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Warum ist der Ausgang von Wahlen trotz schwankender Umfrageergebnisse vorhersagbar?

Umfragen vor oder zu Beginn eines Wahlkampfes sind notorisch ungenau und meist erst kurz vor dem Wahltag relativ aussagekräftig. Paradoxerweise ist der Ausgang einer Wahl bereits Wochen bzw. Monate vor dem Wahltag vorhersehbar, zumindest so genau, wie es Umfragen am Tag vor der Wahl ermitteln könnten. Warum fluktuieren Umfragewerte so stark, wenn Wahlen dann doch vorhergesagt werden können? Ist der Wahlkampf somit unnötig? Nein. In einem Bundestagswahlkampf wird normalerweise keines der jeweiligen Lager eindeutig vom Wahlkampf profitieren können, sofern nicht einer Seite das Geld ausgeht (bei weniger wichtigen Landtags- oder Kommunalwahlen ist das anders). Im Wahlkampf werden der Wählerschaft Informationen und Handreichungen gegeben, mit Hilfe derer sie ihre Wahlentscheidungen treffen können. Die „Überzeugungstäter“ müssen motiviert werden zur Wahl zu gehen, die „Unparteiischen“ mit politischen Angeboten überzeugt und die „Apathischen“ auch mit unpolitischen Image-Kampagnen politisch „verführt“ werden. Aus der akademischen Wahlforschung wissen wir, dass Wahlentscheidungen nicht beliebig fabriziert werden können wie der Absatz von Zahnpasta, sondern sich aus fundamentalen Bestimmungsfaktoren zusammensetzen, wie z. B. der Bewertung von politischen Parteien, Kandidaten sowie politischen Themen.

Die Handreichungen im Wahlkampf helfen den Wählerinnen und Wählern, sich wieder politisch ins Tagesgeschäft einzuschalten und sich zu orientieren. Dabei lernen sie den Wert dieser fundamentalen Bestimmungsfaktoren erneut kennen, falls sie es in der wahlkampfarmen Zeit vergessen haben sollten. Neben dieser Erinnerungsfunktion, die der Wahlkampf für die „Überzeugungstäter“ bietet, biete sich hier eine weitere Möglichkeit, durch die Ausgestaltung der Kampagne bei den „Unparteiischen“ eine Gewichtsverschiebung dieser fundamentalen Bestimmungsfaktoren zu erreichen. Für den einen kann ein politisches Thema vorrangig sein, für andere kann die Bewertung eines Kandidaten wichtiger sein als die der zugehörigen Partei. Erst wenn politische Kampagnen bestimmte, einfach verfügbare Bewertungskriterien liefern, die bei den noch unentschiedenen unparteiischen Wählern zu einer anderen Gewichtung der fundamentalen Bestimmungsfaktoren oder ihrer Erwartung über den Wahlausgang führt, kann sich die Wahlentscheidung dieser Wähler bis zum Wahltag noch ändern.

Die akademische Wahlforschung kann Angebote machen, wie ihre Expertise hinsichtlich der Erklärung individueller Entscheidungsprozesse sowie der Entwicklung von Vorhersagemodellen genutzt werden kann, um die Schwächen von Umfragen als Mittel zur Beurteilung politischer Kampagnen auszugleichen. Beispielsweise haben schon vor einem halben Jahrhundert die Autoren der „Bibel“ der Wahlforschung The American Voter mit ihren Modellen die tatsächliche Wahlentscheidung von Befragten vor einer Wahl genauer vorhersagen können, als es die Befragten selbst zu diesem Zeitpunkt konnten. Die Umfragen vor der Wahl lieferten also damals schon ein verschwommeneres Bild als die statistischen Modelle der Godfathers der Wahlforschung. Warum ist das so? Politikwissenschaftliche Modelle des Wahlverhaltens messen die fundamentalen Bestimmungsfaktoren und können daher prinzipiell Vorhersagen über das Wahlverhalten treffen. Der einzelne Befragte hingegen muss sich die Antwort auf die Wahlabsichtsfrage in der Interviewsituation immer wieder selbst zusammenreimen. Erfahrungsgemäß werden lange vor einer Wahl nicht unbedingt diese fundamentalen Bestimmungsfaktoren dafür verwendet. Der einzelne lernt gewissermaßen diese Faktoren im Laufe des Wahlkampfes erst wieder kennen und wird sie dann für seine Wahlentscheidung heranziehen.

Im Hinblick auf die Prognose von Wahlen gibt es mittlerweile auch eine Reihe vielversprechender Ansätze, die nicht nur auf Interpretationen des Antwortverhaltens von Befragten auf die hypothetische „Sonntagsfrage“ beruhen. Auf der Basis von nur drei Faktoren – Kanzler(innen)popularität, Wählerrückhalt der Regierungsparteien und Abnutzung einer jeweiligen Regierung im Amt — konnte ein von Helmut Norpoth und mir entwickeltes Modell den Stimmenanteil der amtierenden Regierungskoalition bei den letzten beiden Bundestagswahlen 2002 und 2005 (in diesen Fällen also SPD/Grüne) einen Monat vor dem jeweiligen Wahltag genauer vorhersagen als es die Umfragen zum Teil noch mit ihren 18-Uhr-Prognosen am Wahlabend vermochten. Auch für diesen Herbst werden wir eine Prognose erstellen. Mehr dazu am kommenden Sonntag.

 

(K)ein Wahlkampf mit der Rente?

Es gibt schätzungsweise 24,7 Millionen Rentner in Deutschland – eine Zahl, die Medien, Unternehmen und Parteien gleichermaßen beeindruckt. Sie alle sehen hier wichtige Zielgruppen, die es zu umwerben gilt. Insgesamt sind im September nun 62,2 Millionen Menschen zur Wahl aufgerufen und zwei von fünf Wahlberechtigten sind Rentner.

Das eigentlich Überraschende an der momentanen Rentendebatte ist somit auch nicht, dass sie stattfindet. Interessanter war da schon der Versuch der Parteien im Vorfeld, einen rentenpolitischen „Burgfrieden“ zu erreichen und das Thema mittels einer Rentengarantie aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Diese Pläne hat Finanzminister Peer Steinbrück nun jäh durchkreuzt und man fragt sich, ob es jenseits seiner inhaltlichen Einwände gegen eine Garantie in der Rentenversicherung auch wahltaktische Motive für diesen Schritt gibt.

Die Union kommt zumindest nicht aus der Deckung und behandelt das Thema mit großer Vorsicht. Gab es in den letzten Jahren – zumeist aus den Reihen der Jungen Union – kritische Vorstöße zur Frage des Ausgleichs zwischen den Generationen, ist die Partei im nun anstehenden Wahlkampf um Geschlossenheit bemüht. Kein Wunder, profitiert sie doch mit weitem Abstand am stärksten von einer Wahlbeteiligung der Rentner. Bei der Europawahl hat annähernd jeder zweite, der zur Urne gegangen ist, sein Kreuz bei den Unionsparteien gesetzt. Hinzu kommt, dass die Wahlbeteiligung unter Rentnern eher überdurchschnittlich hoch ist – würde der Anteil der Union stabil bleiben, so könnte die Partei konservativ geschätzt 20 Prozentpunkte allein durch die Stimmen der Rentner gewinnen.

Was Rentner wählen…

Ergebnis der Europawahl in Prozent. Quelle: Konrad-Adenauer-Stiftung.

Auch die SPD wurde von überdurchschnittlich vielen Rentnern gewählt, auch für sie handelt es sich also um eine wichtige Zielgruppe. Es ist daher nicht anzunehmen, dass Steinbrück dies ignoriert hat, als er sich als „Anwalt der Jungen“ dargestellt und auf die Frage der Generationengerechtigkeit hingewiesen hat. Unwahrscheinlich ist aber auch, dass er in der Gruppe der Rentner adressieren und eine Diskussion über dieses Thema anstoßen wollte. Schließlich gelten Rentner, etwa in Milieu-Studien, als traditionsverwurzelt und sind mehrheitlich als klassische Stammwähler einzuordnen.

Vielleicht war Steinbrücks Initiative tatsächlich nicht als Wahlkampfthema angelegt – genau das ist aber nun daraus geworden…

 

Sind Umfragen das Allheilmittel zur Begleitung politischer Kampagnen?

Wir können uns glücklich schätzen, dass uns für die professionelle Begleitung politischer Kampagnen in der Bundesrepublik mehrere sehr gute Meinungsforschungsinstitute zur Verfügung stehen. Viele Institute externalisieren auch in einem gewissen Maß die Qualitätskontrolle ihrer Datenerhebung, weil sie sogar nach einiger Zeit ihre Rohdaten der interessierten wissenschaftlichen Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Diese potentielle Möglichkeit einer Kontrolle – auch wenn sie erst im Nachhinein geschehen kann – ist ein großer Fortschritt, der uneingeschränkt zu begrüßen ist. Die Institute sehen sich bei der Durchführung von Umfragen vielen praktischen Herausforderungen gegenüber (einzelne wurden exemplarisch von Andreas Wüst und anderen in diesem Blog bereits thematisiert), die üblicherweise nicht in akademischen Lehrbüchern zu finden sind und die sie trotz widriger Randbedingungen erfolgreich meistern.
Jedoch selbst in einer perfekten Umfrageforschungswelt mit einer wirklich zufällig realisierten Stichprobe, guten Frageinstrumenten sowie erreichbaren und auskunftswilligen Befragten sind Schlussfolgerungen, die auf Umfragedaten basieren, mit Vorsicht zu genießen. Eigentlich benötigen sie einen Beipackzettel (siehe dazu auch meinen letzten Blog-Beitrag). Das gilt insbesondere dann, wenn für ein bestimmtes Merkmal (etwa die beabsichtigte Wahl einer Partei) Veränderungen über die Zeit hinweg interpretiert werden sollen: „Steht die SPD besser da als vor zwei Wochen? Hat die FDP doch keinen Nutzen aus XY ziehen können?“
Ein großer Teil der beobachteten Veränderungen im Zeitverlauf ist nicht real, sondern rein zufällig und statistisch bedingt, weil eben nicht alle Wahlberechtigten befragt werden (können), sondern bestenfalls nur ein zufälliger Teil. Aus der Wahrscheinlichkeitstheorie wissen wir, dass wir, um eine Veränderung von einem (bzw. zwei) Prozentpunkt(en) mit 99 %-iger Sicherheit feststellen zu können, etwa einen Stichprobenumfang von 100.000 (bzw. 25.000) Befragten benötigen. Umfragedaten für solche präzisen Angaben kann und will natürlich niemand bezahlen. Typische Umfragen werden bei 1.000 bis 2.000 Befragten erhoben. Begnügt man sich mit einer Sicherheit von 90 %, dann genügen 2.000 Befragte einer perfekt realisierten Zufallsstichprobe bestenfalls, um eine Veränderung von 5 Prozentpunkten festzustellen.
Als Fazit bleibt daher festzuhalten: Die Anzahl der Befragten ist zu klein, um reale Veränderungen der aktuellen Stimmungslage in typischen Umfragen, wie sie vor der Bundestagswahl gemacht werden, zu entdecken. Trotzdem werden in den Medien vermeintliche Trends aufgezeigt und oft ad hoc interpretiert, als seien sie real. Mit der Berichterstattung über Umfragen wird so aufgrund bestimmter Anreizstrukturen der Medienlandschaft (Change ist sexy – wenn nichts passiert, kann man auch nichts berichten) ein künstlicher Hype produziert, den die Politik auch für sich instrumentalisieren kann. Man muss sich aber darüber im Klaren sein, dass dies mit einer Beschreibung und Interpretation der aktuellen Stimmungslage dann nichts mehr zu tun hat.

 

Stimmung und Stimmen sind zwei paar Stiefel: Das Elend mit der sogennanten „Sonntagsfrage“

Jetzt kommt sie wieder, die Zeit der Balken- und Kuchendiagramme. Die Berichterstattung zu Umfragen wird sich in den kommenden Wochen drastisch erhöhen. Man wird darüber lesen dürfen, wie viele Prozentpunkte eine Partei in den Umfragen zulegen konnte und wie viel eine anderen Partei dafür gesunken ist (siehe auch den Beitrag von Thorsten Faas). Grundlage dieser Berichterstattung bildet die sogennante „Sonntagsfrage“, die in repräsentativen Bevölkerungsumfragen den entsprechenden Zielpersonen regelmäßig gestellt wird. Der Fragetext ist der folgende: „Welche Partei würden Sie wählen, wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre?“ Der alte Sponti-Spruch als Antwort auf diese Frage „Woher soll ich das wissen? Heute ist erst Montag!“, hat durchaus auch einen ernsten Hintergrund. (Wir haben in diesem Blog schon einiges über die zunehmend spätere Wahlentscheidung der Wählerinnen und Wähler lesen können.) Eigentlich soll mit dieser Frage die Wahlabsicht der Befragten bei der nächsten Bundestagswahl gemessen werden. Allerdings kann aus der jetzigen Absicht die eine oder die andere Partei im September zu wählen noch nicht unmittelbar auf das tatsächliche Verhalten der Wähler geschlossen werden. Das wäre dann doch zu einfach.

Das Hauptproblem damit: Kommenden Sonntag ist gar keine Bundestagswahl! Wie sollen Befragte, die womöglich eher an den nächsten Urlaub als an die kommende Bundestagswahl denken, auf so eine Frage antworten? Selbst wenn sie sich für Politik interessieren und den Wahlkampf intensiv verfolgen, so geht es doch in dieser Frage um kein reales Verhalten, sondern um eine Absicht zu einem rein hypothetischen „Was wäre, wenn…“. Solche Fragen sind immer schwierig zu beantworten.

Und man stelle sich bitte auch immer die Interviewsituation vor. Mich selbst hat es schon bei der Essenszubereitung erwischt. „Guten Abend, haben Sie einen Moment Zeit für ein paar Fragen?“ Kurze Überlegung, während Kind 1 im Kinderstuhl sitzt und lauthals schreit, Kind 2 auf dem linken Arm zappelt und ich mit der rechten Hand die Tomatensoße umrühre, den Telefonhörer zwischen Ohr und Hals eingeklemmt. Aber als Umfragen-Junkie kenn ich keine Gnade und habe natürlich eingewilligt.

Viele Befragte bemühen sich genau wie ich damals, trotzdem eine Antwort auf jede noch so schwierige Frage zu geben. Dabei kann es durchaus vorkommen, dass dieselbe Frage von ein und demselben Befragten zu einem späteren Zeitpunkt durchaus anders beantwortet würde. Es ist daher kein Wunder, dass die Antworten auf solche Fragen von einem Zeitpunkt zum nächsten variieren ohne sich dabei wirklich geändert zu haben.

Die sogenannte „Sonntagsfrage“ – obwohl sie eigentlich treffender als „Wahlabsichtsfrage“ bezeichnet werden sollte – kann aber zumindest die aktuelle Stimmungslage der Menschen wiedergeben. Allerdings sollte auf jeden Fall auf den Beipackzettel zu Nebenwirkungen im Umgang mit Umfragen geschrieben stehen, dass auf Basis der Wahlabsichtsfrage alleine noch keine Vorhersage darüber gemacht werden kann, wie viele Stimmen eine Partei am Wahltag tatsächlich am Wahltag erzielen kann. Stimmungen sind eben noch keine Stimmen am Wahltag. Wahlprognosen können anders gemacht werden. Mehr dazu später.

 

Aktueller Wahlkampfwasserstand: Ruhe vor dem Sturm

Das Fahrwasser ist aktuell noch ziemlich ruhig – vor allem wählerseitig ist der Wahlkampf noch vergleichsweise weit weg. „Die Ferien, nicht die Wahlen sind wichtig“, könnte man sagen. Online-Umfragen im Vorfeld der Europawahl haben gezeigt, dass bislang kaum eine Politisierung der Wählerschaft zu beobachten ist. Nur jeder fünfte Wähler hat sich demnach für den Europawahlkampf interessiert. Auch seit dem lassen sich keine Anzeichen zunehmender Politisierung finden.

Aber: Das ist eher die Ruhe vor dem Sturm: Die Parteien (und auch die Wähler) rollen sich erst langsam warm – ganz wie bei einer Flachetappe der Tour de France (die Europawahl wäre demnach etwa ein eher müder Zwischensprint oder aber eine Bergwertung der Kategorie 4 gewesen). Die Musik spielt dabei am Ende – und so wird es auch dieses Mal sein: In der gleichen Umfragen vor der Europawahl sagen rund zwei Drittel der Befragten, dass der Ausgang der Bundestagswahl für Sie wichtig ist. Ein Politisierungspotenzial ist eindeutig vorhanden.

Dass moderne Wahlkämpfe erst spät in Fahrt kommt (und auch immer Wähler sich erst spät entscheiden), zeigt auch ein Blick zurück auf die Wahl 2005. Erst mit dem TV-Duell zwei Wochen vor der Wahl hat die SPD ihren Wahlkampf (und ihre Attacken v.a. auf Kirchhof) massiv intensiviert – und damit ist es ihr gelungen, eigene Anhänger zu mobilisieren und ihre Aufholjagd zu beschleunigen. Umfragen aus dem damaligen Wahlkampf zeigen, dass die Wähler – nach eigenen Angaben – sich spät entschieden haben: Jeder zehnte Wähler hat sich erst am Wahltag selbst entschieden; insgesamt ein Viertel der Wähler in den Tagen vor der Wahl (einschließlich des Wahltags). Die Aufholjagd der SPD ebenso wie das überraschend starke Abschneiden der FDP, das waren beides Ergebnisse sehr später Bewegungen.

Allerdings ist die Situation für die Regierungsparteien – und hier insbesondere für die SPD, die aktuell sicherlich noch den größten Mobilisierungs- und Überzeugungsbedarf hat – schwieriger als 2005: Es ist ein schmaler Grat zwischen Mobilisierung und Kabinettsdisziplin, Wahlkampf und Regierungskooperation. Die Politisierung von Themen fällt ihr bislang schwer und man darf gespannt sein, wie sich die SPD hier thematisch und personell in den kommenden Wochen aufstellt, um diesen Balanceakt zu meistern. Je näher der Wahltag aber rückt, umso legitimer wird es, Wahlkampf zu führen. Das Unbehagen, das auf allen Seiten – Parteien, Medien, Wählern – sowohl im Kontext von Arcandor als auch jetzt im Zuge von Krümmel noch zu beobachten ist, wird dann nachlassen. Der Wahlkampf wird in Schwung kommen – und die Wähler werden bereit sein.

 

Klimawandel und Krümmel – die umweltpolitischen Positionen der Parteien im Bundestagswahlkampf 2009

Umweltpolitik gilt als klassisches Beispiel für ein Themenfeld, das in wirtschaftlichen Krisenzeiten für Wähler wie auch für Parteien in den Hintergrund rückt. Nun ist es nicht nur durch die Klimawandeldebatte, sondern auch durch die Störfälle im Kernkraftwerk Krümmel – Vattenfall sei dank – wieder auf der politischen Agenda aufgetaucht.

Welchen Stellenwert hat das Thema Umweltpolitik in längerfristiger Perspektive? Dazu kann zunächst die Häufigkeit der Nennung positiver Aussagen zum Thema „Umweltschutz“ in den Wahlprogrammen von Union, SPD, FDP und Grünen heranziehen. Eine solche langfristige Perspektive liefert das „Comparative Manifesto Project“ (CMP; vgl. Budge et al. 2001; Klingemann et al. 2006), in dessen Rahmen die Wahlprogrammen von Parteien per manueller Inhaltsanalyse erfasst werden – auch unter umweltpolitischem Blickwinkel. Wie die Daten zeigen, geriet das Thema Umweltschutz vor allem zu den Wahlen 1987 und 1990 – und damit nach der Tschernobyl-Katastrophe – in den Fokus der programmatischen Debatte. Dies gilt nicht nur für die Grünen, sondern auch für die SPD, die CDU/CSU und auch die FDP. Nach diesen Zahlen thematisierte das SPD-Wahlprogramm 1990 nahezu in jedem vierten Satz das Thema Umweltschutz in positiver Weise. Während der 1990er Jahre büßte das Thema allerdings wieder an Wichtigkeit ein, die Nennungen in den Wahlprogrammen der Parteien – mit Ausnahme der Grünen – erreichten wieder Werte, wie sie zuvor aus den Bundestagswahlprogrammen der 1960er Jahren bekannt waren. Zu den Bundestagswahlen 2002 lag der Anteil von Sätzen mit positiven Aussagen zum Umweltschutz in den Wahlprogrammen von SPD, FDP, Union und PDS bei deutlich unter 5 Prozent.


Quelle: Datensatz des „Comparative Manifesto Project“ (Budge et al. 2001, Klingemann et al. 2006).

Wie haben sich nun die Positionen der Parteien zwischen 2005 und 2009 im Hinblick auf deren umweltpolitische Ausrichtung entwickelt? Zeigen sich Auswirkungen der medial sehr prominent platzierten Debatte um den Klimawandel? Kann die SPD durch die Besetzung des Umweltministeriums mit Sigmar Gabriel und damit einem der ihren die Debatte um das Kernkraftwerk Krümmel mit den umweltschutzpoltischen Aussagen in ihrem Wahlprogramm kombinieren, um ihr umweltschutzpolitisches Profil zu schärfen? Da der CMP-Datensatz nur Informationen bis zur Bundestagswahl 2002 liefert, verwenden wir das wordscore-Verfahren (Laver et al. 2003), um die Positionen der Parteien bei den Bundestagswahlen 2005 und 2009 zu schätzen.

[Als Referenzpositionen wählen wir – wie in früheren hier präsentierten Analysen – die Expertenbefragung von Benoit und Laver (2006) aus, in der die Positionen der deutschen Parteien auf einer Dimension wiedergegeben sind, die den Tradeoff zwischen Umweltschutz und Wirtschaftsinteressen abbildet. Je niedriger die Werte für die Parteien, desto mehr wird dem Schutz der Umwelt Vorrang vor Interessen der Wirtschaft gegeben.]

Die Positionen der fünf Bundestagsparteien inklusive deren statistischen Schwankungsbereichs auf dieser Dimension sowie auf einer sozioökonomischen Links-Rechts-Achse sind in der folgenden Abbildung wiedergegeben. Es überrascht kaum, dass Bündnis 90/Die Grünen die Partei sind, die dem Umweltschutz Vorrang gegenüber den Interessen der Wirtschaft geben. Ebenso war zu erwarten, dass die wirtschaftsliberale FDP wirtschaftlichem Wachstum Vorrang gegenüber Policies gewährt, die auf einen stärkeren Umweltschutz abzielen. Die Positionen von Union, SPD und der „Linken“ sind ausgewogener und somit zwischen Grünen und Liberalen angesiedelt, wobei die Christdemokraten wirtschaftsnäher als die Sozialdemokraten und die Linken sind.

Von größerem Interesse sind die Veränderungen der Parteipositionen auf der umweltpolitischen Dimension. Gegenüber den Wahlprogrammen 2005 haben – abgesehen von der „Linken“ – alle aktuell im Bundestag vertretenen Parteien ihre Positionen hin zu mehr Vorrang vor Umweltschutz gegenüber Interessen der Wirtschaft abgeändert. Dies gilt vor allem für die eher wirtschaftsnahen Parteien Union und FDP, aber auch für Grüne und – in schwächerem Ausmaß – die SPD. Dies kann sicherlich als Reaktion der Parteien auf die Studien und Prognosen zur globalen Erwärmung gewertet werden. Ob jedoch die Sozialdemokraten ihr verabschiedetes Wahlprogramm nutzen können, um sich umweltpolitisch vor allem gegenüber den Bündnisgrünen zu profilieren, wie momentan in den Medien spekuliert wird, ist eher fraglich. Nach wie vor sind Bündnis 90/Die Grünen die Partei in Deutschland, die am klarsten für den Vorrang des Umweltschutzes gegenüber Interessen der Wirtschaft eintritt.

Literaturverweise

Benoit, Kenneth & Laver, Michael (2006). Party Policy in Modern Democracies. London: Routledge.
Budge, Ian; Klingemann, Hans-Dieter; Volkens, Andrea; Bara, Judith & Tanenbaum, Eric, Mapping policy preferences. Estimates for parties, electors and governments 1945-1998. Oxford: Oxford University Press.
Klingemann, Hans-Dieter; Volkens, Andrea; Bara, Judith; Budge, Ian & McDonald, Michael (2006). Mapping policy preferences II: Estimates for parties, electors and governments in Eastern Europe, European Union and OECD 1990-2003. Oxford: Oxford University Press.
Laver, Michael; Benoit, Kenneth; Garry, John (2003). Extracting Policy Positions from Political Texts Using Words as Data. American Political Science Review 97, 311-331.

 

Die Botschaft der Super-Nanny

Die SPD hat für die heiße Wahlkampfphase neue Unterstützung an Bord geholt: Katharina Saalfrank alias „Super-Nanny“. Die Frau, die regelmäßig Millionen von Fernsehzuschauern über verantwortungsvollen Umgang in der Familie aufklärt, soll nun einen möglichst großen Teil ihrer Fangemeinde davon überzeugen, am 27. September SPD zu wählen. Was wie ein Wahlkampfgag klingt (und wohl auch einer ist), birgt auf den zweiten Blick zwei interessante Botschaften über die Lage der SPD und der deutschen Parteien allgemein.

Zum einen werden die Karrierewege der Menschen, die politisch sichtbar sind, ganz offensichtlich immer heterogener. Zu Zeiten der „Bonner Republik“ war die klassische „Ochsentour“ durch die Parteiebenen der zentrale Weg, auf dem man sich für ein hohes politisches Amt qualifizieren konnte und musste. Die Berufung eines Quereinsteigers in ein Ministeramt (so geschehen etwa im Falle des parteilosen Werner Müller, Wirtschaftsminister im ersten Kabinett Schröder) galt als kleine Revolution und sorgte für einigen Unmut in der Partei. Dies wird sich ändern, da die Parteien durch ihren anhaltenden Mitgliederschwund schrittweise an Macht und Legitimation verlieren werden und daher nicht mehr das Monopol auf die Regierungsämter beanspruchen sollten. Diese Entwicklung macht natürlich nicht zwangsläufig eine „Super-Nanny“ ministrabel, erweitert aber ganz allgemein den personellen Horizont der Parteien.

Zum anderen sind Prominente in der Politik kein neues Phänomen. Vor wenigen Wochen erst haben alle Parteien (außer der CSU) Sportler, Musiker und andere vermeintliche Publikumslieblinge zur Wahl des Bundespräsidenten entsandt – die Linkspartei nominierte sogar einen Schauspieler für dieses Amt. Und ebenso wie sich die SPD nun einen Effekt durch die „Super-Nanny“ erhofft, sollten auch diese Persönlichkeiten den Parteien ein wenig Glanz verleihen und manchen unentschlossenen Wähler gewinnen. Frei nach dem Prinzip des „get them where they are“ gehen die Parteien so auf die Wähler zu und holen sie mit Hilfe von Symbolfiguren dort ab, wo sie sich bewegen. Nüchtern ausgedrückt ist der Einsatz von Prominenten in der Politik also schlicht ein Instrument, mit dem die Parteien ihren Mobilisierungsproblemen begegnen möchten. Gleichwohl wird die Wirkung dessen beschränkt bleiben, denn von zentraler Bedeutung sind für die Bürger nun einmal die Kandidaten, die zur Wahl stehen, und die Themen, die sie vertreten.

Und auf die Aufnahme von Frau Saalfrank in ihr Schattenkabinett wird die SPD höchstwahrscheinlich verzichten. Schließlich hat diese Partei selbst vor vier Jahren demonstriert, dass ein Nicht-Politiker im Wahlkampf schnell zur Achillesferse seiner Partei werden kann. Der Professor aus Heidelberg lässt grüßen…

 

Wahlprogramme als Sprachtest? Die Verständlichkeit der Bundestagswahlprogramme im Vergleich

Am 28. Juni haben mit CDU und CSU die beiden letzten der im Bundestag vertretenen Parteien ihr Wahlprogramm für die Bundestagswahl vorgelegt. Wie schon bei der Europawahl haben Kommunikationswissenschaftler der Uni Hohenheim in Kooperation mit der Ulmer Kommunikationsberatungsagentur CommunicationLab nun die fünf vorliegenden Wahlprogramme genauer unter die Lupe genommen: Wie verständlich sind die Programme insgesamt? Welche Themen werden verständlicher behandelt, welche weniger verständlich? Und was sind die Gründe für mangelnde Verständlichkeit?

Im Vergleich zur Europawahl können die Programme der meisten Parteien erfreulicherweise als verständlicher bezeichnet werden. Nur die Verständlichkeit des Programms der Union fällt hinter die Verständlichkeit des CSU-Programms zur Europawahl zurück. Am verständlichsten ist das Bundestagswahlprogramm der Grünen (11,0 von möglichen 20 Punkten), dicht gefolgt vom Programm der SPD (10,5). Deutlich schlechter schneiden bereits die Wahlprogramme von Union (8,6) und FDP (8,4) ab, das mit Abstand unverständlichste Wahlprogramm legt jedoch die Linke vor (6,5). Betrachtet man die Verständlichkeit der einzelnen Themenbereiche, so fällt auf, dass bei fast allen Parteien Einleitung und Schlussteil sowie die Passagen zum Selbstverständnis am verständlichsten formuliert wurden. Unter den unverständlichsten Teilen hingegen finden sich besonders häufig die beiden Themen Gesundheitspolitik und Verteidigungspolitik.

Verständlichkeit der Bundestagswahlprogramme im Vergleich

Die Gründe für die mangelnde Verständlichkeit vieler Abschnitte der Wahlprogramme liegen v.a. in einer häufig zu hohen Wort- und Satzkomplexität sowie der Verwendung von Fachsprache. Die Folge: Leser mit niedrigerer Bildung und geringem politischen Vorwissen dürften bei der Lektüre der meisten Wahlprogramme nach Kurzem kapitulieren. Dies lässt sich anhand einiger Beispiele eindrucksvoll unterstreichen. So versucht die Union ihre potenziellen Wähler u.a. mit dem folgendem Argument zu überzeugen: „Für Kreditzusagen an eine nicht konsolidierte Zweckgesellschaft müssen grundsätzlich die gleichen Eigenkapitalvorschriften gelten wie für Aktiva vergleichbaren Risikos in der Bilanz.“ Ähnlich unverständliche Formulierungen finden sich auch bei der FDP: „Der konsequente Weg zur Aufdeckung von Ineffizienzen bei der Erhebung von Netzentgelten wird weiterverfolgt und eine weitergehende Entflechtung der Energienetze angestrebt.“ Beide Beispiele vereint auch eine weitere Gemeinsamkeit, die zu mangelnder Verständlichkeit füht: Klare Verantwortlichkeiten werden häufig durch die Vermeidung von „Wir“-Aussagen umgangen, stattdessen werden Passivkonstruktionen oder „Man“-Aussagen verwendet. Doch auch einzelne, nicht weiter erläuterte Fachbegriffe dürften einige Leser zur Verzweiflung treiben. So lobt die SPD die „britische Stempelsteuer“, die Grünen empfehlen ihr „Progressivmodell“, die Linke kritisiert „Agroenergie-Importe“ und die Union warnt vor „prozyklisch wirkenden Regeln“.

Auch bei den Bundestagwahlprogrammen besteht jedoch, wie schon bei den Europawahlprogrammen, Anlass zur Hoffnung: So planen fast alle Parteien die Veröffentlichung von Kurzversionen ihrer Programme (was angesichts eines Umfangs von über 200 Seiten insbesondere bei den Grünen eine gute Idee sein dürfte). Die SPD war dabei am schnellsten und präsentiert jetzt bereits die acht zentralen Ziele ihres Wahlprogramms. Deren Verständlichkeit legt die Messlatte für die Kurzprogramme der anderen Parteien hoch: Mit einem Wert von 16,3 auf dem Hohenheimer Verständlichkeitsindex kommt die SPD nahe heran an die durchschnittliche Verständlichkeit von Politik-Beiträgen der Bild-Zeitung (16,8). Ob damit auch der Informationsgehalt der Kurzprogramme auf Bildzeitungsniveau sinkt, soll in Folgestudien der Hohenheimer Forscher untersucht werden.

Weitere Informationen
Wahlprogramm-Check 2009 der Uni Hohenheim (auch Europawahl- und Kommunalwahl-Analyse)

Bundestag will sich in Zukunft bei Gesetzen von Sprach-Experten beraten lassen

Änderungsantrag der Grünen zur Verständlichkeit ihrer Wahlprogramme

CDU will Anglizismen bekämpfen

 

Der Oskar-Code

Der Wahlkampf im Saarland nimmt außergewöhnliche Züge an. Der ehemalige SPD-Ministerpräsident Reinhard Klimmt organisiert derzeit eine Unterschriften-Aktion für Heiko Maas, in der sich alle ehemaligen SPD-Minister des Landes offen zum SPD-Kandidaten bekennen sollen. In jedem anderen Bundesland käme dies einem Offenbarungseid gleich, schließlich sollte die Unterstützung ehemaliger Minister für ihre Partei eine Selbstverständlichkeit sein. Im saarländischen Wahlkampf 2009 könnte dieses Signal an die Wählerschaft jedoch tatsächlich den gewünschten Effekt entfalten: Es geht darum, die zur Linkspartei abgewanderten Wähler wieder für die SPD zu gewinnen.

Das Kalkül lautet folgendermaßen: Viele Wähler sind auch deshalb bereit, die Linke zu wählen, weil diese Partei in Person des ehemaligen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine die politischen Erfolge vergangener SPD-Regierungen für sich reklamiert. Daher gilt es nun klar zu machen, dass diese Erfolge nicht auf die Person Lafontaine, sondern auf die Regierungspartei SPD zurückzuführen sind. Stellvertretend dafür werden die sozialdemokratischen Kabinettsmitglieder der Lafontaine-Ära angeführt, die die damaligen politischen Entscheidungen geschultert und verantwortet haben.

Das Stimmenpotenzial, das dieser Frage innewohnt, lässt sich erahnen, wenn man das saarländische Ergebnis der Europawahl der jüngsten Umfrage zu Landtagswahl von Infratest dimap gegenüberstellt und sich dabei vor Augen hält, dass die Zugkraft des Spitzenkandidaten Lafontaine auf Landesebene sehr viel größer ist als im Rahmen der Europawahl.

Saarländische Umfrage- und Wahlergebnisse im Vergleich

Angaben in Prozent. Quellen: Infratest dimap und Bundeswahlleiter.

Es zeigt sich, dass die Linkspartei bei der Europawahl sechs Prozentpunkte weniger erreicht hat, als ihr in Umfragen zur Landtagswahl zugetraut wird. Davon konnte jedoch keine der etablierten Parteien profitieren, stattdessen teilen sich diese sechs Prozentpunkte unter den kleinen Parteien auf. Beispielsweise konnten die Freien Wähler, die Piraten- und die Rentnerpartei aus dem Stand zusammen knapp drei Prozent der Stimmen erringen.

Diese Differenz zwischen Umfragedaten und Wahlergebnis der Linkspartei kann natürlich nicht allein auf das Zugpferd Lafontaine zurückgeführt werden, schließlich standen bei der Europawahl nicht nur andere Personen, sondern auch andere Themen im Vordergrund. Ein weiteres klassisches Argument gegen die Übertragbarkeit von Europawahlergebnissen auf die Landesebene ist die zumeist deutlich höhere Wahlbeteiligung bei Landtagswahlen. Dies ist hier jedoch nicht gegeben, das Saarland konnte bei der Europawahl mit 58,6% die höchste Wahlbeteiligung aller Bundesländer verzeichnen. Bei der letzten Landtagswahl 2004 sind 55,5% der Wahlberechtigten an die Urnen gegangen.

So liegt die Vermutung nahe, dass tatsächlich einige Saarländer eher Oskar Lafontaine als der Linkspartei als solcher zugeneigt sind. Diese Menschen haben an der Europawahl nicht teilgenommen, weil keine Partei sie ansprechen konnte. Es bleibt die entscheidende Frage: Wie knackt man den Oskar-Code?

 

Read my lips: no new taxes…

Dieser Wahlkampfspruch von George Bush sen. im Jahre 1988 brach ihm im Wahlkampf 1992 das Genick. Er hatte sein Wahlversprechen nicht einhalten können: Steuererhöhungen in seiner ersten und einzigen Amtszeit waren unausweichlich.

Nun hat sich Angela Merkel dieses Mantra auferlegt – eine Erhöhung der Mehrwertsteuer werde es mit ihr nicht geben. Den neuesten Umfragen zufolge halten viele Bürgerinnen und Bürger dies schon jetzt für unglaubwürdig. So glauben laut dem aktuellen Deutschlandtrend von Infratest dimap vier von fünf Befragten nicht an das Versprechen der Kanzlerin.

Eine solche Reaktion in der Bevölkerung war absehbar – gerade zu einer Zeit, in der die Politik ganz offensichtlich noch kein Patentrezept gegen die Wirtschaftskrise gefunden hat und daher nun unter anderem auch verschiedenste Steuermodelle munter diskutiert. Warum also hat sich die Kanzlerin dennoch zu diesem Schritt entschlossen? Die Antwort liegt in der strategischen Ausrichtung ihrer Partei: Der Bundestagswahlkampf der Union ist ein Kanzlerinnenwahlkampf. Alles ist auf Angela Merkel zugeschnitten, ihre Person soll die Wähler überzeugen. Und dementsprechend muss die Kanzlerin stärker als im letzten Wahlkampf persönlich Themen setzen, der Auftritt eines „Professors aus Heidelberg“, der als externer Experte für einen bestimmten Politikbereich präsentiert wird, ist in diesem Jahr unwahrscheinlich.

Diese Strategie ist gewagt. Aus der Wahlforschung wissen wir, dass das sogenannte „candidate voting“ nicht so weit verbreitet ist, wie man vermuten könnte. Studien zeigen, dass der Einfluss der Spitzenkandidaten auf die Wahlentscheidung der Bürger in den letzten Jahren relativ konstant geblieben ist. Das gilt auch für die bisher vielleicht am stärksten auf eine Konfrontation der Kandidaten zugespitzte Bundestagswahl 2002 – das Duell Schröder gegen Stoiber. Umfragen der Forschungsgruppe Wahlen haben kurz vor der Wahl ergeben, dass nur 30 Prozent der Wähler ihre Entscheidung auf Grund des Kandidaten treffen werden, für 61 Prozent hingegen war die Partei der wichtigere Faktor.

Zudem spielen Inhalte auch dann noch eine wichtige Rolle, wenn sich die Wähler tatsächlich mehr an den Kandidaten als an den Parteien orientieren. Wichtig für den Wähler ist die wahrgenommene Problemlösungskompetenz der Kandidaten. Hier hat Frau Merkel derzeit einen klaren Vorsprung vor Frank-Walter Steinmeier, aber Versprechen wie das zur Mehrwertsteuer könnten diese guten Umfragewerte untergraben. Denn die Wähler können sich offensichtlich nicht vorstellen, wie Frau Merkel die Wirtschafts- und Finanzkrise lösen möchte, ohne Steuern zu erhöhen.