deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurden, versucht der MZ immerhin, die Kriegsjahre und folgen auszuklammern. Ob dies dadurch gelingt, ist zumindest mir nicht klar. Aussiedler und (ab 1993) Spätaussiedler mussten sich jedenfalls bis Juli 1999 einbürgern lassen und fallen daher nach meinem Kenntnisstand in der Regel nicht in diese Gruppe. Wer aber dann?

Aufgrund dieses potenziellen Problems mit der Gruppendefinition „Deutsche mit eigener Migrationserfahrung, ohne Einbürgerung“ habe ich versucht, zu quantifizieren, wie viele Spätaussiedler seit 1999 ohne Einbürgerung nach Deutschland gekommen sind. Laut MZ 2005 sollten es für die Jahre 1999 bis 2004 („Deutsche mit eigener Migrationserfahrung, ohne Einbürgerung, seit weniger als 6 Jahren in Deutschland“) etwa 397.000 sein. Hinzu kommen für die Jahre 2005 bis 2009 weitere rund 50.000 Spätaussiedler (Annäherung, da addierte Zuzugszahlen). Dies sind gerade einmal knapp 450.000. Bei informierter Schätzung der Wahlberechtigten unter diesen 450.000 (exakte Zahlen liegen mir nicht vor) komme ich auf knapp 400.000 Deutsche mit eigener Migrationserfahrung, die seit 1999 nach Deutschland gekommen sind und nicht mehr formal eingebürgert wurden. Demnach kalkuliere ich auf der Basis des MZ 2005 rund 3,9 Millionen Wahlberechtigte mit Migrationshintergrund, zu denen ich noch diejenigen Deutschen hinzugerechnet habe, die nicht eingebürgert wurden, aber eine eigene Migrationserfahrung haben und aus binationalen Ehen stammen (199.000). Dies ergibt zusammen die von mir genannten 4,1 Millionen.

Alles nur definitorisches Klein-Klein oder lässt sich auch etwas schlussfolgern? Meiner Ansicht nach gibt es auf Grundlage des Mikrozensus 2005 mindestens 4,1 Millionen Wahlberechtigte mit Migrationshintergrund, für die diese Bezeichnung auch treffend ist. Berücksichtigt man die vom Bundeswahlleiter genannten Erstwähler auf der Grundlage des Mikrozensus 2007, dann haben nun möglicherweise 4,5 bis 4,6 Millionen Wahlberechtigte einen Migrationshintergrund. Dies ist eine konservative Schätzung – weniger Wahlberechtigte mit Migrationshintergrund wird es wohl nicht geben.

Ich will aber nicht ausschließen, dass die Zahl der Wähler mit Migrationshintergrund insgesamt höher ist und bis zu 5,6 Millionen – wie vom Bundeswahlleiter beziffert – beträgt. Als Wissenschaftler, der sich schon länger mit dem Thema beschäftigt, wären diese höheren Zahlen sogar eine hervorragende Nachricht und unterstrichen die Bedeutung dieses Forschungsbereichs. Andererseits ist mir, gerade als Wissenschaftler, die Definition der Gruppe „Deutsche mit eigener Migrationserfahrung, ohne Einbürgerung“ mit zu vielen Unwägbarkeiten behaftet, als dass ich bislang von der Validität dieser Gruppengröße überzeugt wäre. Es bedarf weiterer Informationen und wahrscheinlich eines Einblicks in die Daten des Mikrozensus (am besten, sobald dann die 2009er Daten vorliegen), um zu einer abschließenden Beurteilung zu kommen.

Letztlich ist es aber begrüßenswert, dass sich nun auch der Bundeswahlleiter der (wahlberechtigten) Bürger mit Migrationshintergrund angenommen hat. Dies könnte der Auftakt zu einer intensiveren Beschäftigung mit dieser Wählergruppe (siehe z.B. Skandinavien) sein. Ich würde sehr begrüßen, wenn es bald einmal Wahlbeteiligungsanalysen für diese Gruppe auf der Grundlage einer erweiterten Repräsentativen Wahlstatistik gäbe, denn über die Wahlbeteiligung in der Gruppe der Wahlberechtigten mit Migrationshintergrund wissen wir in Deutschland immer noch viel zu wenig.

 

Afghanistan – wieder ein außenpolitisches Thema zur heißen Wahlkampfphase?

Andrea Römmele In Wahlkämpfen, so die Forschung, spielen vor allem innenpolitische Themen und Positionen eine Rolle. Seit 1972, als die Ostpolitik Willy Brandts im Zentrum stand, gab es kaum einen Wahlkampf mehr, in dem ein außenpolitisches Thema heiß diskutiert wurde. Die einzige Ausnahme aus der jüngeren Vergangenheit war die Auseinandersetzung über den bevorstehenden Irak-Krieg im Jahr 2002. Gerhard Schröders SPD gelang es damals, sich als Stützpfeiler der „Friedensmacht“ Deutschland (so der Titel eines SPD-Plakates) zu präsentieren und damit zugleich die Wähler von der außenpolitischen Kompetenz der Partei zu überzeugen. Angesichts der heftigen Kritik, die die Regierung zuvor etwa für ihre Haltung im Kosovo-Krieg einstecken musste, war dieser außenpolitische Rückenwind nicht unbedingt zu erwarten. Die Umfragedaten von damals zeigen aber deutlich, welchen Stellenwert der bevorstehende Krieg im Irak im deutschen Wahlkampf hatte: Laut ARD-Deutschlandtrend vom September 2002 war für 47 Prozent der Befragten die Außen- und Sicherheitspolitik ein wichtiges Thema, 74 Prozent lehnten einen US-Militärschlag im Irak ab. Schröders Nein hat diese Wähler mobilisiert und SPD und Grünen die entscheidenden Stimmen für die Fortsetzung der Koalition eingebracht.

Und jetzt? Haben wir mit dem unglaublich bedauerlichen Zwischenfall in Afghanistan wieder einen solchen Fall im Wahlkampf? Wohl kaum. Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan, der ebenfalls noch während der Zeit der rot-grünen Regierung beschlossen wurde, wird nur von der Linken offen abgelehnt. Alle anderen Parteien tragen diesen Einsatz mit, der Spielraum für grundsätzliche Auseinandersetzungen ist damit weit weniger groß als 2002. Das Reden von einer „Exit-Strategie“ für die Bundeswehr in Afghanistan ist weder realpolitisch noch emotional mit einem Nein zum Irak-Krieg gleichzusetzen.

Dennoch ist der Afghanistan-Einsatz ein Thema, das nicht ignoriert werden darf. Eine klare Mehrheit von 69 Prozent der Deutschen war schon im Juli für einen schnellen Abzug, die Tendenz ist steigend. Wenn der Bevölkerung also nicht vermittelt werden kann, warum dieser Einsatz wichtig und notwendig ist, werden sowohl die Partei der Kanzlerin als auch die des Außenministers Einbußen hinnehmen müssen. Es gibt daher gerade für Union und SPD zwar nur wenig zu gewinnen, aber viel zu verlieren. Die Aufarbeitung der jüngsten Geschehnisse in Afghanistan ist somit nicht Teil der außenpolitischen Kür der Regierung, sondern einfach ihre Pflicht.

 

Wer versteht die Bundesregierung? Die Webseiten der Bundesregierung im Verständlichkeitstest

Dass die Bedeutung der politischen Online-Kommunikation von Parteien und Politikern stetig zunimmt, dürfte heute als Konsens bezeichnet werden können. Dass diese Online-Kommunikation gerade in Wahlkampfzeiten aber besonders wichtig ist, hat nicht zuletzt der beeindruckende Wahlkampf und Wahlerfolg von Barack Obama in den USA gezeigt. Auch die deutschen Parteien haben auf diese Entwicklung reagiert und zur Bundestagswahl ausnahmslos aufwändige Kampagnen-Portale gestartet. Und die amtierende deutsche Bundeskanzlerin ist die erste Regierungschefin der Bundesrepublik, die einen regelmäßigen Video-Blog im Internet betreibt. Zweifellos scheint die Chance der direkten und ungefilterten Ansprache der Wähler über das Internet von der deutschen Politik erkannt worden zu sein. Doch schlägt sich diese Erkenntnis auch in einer angemessenen Ansprache der Zielgruppe nieder? Gelingt es der Politik, die Übersetzungsleistung der Medien zu kompensieren und sich bei der direkten Ansprache ihrer Wählerschaft verständlich zu machen?

Kommunikationswissenschaftler der Universität Hohenheim sind dieser Frage nun erstmals nachgegangen. Als Forschungsobjekt haben sie hierbei die Online-Auftritte der Bundesregierung unter die Lupe genommen. Denn: Keine andere politische Institution in Deutschland verfügt über mehr Ressourcen, um einen angemessenen Online-Auftritt zu realisieren, als Kanzleramt und Bundesministerien. Trotzdem stießen die Forscher bei ihrer Recherche schnell auf Wort- und Satzungetüme, die darauf schließen lassen, dass eine institutionalisierte Verständlichkeitsprüfung der veröffentlichten Webseiten-Texte in den meisten Berliner Ministerien keinesfalls Gang und Gäbe ist. Ein Beispiel gefällig? „Das Bundeskabinett hat heute den Entwurf einer Formulierungshilfe für einen Änderungsantrag zur Ausweitung der Schutzklausel bei der Rentenanpassung beschlossen.“ Nominalstil in Reinkultur, entnommen aus dem Info-Text „Schutz vor Rentenkürzungen“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales.

Dass es auch anders geht, bewiesen die Hohenheimer Forscher ebenfalls: Alle untersuchten Texte wurden in ihrer Verständlichkeit optimiert. Aus dem obigen Satzbeispiel wurde so beispielsweise: „Die Bundesregierung hat heute den Entwurf zu einem Gesetz beschlossen, das die Höhe der Rente schützen soll.“ Diese optimierten Text-Versionen wurden ebenso wie die Original-Texte zwei Gruppen von Probanden zur Bewertung und zum anschließenden Ausfüllen von Verständnistests vorgelegt. Das Ergebnis dieses Experiments: Bei allen optimierten Texten konnte die subjektive Verständlichkeitsbewertung sowie das objektive Verständnis signifikant verbessert werden. Der Optimierungseffekt betrug hierbei teilweise bis zu 56 Prozent.

Quelle: Universität Hohenheim. Die Graphik kann durch Anklicken vergrößert werden.

Ein weiteres Ergebnis der Untersuchung sollte die Verantwortlichen in den Ministerien besonders hellhörig werden lassen: Alle untersuchten Wählergruppen, ob mit hoher oder niedriger Bildung, mit hohem oder niedrigem politischen Wissen, profitierten in ähnlicher Weise von den verbesserten Texten. Selbst die Stärke der Parteiidentifikation wirkte sich nicht systematisch und in der erwarteten Richtung auf den Optimierungseffekt aus. Im Gegenteil: Der Optimierungseffekt lag bei den stark Parteigebundenen in vielen Fällen sogar höher als bei den schwachen Parteianhängern und den Parteilosen. Eine Verständlichkeitsoptimierung politischer Webseiten wäre demnach keineswegs eine Nischen-Strategie für bestimmte Teilgruppen der User, sondern würde mit hoher Wahrscheinlichkeit der gesamten Nutzer-Gemeinde zugute kommen; eine Perspektive, die sicher nicht nur Demokratietheoretiker interessieren dürfte.

 

Die Schicksalsfrage

Die Bildungspolitik ist traditionell ein prominentes Wahlkampfthema. Zur Bundestagswahl 2009 jedoch scheint sich nun jedoch ein Sprung in die Riege jener Themen abzuzeichnen, die nicht nur eifrig diskutiert werden, sondern tatsächlich wahlentscheidend sind. Einer Forsa-Studie für die Zeitschrift „Eltern“ zufolge schreiben 86 Prozent der Befragten dem Bereich „Familie, Kinder, Bildung“ einen mindestens genauso großen Stellenwert zu, wie den klassischen Wahlkampfschlagern Arbeit und Wirtschaft. Für die repräsentative Umfrage wurden Eltern minderjähriger Kinder interviewt, es handelt sich also um eine auch zahlenmäßig starke (Ziel-)Gruppe.

Die Politik hat sich darauf eingestellt: Bildung ist fester Bestandteil der aktuellen Plakatkampagnen der Parteien und die Spitzenpolitiker betonen gebetsmühlenartig den besonderen Stellenwert von Schule, Kinderbetreuung und Ausbildung. Angela Merkel hat bereits im Jahr 2008 ein deutliches Zeichen gesetzt und die „Bildungsrepublik Deutschland“ zu einem zentralen Projekt ihrer Regierung erklärt. Dieses Ziel ist nun eine tragende Säule ihres Wahlkampfes. Ihr Herausforderer Frank-Walter Steinmeier hält die Bildungspolitik gar für die „Schicksalsfrage der Nation“, und die Oppositionsparteien prangern erwartungsgemäß Versäumnisse der Großen Koalition in diesem Bereich an.

Da ist es nicht weiter verwunderlich, dass Studien und Statistiken aus dem Bereich der Bildungsforschung schnell Eingang in den Wahlkampf finden. So lesen etwa die Unionsparteien die Ergebnisse des jüngst erschienenen „Bildungsmonitors“ der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft als Bestätigung ihrer Bildungspolitik – immerhin belegen von ihnen regierte Länder die ersten fünf Plätze der Tabelle. Aus sozialdemokratischer Perspektive hingegen zieht man den Blick auf das „Dynamik-Ranking“ vor, das die relativen Verbesserungen der Länder abbildet. Hier liegen auch einige sozialdemokratisch geführte Länder auf den vorderen Plätzen und das rot-schwarz-geführte Mecklenburg-Vorpommern steht mit weitem Abstand an erster Stelle. Ein schöner Zufall für die Sozialdemokraten ist zudem, dass dort Manuela Schwesig als Sozialministerin wirkt – jene Frau also, die als Shootingstar im Kompetenzteam Steinmeiers gehandelt wird.

Gesamtbewertung der Bundesländer im Zeitablauf

Quelle: Bildungsmonitor der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (Graphik kann durch Anklicken vergrößert werden)

Just sie hat aber jüngst betont, was sonst gerne übersehen wird: Dass es nämlich zwischen den einzelnen Bereichen der Sozialpolitik nicht nur viele Berührungspunkte, sondern auch Grenzen gibt. Ihr ging es um den Unterschied zwischen Frauen- und Familienpolitik; für die Bildungspolitik ist diese Erkenntnis aber mindestens ebenso zutreffend. Wirtschaft, Integration, Familienförderung, Arbeitsmarkt, Demographie – all diese Themen und die damit verbundenen Probleme werden derzeit mit der Bildungspolitik verbunden. Politiker aller Parteien versprechen schnelle Besserung hier durch bessere Bildung da. Selten wird jedoch erwähnt, dass Kitas, Kindergärten, Schulen, Hochschulen und Ausbildungsbetriebe mit diesem Aufgabenkatalog überfordert sein könnten. Im Wahlkampf spielt das meist nur eine Rolle, wenn es um die unzureichende Ausstattung der Einrichtungen oder die Frage der Finanzierung geht.

Am Geld alleine jedoch kann es nicht liegen, der „Bildungsmonitor“ konnte keinen Zusammenhang zwischen dem BIP eines Landes oder dem Einkommen seiner Bürger und seiner Leistung im Bildungsbereich feststellen. Eher lässt sich sogar die leichte Tendenz ausmachen, dass die wirtschaftlich schwächeren Länder etwas bessere Werte erzielen, wobei hierbei natürlich verschiedenste regionale Besonderheiten zu berücksichtigen sind. Nichtsdestotrotz weist dies darauf hin, dass es der Politik oftmals nicht nur am Geld, sondern auch an den passenden Konzepten fehlt.

Und so spitzt sich die Debatte derzeit auf eine wahlkampftaugliche Ja-oder-Nein-Frage zu: Soll der Bund in der Bildungspolitik wieder mehr Einluss erhalten? 91 Prozent der von Forsa befragten Eltern befürworten das. Die SPD nutzt die Gunst der Stunde und macht sich für die Abschaffung des Kooperationsverbotes zwischen Bund und Ländern stark – obwohl sie es im Rahmen der Föderalismusreform (nach einigen Protesten) mitgetragen hat.

Die Themenhoheit im Bereich der Bildungspolitik ist zwischen den Parteien hart umkämpft. Das ist keine besonders gute Voraussetzung für einen inhaltlichen Austausch jenseits plakativer Forderungen und polarisierender Debatten. Trotzdem sollte man versuchen, die derzeitige Prominenz des Themas für zukunftsweisende Reformprojekte zu nutzen.

 

Adoptionsrecht für alle Eltern – oder: die SPD auf der Suche nach verlorengegangener Themenhoheit

Familienpolitik, Frauenförderung, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf waren traditionell Themen, die die SPD für sich beansprucht hat und hier sowohl inhaltlich als auch medial betrachtet die Themenhoheit genoß. Bis Ursula von der Leyen in den bundespolitischen Ring stieg. In der Wahlkampfforschung wird sie als das Paradebeispiel für die gelungene Kombination von Person und Themen angesehen. Sie vermittelt hohe Expertise und Glaubwürdigkeit. Ihr ist es zu verdanken, dass die CDU das traditionell rot besetzte Thema für sich gewinnen konnte.Dies macht auch eine Umfrage von infratest dimap aus dem Jahr 2008 deutlich: 37% der Befragten trauen der CDU zu eine gute Familienpolitik zu machen, während nur 26% weiterhin der SPD vertrauen.

Vor diesem Hintergrund sind die aktuellen, mühsamen Versuche der SPD zu sehen, nun auch für Regenbogenfamilien das Adoptionsrecht zuzulassen. Die SPD beruft sich hierbei auf eine wissenschaftliche Studie des Bayerischen Staatsinstitut für Familienforschung an der Universität Bamberg und des Staatsinstituts für Frühpädagogik in München (näheres hierzu hier) aus der hervorgeht, dass Kinder in Regenbogenfamilien keine Nachteile haben. Bereits vor drei Wochen sahen wir den ersten krampfhaften Versuch der SPD, das Familienthema zurückzuerobern: die Super-Nanny Katharina Saalfrank stieg in den SPD-Wahlkampf ein. Frei nach dem Motto „get them where they are“ werden Wählerinnen und Wähler dort abgeholt, wo sie sich befinden. Dennoch war der Nachhall durchaus zweischneidig, denn die Grenze zwischen Infotainment und seriöser Politik (und seriösem Wahlkampf) ist eben fließend.
Mit dem Aufruf von Brigitte Zypries, das Adoptionsrecht auch für eingetragene Lebenspartnerschaften zu öffnen, versucht die SPD erneut, das Politikfeld Familie zu besetzen und damit Wählerstimmen zurück zu gewinnen. Zweifelsohne, dies ist ein wichtiges Thema – und sollte auch durchgesetzt werden – aber mit Verlaub gesagt ist damit allein kein Wahlkampf zu machen und schon gar nicht zu gewinnen. Es sind andere Themen, die die Wahl entscheiden werden – und hier sollte sich die SPD schleunigst dransetzen.

 

Wie die Wirtschaftskrise doch noch die Wahl beeinflussen kann

Die Wirtschaftskrise nutzt bisher vor allem der Union. Aber wenn die Arbeitslosigkeit deutlich steigt und die Angst in der Bevölkerung wächst, könnte sich das ändern.

Auf die Finanzkrise folgte die staatliche Bankenrettung; auf die Wirtschaftskrise folgten staatliche Bürgschaften für Unternehmen. Der Staat greift wieder aktiv ein, nach sozialdemokratischer Manier. Gegeißelt werden „gierige“ Manager, der Kapitalismus gerät in die Kritik. Was läge da näher als Verluste für bürgerliche Parteien, die zumeist als wirtschaftsnah gelten, und Gewinne für linke Parteien?

Fortsetzung hier auf Zeit Online.

 

(K)ein Wahlkampf mit der Rente?

Es gibt schätzungsweise 24,7 Millionen Rentner in Deutschland – eine Zahl, die Medien, Unternehmen und Parteien gleichermaßen beeindruckt. Sie alle sehen hier wichtige Zielgruppen, die es zu umwerben gilt. Insgesamt sind im September nun 62,2 Millionen Menschen zur Wahl aufgerufen und zwei von fünf Wahlberechtigten sind Rentner.

Das eigentlich Überraschende an der momentanen Rentendebatte ist somit auch nicht, dass sie stattfindet. Interessanter war da schon der Versuch der Parteien im Vorfeld, einen rentenpolitischen „Burgfrieden“ zu erreichen und das Thema mittels einer Rentengarantie aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Diese Pläne hat Finanzminister Peer Steinbrück nun jäh durchkreuzt und man fragt sich, ob es jenseits seiner inhaltlichen Einwände gegen eine Garantie in der Rentenversicherung auch wahltaktische Motive für diesen Schritt gibt.

Die Union kommt zumindest nicht aus der Deckung und behandelt das Thema mit großer Vorsicht. Gab es in den letzten Jahren – zumeist aus den Reihen der Jungen Union – kritische Vorstöße zur Frage des Ausgleichs zwischen den Generationen, ist die Partei im nun anstehenden Wahlkampf um Geschlossenheit bemüht. Kein Wunder, profitiert sie doch mit weitem Abstand am stärksten von einer Wahlbeteiligung der Rentner. Bei der Europawahl hat annähernd jeder zweite, der zur Urne gegangen ist, sein Kreuz bei den Unionsparteien gesetzt. Hinzu kommt, dass die Wahlbeteiligung unter Rentnern eher überdurchschnittlich hoch ist – würde der Anteil der Union stabil bleiben, so könnte die Partei konservativ geschätzt 20 Prozentpunkte allein durch die Stimmen der Rentner gewinnen.

Was Rentner wählen…

Ergebnis der Europawahl in Prozent. Quelle: Konrad-Adenauer-Stiftung.

Auch die SPD wurde von überdurchschnittlich vielen Rentnern gewählt, auch für sie handelt es sich also um eine wichtige Zielgruppe. Es ist daher nicht anzunehmen, dass Steinbrück dies ignoriert hat, als er sich als „Anwalt der Jungen“ dargestellt und auf die Frage der Generationengerechtigkeit hingewiesen hat. Unwahrscheinlich ist aber auch, dass er in der Gruppe der Rentner adressieren und eine Diskussion über dieses Thema anstoßen wollte. Schließlich gelten Rentner, etwa in Milieu-Studien, als traditionsverwurzelt und sind mehrheitlich als klassische Stammwähler einzuordnen.

Vielleicht war Steinbrücks Initiative tatsächlich nicht als Wahlkampfthema angelegt – genau das ist aber nun daraus geworden…