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Vom Hindukusch an die Wahlurne? Der Afghanistan-Einsatz und die Wahl 2009

Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan ist nicht sonderlich populär. Wie der jüngste ARD-Deutschlandtrend zeigt, stehen die Deutschen dem Bundeswehreinsatz in Afghanistan mehrheitlich kritisch gegenüber. Rund zwei Drittel der Befragten plädieren dafür, die Bundeswehr aus Afghanistan möglichst schnell abzuziehen. Auch das jüngste ZDF-Politbarometer weist eine, wenngleich weniger deutliche Mehrheit gegen den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr aus. Diese Muster sind nicht neu. Bereits seit einiger Zeit sprechen sich in Bevölkerungsumfragen – je nach Institut und Frageformulierung – deutliche Mehrheiten oder bedeutende Minderheiten gegen die Fortsetzung des Afghanistan-Engagements aus. Folglich könnte eine Partei, der es gelingt, am 27. September die Gegner dieses Bundeswehreinsatzes auf ihre Seite zu bringen, mit erheblichen Stimmengewinnen rechnen. Gibt es realistische Chancen dafür?

Außenpolitische Themen haben es nicht leicht, das Wahlverhalten zu beeinflussen oder gar über den Wahlausgang zu entscheiden. Viele Bürger schenken der Außenpolitik häufig keine allzu große Aufmerksamkeit. Daher sind ihre Urteile über solche Fragen nicht sehr fundiert und recht leicht beeinflussbar. Aus diesem Grund ist bei der Interpretation entsprechender Umfrageergebnisse besondere Vorsicht geboten. Da viele Wahlberechtigte außenpolitischen Themen eine geringe Bedeutung beimessen, lassen sie solche Fragen nicht in ihre letztliche Stimmentscheidung einfließen. Innenpolitische Themen liegen für viele Bürger wesentlich näher. Daher gelten außenpolitische Fragen für die innenpolitische Meinungsbildung im allgemeinen und für Wahlverhalten im besonderen als nicht allzu bedeutsam.

Aber auch zu dieser Regel gibt es Ausnahmen. Man denke nur an die Bundestagswahl 2002. Im Sommer 2002 setzte Gerhard Schröder einen möglichen Krieg im Irak auf die innenpolitische Agenda. In den letzten Wochen vor der Wahl gewann das Thema merklich an Einfluss auf das Wahlverhalten und trug entscheidend dazu bei, dass die rot-grüne Bundesregierung nicht von einer schwarz-gelben Bundesregierung unter Edmund Stoiber abgelöst wurde. Schröder gelang es offenbar, den Bürgern die Wichtigkeit des Irak-Themas vor Augen zu führen und sie dabei auch emotional anzusprechen. Dass gerade letzteres nicht unwichtig ist, zeigen Analysen zum Irak-Krieg 1991. Denn damals sorgte vom Krieg ausgelöste Angst nicht nur dafür, dass die Bundesbürger die Regierungsparteien, die den US-geführten Militäreinsatz unterstützten, schlechter bewerteten. Vielmehr trug Angst sogar dazu bei, dass Bürger langfristige Parteiloyalitäten in Frage stellten. Die innenpolitische Meinungsbildung kann also durchaus erheblich auf die Außenpolitik reagieren.

Ob das im Falle des Afghanistan-Einsatzes gelingen wird, ist damit noch nicht gesagt. Zwar wirbt die Linke seit langem als entschiedene Gegnerin des Bundeswehreinsatzes um Stimmen. Doch scheint sie damit nicht durchzudringen. Das mag zum einen daran liegen, dass das Thema wenige Menschen anspricht. Zum anderen mag eine Rolle spielen, dass ein Votum für die Linke aus anderen Gründen für etliche Bürger kaum in Frage kommt. Würden andere Parteien eine einsatzkritische Position vertreten, stiegen die Chancen für Einflüsse der Afghanistan-Frage auf die Wahlentscheidung. Erst recht würde eine Emotionalisierung des Themas dessen Durchschlagskraft an der Wahlurne erhöhen. Damit wäre etwa dann zu rechnen, wenn die Zahl gefallener Bundeswehrsoldaten dramatisch anstiege oder aber ernstzunehmende Anschlagsdrohungen gegen Deutschland gerichtet würden. So betrachtet, bleibt zu hoffen, dass die Afghanistan-Frage am 27. September wirkungslos bleibt – ausgeschlossen sind solche Effekte freilich nicht.

Literaturempfehlungen

Schoen, Harald, 2004: Der Kanzler, zwei Sommerthemen und ein Foto-Finish. Priming-Effekte bei der Bundestagswahl 2002, in: Frank Brettschneider/Jan van Deth/Edeltraud Roller (Hrsg.), Die Bundestagswahl 2002. Analysen der Wahlergebnisse und des Wahlkampfes, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 23-50.

Schoen, Harald, 2006: Beeinflusst Angst politische Einstellungen? Eine Analyse der öffentlichen Meinung zum Golfkrieg 1991, in: Politische Vierteljahresschrift 47, 441-464.

 

Für jeden was dabei… willkommen in der Welt der Umfragen.

Dieses Mal ist wirklich für jeden was dabei: Im Willy-Brandt freut man sich über die „aktuelle Stimmung“ im neuesten ZDF-Politbarometer: SPD +4, CDU/CSU -3. Ignorieren wird man dort den ARD-Deutschlandtrend (SPD -2), ärgern wird man sich über die Projektion der Forschungsgruppe Wahlen: Trotz +4 in der – ebenfalls auf der Wahlabsichtsfrage basierenden – aktuellen Stimmung keine Änderung bei der Projektion (weiterhin 25); dafür verliert die Union in der Projektion einen Punkt (jetzt 37), obwohl doch ihr Verlust in der aktuellen Stimmung nur -3 war: -3 (Stimmung)=-1 (Projektion), aber +4 (Stimmung)=0 (Projektion), hm, ärgerlich für die SPD. Die Union freut sich eher indirekt – sie verliert in den Umfragen zwar überall, gleichzeitig reicht es aber für schwarz-gelb bei ARD und ZDF für eine eigene Mehrheit (und erst recht, wenn man die aktuelle Diskussion um Überhangmandate mit bedenkt). Allerdings gilt dies nur, wenn man unterstellt, dass die Union wirklich mit der FDP reagieren will. FDP in den Umfragen? Gewinnt in der ARD (+1), verliert aber in der aktuellen Stimmung des ZDF (-2). Grüne? In beiden Projektionen unverändert. Linke? Gewinnen überall dazu. Ach, Umfragen können so schön, einfach für jeden was dabei – fast wie am Wahlabend, wo es ja auch selten Verlierer gibt.

 

Keine Lust auf Dreier: Zu aktuellen Koalitionspräferenzen und -erwartungen der Parteianhänger

Zum Übergang der „alten“ Bundesrepublik in die wiedervereinigte „Berliner Republik“ gehörte auch ein konsequenzenreicher Wandel des Parteiensystems. Im westdeutschen Zweieinhalb-, später dann „Zweizweihalbe“-Parteiensystem hatten sich Parteien und Bürger über Jahrzehnte daran gewöhnt, dass durch Kooperation einer großen mit einer kleinen, politisch benachbarten Partei auf unproblematische Weise stabile, durch Mehrheiten im Bundestag abgesicherte Bundesregierungen gebildet werden konnten. Das änderte sich durch die Auffächerung des Parteiensystems infolge des Hinzutretens der PDS. Seit der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl waren die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag stets mehr oder weniger prekär. Nur fiel das zunächst nicht weiter auf, weil die Wahlen bis 2002 dennoch – wenngleich überwiegend knapp – Mehrheiten produzierten, die für eine Regierungsbildung nach bewährtem Muster ausreichten. Mit der Bundestagswahl 2005 änderte sich das. Weder die schwarz-gelbe noch die rot-grüne Parteienkombination erreichte genügend Stimmen, um gemeinsam regieren zu können. Nach der Wahl machte sich die Republik einige bewegte Wochen lang Gedanken über unorthodoxe, bislang nie praktizierte Modelle der Regierungszusammenarbeit von drei Parteien (bzw. teilweise sogar vier, wenn man die CSU separat zählt). Doch am Ende entschieden sich die schwarzen und roten Parteiführer für jene Große Koalition, die sie heute – glaubt man ihrer Rhetorik – am liebsten umgehend beerdigen würden. Freilich ist nicht auszuschließen, dass das Wahlergebnis auch 2009 eine Auseinandersetzung mit Varianten der Regierungszusammenarbeit jenseits der hergebrachten, lagerinternen Zweiparteienbündnisse erzwingen wird.

Wie gut sind die Bürger auf eine solche Situation vorbereitet? Wie bewerten sie die verschiedenen Möglichkeiten parteipolitischer Zusammenarbeit? Und welche Koalitionskonstellation erwarten sie derzeit als Resultat der Bundestagswahl? Hiervon vermittelt eine Umfrage einen Eindruck, die Anfang Juni 2009 im Rahmen der „German Longitudinal Election Study 2009 (GLES)“ bei 1071 wahlberechtigten Personen durchgeführt wurde. Die Untersuchung wurde über das Internet durchgeführt und ist nicht repräsentativ für die wahlberechtigte Bevölkerung. Sie ermöglicht aber einen aufschlussreichen Vergleich der Kernanhänger der verschiedenen Parteien – derjenigen Wähler also, die sich den Parteien gefühlsmäßig auf Dauer verbunden fühlen.

Parteigebundene Wähler orientieren sich in ihren Einstellungen oft an den Positionen ihrer Parteiführungen. Verfolgt man die öffentlichen Stellungnahmen der Parteien, gewinnt man den Eindruck, dass diese sich nur ungern mit der Perspektive eines Wahlergebnisses auseinander setzen, das ähnlich unklar ausfallen könnte wie bei der Vorwahl. Lieber unterstellen sie weiterhin geordnete Verhältnisse und setzen auf die gewohnten Modelle der Zusammenarbeit, vor allem auf der bürgerlichen Seite des Parteienspektrums. Wer sich zu weit vorwagt und anregt, auch die Möglichkeit bislang (auf Bundesebene) unerprobter Kooperationen offenzuhalten, wird prompt zurückgepfiffen. Eine Ausnahme bildet lediglich die SPD mit ihren Gedankenspielen über eine „Ampel“-Regierung mit Grünen und FDP.

Koalitionspräferenzen parteigebundener Wähler

Anhänger der CDU/CSU und der FDP favorisieren klar das von ihren Parteien angestrebte schwarz-gelbe Bündnis. Alle anderen Kombinationen, die Christdemokraten bzw. Liberale einschließen, werden neutral oder sogar leicht negativ bewertet. Korrespondierend hierzu geben auch der SPD und den Grünen zuneigende Wähler einer Neuauflage ihrer lagergebundenen Zusammenarbeit eindeutig den Vorzug, wenngleich weniger enthusiastisch. Der Großen Koalition stehen schwarze wie rote Wähler indifferent gegenüber – nicht positiv, aber auch nicht sonderlich negativ. Dreierbündnisse werden durchweg nicht positiv gesehen. Das gilt auch für die Haltung der SPD-Anhänger gegenüber der „Ampel“, die sie ähnlich bewerten wie die Große Koalition. Lediglich die Anhänger der Linken weichen von diesem Muster ab – sie favorisieren eine rot-rot-grüne Zusammenarbeit. Die Koalitionspräferenzen der parteigebundenen Wähler erscheinen somit tatsächlich als Echo der Vorgaben ihrer Parteien – und deren Rhetorik bewegt sich bislang überwiegend in den hergebrachten Bahnen, in denen Dreikoalitionen keine Rolle spielen.

Koalitionserwartungen parteigebundener Wähler

Auch die Erwartungen der Parteianhänger hinsichtlich des Wahlergebnisses verlassen kaum den Rahmen des Gewohnten. Eine Dreierkoalition halten nur sehr wenige Befragte für wahrscheinlich. Leicht eingefärbt durch ein Quantum Wunschdenken, das die eigene Seite stets im Vorteil sieht, sind die aktuellen Ergebnisse von Meinungsumfragen die wichtigste Quelle dieser Einschätzungen. An Union oder FDP gebundene Wähler sind mehrheitlich zuversichtlich, dass die Bundestagswahl in ihrem Sinne ausgehen wird. Der SPD, den Grünen und der Linken nahe stehende Wähler rechnen hingegen deutlich eher mit einer Fortsetzung der Großen Koalition. Ähnlich verbreitet ist unter ihnen aber auch die Erwartung, dass Schwarz-gelb die Nase vorn haben wird. Mit einer Realisierung der eigenen Wunschkoalition rechnen nur geringe Anteile dieser Wähler.

Doch was geschieht, wenn der demoskopisch ermittelte schwarz-gelbe Vorsprung in den Umfragen in den kommenden Wochen schwindet? Es sei daran erinnert, dass 2005 in ähnlichem zeitlichem Abstand von der Bundestagswahl sogar noch eine Alleinregierung der Union für möglich gehalten wurde. Wie erinnerlich, hat das dann doch nicht geklappt. Bis zum Wahltag kam es zu so starken Verschiebungen der Wahlabsichten, dass sich am Ende nicht einmal das angestrebte bürgerliche Bündnis der CDU/CSU mit der FDP realisieren ließ. Dass es diesmal wieder so kommt, kann niemand ausschließen. Die deutschen Wähler werden immer wankelmütiger und treffen ihre Entscheidungen immer später, viele (bei der Bundestagswahl 2005 immerhin fast jeder Zehnte!) sogar erst am Wahltag selbst.
Vieles wird davon abhängen, ob und wie sich die Parteien im Wahlkampf auf eine solcherart geänderte Erwartungslage einstellen. Wenn sie sich jetzt durch frühzeitige Festlegungen eingraben, wird es ihnen später schwer fallen, ohne Glaubwürdigkeitsverluste neue koalitionspolitische Zielvorgaben zu formulieren. Überdies wirkt eine Polarisierungsstrategie, die der Lagerlogik verhaftet bleibt, mobilisierend und bringt dadurch Wählerstimmen. Sie ist also für die Parteien attraktiv. Es erscheint daher wenig wahrscheinlich, dass sich die Parteien während des Wahlkampfes von der hergebrachten Blocklogik lösen und sich für Planspiele mit neuen Koalitionsformen öffnen werden. Die Wähler, die ja auf die Signale der Parteien reagieren und sich an deren Vorgaben orientieren, werden sich infolgedessen nicht mit Alternativoptionen auseinandersetzen und anfreunden. Am Ende eines solchen Szenarios steht freilich die Gefahr einer (ohnehin jeglicher Koalitionspolitik inhärenten, dann aber besonders ausgeprägten) Loslösung der Regierungsbildung vom Wählerwillen, mit potenziell ungünstigen Folgen für die Legitimität der neuen Regierung.

Lektüreempfehlungen
Faas, Thorsten/Rüdiger Schmitt-Beck. 2007. “Wahrnehmung und Wirkungen politischer Meinungsumfragen. Eine Exploration zur Bundestagswahl 2005.” in: Frank Brettschneider/Oskar Niedermayer/Bernhard Weßels (Hg.). Die Bundestagswahl 2005. Analysen des Wahlkampfes und der Wahlergebnisse. Wiesbaden: VS-Verlag: 233-267.

Franz Urban Pappi, Regierungsbildung im deutschen Fünf-Parteiensystem, in: Politische Vierteljahresschrift 50:2 (2009), 187-202.

 

Nur Ärger mit diesem Twitter… oder?

Dieser Twitter macht in diesem Wahljahr nur Ärger. Erst veröffentlicht er das Ergebnis der Wahl des Bundespräsidenten zu früh, jetzt droht er offenkundig, das auch im Vor- und Umfeld der Bundestagswahl zu tun. Kein Wunder, dass Politiker „Twitter-Manipulationen bei Bundestagswahl“ fürchten, wie Spiegel Online kürzlich berichtete.

Worum geht es? Infratest dimap (für die ARD) und die Forschungsgruppe Wahlen (für das ZDF) befragen an Wahltagen Tausende von repräsentativ ausgewählten Wählerinnen und Wählern vor Hunderten von repräsentativ ausgewählten Stimmlokalen. Das sind die so genannten „Wahltagsbefragungen“ (die mit anderen im Vorfeld durchgeführten Umfragen wenig gemein haben). Sie sind die Basis der Prognose des Wahlergebnisses, die um Punkt 18.00 Uhr (mit vorherigem Countdown!) über die Sender geht. Die Institute befragen den ganzen Tag über, fangen aber natürlich schon tagsüber an, ihre Ergebnisse auszuzählen. Und sie machen noch etwas: „Die sogenannten Exit-Polls mit Zahlen und Trends zum Wahlausgang werden den Parteien nachmittags mitgeteilt“, heißt es bei Spiegel Online dazu.

Die Sorge ist nun, dass diese Parteien diese Informationen diesem Twitter sagen und der es dann allen anderen weitererzählt. Und dass dann alle anderen (zumindest die, die noch nicht gewählt haben) unter dem Eindruck von diesem Twitter ins Wahllokal stürmen und alles „manipulieren“.

Hierzu sind zwei Dinge festzustellen:

(1) In § 32 des Bundeswahlgesetzes heißt es unter der Überschrift „Unzulässige Wahlpropaganda und Unterschriftensammlung, unzulässige Veröffentlichung von Wählerbefragungen“ in Absatz (2): „Die Veröffentlichung von Ergebnissen von Wählerbefragungen nach der Stimmabgabe über den Inhalt der Wahlentscheidung ist vor Ablauf der Wahlzeit unzulässig.“ Weiterhin heißt es in § 49a unter dem Stichwort „Ordnungswidrigkeiten“ in Absatz (1): „Ordnungswidrig handelt, wer … entgegen § 32 Abs. 2 Ergebnisse von Wählerbefragungen nach der Stimmabgabe über den Inhalt der Wahlentscheidung vor Ablauf der Wahlzeit veröffentlicht.“ Absatz (2) benennt die Strafe: „(2) Die Ordnungswidrigkeit [kann] nach … Absatz 1 Nr. 2 mit einer Geldbuße bis zu fünfzigtausend Euro geahndet werden.“ Da kann der Twitter ja schon mal mit dem Sparen beginnen. Im Ernst: Die Frage ist wohl, was hier „Veröffentlichung“ heißt. Wie viele Parteifunktionäre und Journalisten dürfen die Ergebnisse vorab erfahren, ohne dass dies „öffentlich“ ist? 10? 100? 1000? Oder sollte man die Zulässigkeit auf Personen, die bereits gewählt haben, beschränken? Denn die können ja nicht mehr manipulieren…

(2) … was zum zweiten Punkt führt: Die These, dass diese Informationen problematisch sind: Wer CDU wählt, weil die Sonne scheint, SPD wählt, weil der Nachbar ihm gerade erzählt hat, dass er das auch getan habe, wer grün wählt, weil das seine Lieblingsfarbe ist, „Die Linke“ wählt, weil sie irgendwie aus Ostdeutschland kommt, oder FDP wählt, weil er gerade eben neueste Umfrageergebnisse gehört hat. Ist das relevant? Ist eines davon besser oder schlechter als das andere?

Hinzu kommt – ich hatte das an anderer Stelle schon einmal skizziert -, dass die Forschung hierzu bislang keine eindeutigen Befunde präsentieren konnte. Mobilisierung in Folge veröffentlichter Umfragen ist ebenso möglich wie Demobilisierung, Vorteile für den vermeintlich Führenden sind ebenso vorstellbar wie Vorteile für scheinbar zurückliegende Parteien. Einen einseitigen Effekt jedenfalls hat die Forschung bislang nicht nachweisen können.

Vielleicht sollte man einmal ganz neu darüber nachdenken, wie man mit diesen Informationen aus Wahltagsbefragungen (und diesem Twitter) umgeht. Nicht wie Dieter Wiefelspütz (SPD), der anregt, „über ein Verbot der Wählerbefragungen nachzudenken“. Oder Dorothee Bär von der CSU, die fordert, alle Eingeweihten auf einen „Kodex des Stillschweigens zu verpflichten“. Das ist doch ziemlich elitär. Warum nicht eine Pflicht für die Institute, jede Stunde den aktuellen Zwischenstand zu veröffentlichen? Das würde vielleicht sogar die Leute mobilisieren. Twitter sei dank.

 

Die SPD und die Überhangmandate

Die Überhangmandate lassen die Abgeordneten des Bundestags bis zum Ende der Legislaturperiode nicht los. Am kommenden Freitag wird ein Gesetzentwurf der Grünen zur Vermeidung von Überhangmandaten bei der kommenden Bundestagswahl beraten. Diese Frage, die sonst eher nur Wahlrechtsfeinschmecker interessieren würde, darf diesmal mit erheblichem öffentlichem Interesse rechnen. Denn bei der Wahl am 27. September könnten laut Simulationen Überhangmandate dafür sorgen, dass eine schwarz-gelbe Koalition im Bundestag über eine Mandatsmehrheit verfügt, die sie andernfalls nicht erhielte (siehe auch meinen früheren Beitrag sowie Beiträge von Thomas Gschwend und Thorsten Faas). Anders als bei früheren Wahlen könnte man die Überhangmandate nicht mehr als wahlsystemisches Kuriosum ohne praktisch-politische Bedeutung betrachten. Vielmehr könnte diese vom Bundesverfassungsgericht monierte Regelung zu einem echten Machtfaktor werden.

Die Meinungsbildungsprozesse in Parteien und Fraktionen sind in vollem Gange. Die Linke signalisierte bereits Unterstützung für den Vorschlag der Grünen. Union und FDP sprachen sich – vermutlich aus nahe liegenden Gründen – gegen den Entwurf aus. Die Rolle des Züngleins an der Waage fällt damit den sozialdemokratischen Abgeordneten zu. Die SPD hat sich Zeit genommen für einen längeren Abwägungsprozess. Nachdem aus der Fraktion Signale zugunsten des Grünen-Vorschlags ausgesandt wurden, scheint die SPD-Führung nun eher dazu zu neigen, nicht für den Entwurf der Grünen zu votieren. Doch damit muss das letzte Wort noch nicht gesprochen sein.

Unabhängig davon, wie sich die SPD letztlich entscheiden wird, dürfte der sorgfältige Abwägungsprozess der Sozialdemokraten damit zusammenhängen, dass sie sich in einer interessanten Situation befinden. Würden die Sozialdemokraten für den Gesetzentwurf der Grünen votieren, würde das vielen Beobachtern angesichts der vermutlichen Auswirkungen der Überhangmandate auf die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag durchaus einleuchten. Allerdings entbehrte ein solches Votum nicht einer gewissen Pikanterie, und zwar aus zwei Gründen. Entschieden sich die Sozialdemokraten für den Entwurf der Grünen, würden SPD, Grüne und die Linke in einer politisch brisanten Frage gemeinsam abstimmen. Mancher politische Gegner dürfte das wohl als Indiz oder gar Beweis dafür werten, dass die Sozialdemokraten ihre Schwüre, auf Bundesebene keine sogenannte rot-rot-grüne Koalition zu bilden, vergäßen, sobald ein Bündnis mit der Linken den Sozialdemokraten eine Machtperspektive eröffnete. Aus der Wahlrechtsfrage könnte also Wahlkampfmunition werden.

Eine zweite Komplikation ergibt sich aus der vermutlichen Wirkung der angestrebten Wahlrechtsänderung. Die Vermeidung von Überhangmandaten würde dazu führen, dass eine Koalition aus Union und FDP weniger wahrscheinlich eine Mehrheit im Bundestag erhält. Nimmt man zusätzlich an, dass die Koalitionsaussagen der Parteien auch nach dem 27. September noch gelten, heißt das, dass eine Fortsetzung der Großen Koalition wahrscheinlicher würde. Das Klima in dieser Koalition dürfte allerdings nicht dadurch verbessert werden, dass ein Partner kurz vor dem Wahltag die eherne Koalitionsregel, dass die Bündnispartner einheitlich abstimmen, bricht. Mit anderen Worten: Die Große Koalition würde wahrscheinlicher, ihre Arbeit aber wohl nicht einfacher.

 

Battleground-Wahlkreise? Zur aktuellen Diskussion um Überhangmandate

Die These einer Amerikanisierung von deutschen Wahlkämpfen hat mittlerweile einen langen Bart. Im Zuge der aktuellen Diskussion um mögliche Überhangmandate könnte allerdings ein neues, bislang wenig diskutiertes Element hinzukommen: Battleground-Wahlkreise.

„Battleground states“ sind in den USA jene Bundesstaaten, in denen es sowohl für Demokraten als auch Republikaner möglich erscheint, die (relative) Mehrheit zu erreichen. Und wer die relative Mehrheit gewinnt, der gewinnt – bei Präsidentschaftswahlen – alle Wahlmännerstimmen dieses Bundesstaates: „the winner takes it all“. Diese Bundesstaaten liefern also eine potenziell große Prämie für eine Partei, weshalb dort die Wahlkampfschlacht besonders heftig tobt – battleground state eben.

Was das mit Überhangmandaten zu tun hat? Die Gewinner der 299 Wahlkreise bei der Bundestagswahl werden ebenfalls per relativer Mehrheitswahl gefunden: Wer die meisten Stimmen in einem Wahlkreis bekommt, zieht als direkt gewählter Wahlkreisabgeordneter in den Bundestag ein. Im bundesdeutschen Wahlsystem ist dies – eigentlich – eine Nebensächlichkeit (siehe hierzu auch den Beitrag von Thomas Gschwend). Über die Machtverteilung im Bundestag wird anders entschieden. Nämlich über die Verteilung der Zweitstimmen. Wenn die Union 35 Prozent der Zweitstimmen erhält, erhält sie auch ungefähr 35 Prozent der Sitze im Deutschen Bundestag (bzw. etwas mehr, weil ja Parteien, die an der 5%-Hürde scheitern, bei der Sitzverteilung nicht berücksichtigt werden).

Bei 598 Sitzen im Bundestag und einem angenommenen Stimmenanteil von 35 Prozent sind dies also rund 210 Sitze. Diese werden in einem zweiten Schritt auf die Bundesländer (und die dortigen Listen der Union) verteilt. In Baden-Württemberg etwa leben rund 12 Prozent der deutschen Wahlberechtigten, also wird die Union dort in etwa 25 Sitze (12 Prozent von 210) gewinnen. Sagen wir, die Union erhält dort 30 Sitze, weil die CDU ja dort immer gut abschneidet. Baden-Württemberg hat aber zugleich bei der Bundestagswahl im Herbst 38 Wahlkreise. Und hier kommt die zu ergatternde Prämie aus Sicht der Parteien ins Spiel: Wenn die Union alle 38 Wahlkreise in Baden-Württemberg gewinnt, wird sie auch mit 38 Abgeordneten aus Baden-Württemberg in den Bundestag einziehen – die Differenz zwischen den 38 Direktmandaten und den 25 bis 30 ihr „zustehenden“ Sitzen ist die Extra-Prämie, die zu holen ist, das sind die Überhangmandate. Und bei knappem Wahlausgang kann das in der Tat den machtpolitischen Ausgang der Wahl bestimmen.

Dass Ähnliches eintritt, ist sehr wahrscheinlich – darauf hat Joachim Behnke mit seinen Analysen eindrucksvoll hingewiesen. Allerdings darf man eines nicht vergessen: Die anderen Parteien – allen voran die SPD -, mit denen die Union im Kampf um Direktmandate konkurriert, können (und werden) auf diese Szenarien reagieren. Die SPD sollte (und wird) alles daran ansetzen, um etwa in Baden-Württemberg (und anderen Ländern mit einer hohen Wahrscheinlichkeit für Überhangmandate) in ihren (relativen) Hochburgen die Mehrheit zu gewinnen (Mannheim wäre ein solches Beispiel). Denn jedes einzelne Direktmandat, das die Union nicht gewinnt, bedeutet ein Überhangmandat weniger (und lässt die Prämie der Überhangmandate wieder abschmelzen). Die SPD sollte also gezielt in diesen Wahlkreisen besonders aktiv sein. Das möchte aber die Union überhaupt nicht, also wird auch sie in diesen Wahlkreisen ihre Aktivitäten intensivieren. Und so entsteht ein Battleground-Wahlkreis.

 

Nur eine Petitesse des Wahlrechts? Überhangmandate bei der nächsten Bundestagswahl

Überhangmandate entstehen immer dann, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate erhält, als ihr nach dem bundesweiten Verhältnis der Zweitstimmen eigentlich zustünden. Solche Überhangmandate sind zwar, um es lax auszudrücken, unschön, stören aber nicht weiter, solange sich damit keine anderen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag ergeben. Wenn aber CDU, CSU und SPD, die ja im Wesentlichen die Direktmandate gewinnen, eigentlich viel weniger Sitze zustehen, als sie schon mit Direktmandaten gewinnen, kann es zu deutlichen Verzerrungen kommen.

Mein Kollege Joachim Behnke von der Zeppelin University in Friedrichshafen hat nun eine überzeugende Simulationsstudie vorgelegt, die zu alarmierenden Ergebnissen kommt, wie er gestern in Spiegel Online berichtet. In einer Simulationsstudie wie dieser werden systematisch bestimmte Szenarien eines möglichen Wahlausgangs durchgespielt. Dazu müssen immer Annahmen gemacht werden, die angreifbar sind, worauf Joachim Behnke selbst immer wieder hinweist.

In seiner Studie wird von den 299 Wahlkreisergebnissen der letzten Bundestagswahl 2005 ausgegangen und angenommen, dass sich die Erststimmen der Parteien in jedem Wahlkreis gleichmäßig verbessern bzw. verschlechtern, wie es die derzeitigen Umfragewerte der Zweitstimmen widerspiegeln. Zu diesen Werten werden noch die zu erwartenden Stimmensplitter (in der Größenordnung der letzten Bundestagswahl) der Wunschkoalitionspartner FDP und der Grünen für die WahlkreiskandidatInnen der CDU, CSU und SPD pro Wahlkreis hinzugezählt. Somit können die Gewinner der Direktmandate mit dem jeweiligen Zweitstimmenergebnis (sofern die jetzigen Umfragen stimmen) der Parteien verglichen und die Anzahl der Überhangmandate berechnet werden. Da die Umfragen zu diesem Zeitpunkt bestenfalls ungefähr das Endergebnis widerspiegeln, werden mehrere leicht schwankende Zweitstimmenergebnisse der Parteien als Berechnungsgrundlage herangezogen. Daher bekommt man nicht eine bestimmte prognostizierte Anzahl der Überhangmandate für CDU, CSU bzw. SPD, sondern eine ganze Verteilung solcher Werte.

Behnkes Ergebnisse verdeutlichen die Größe des zu erwartenden Vorsprungs der CDU/CSU gegenüber der SPD. Der Sitzvorsprung der CDU/CSU vor der SPD, nur basierend auf Überhangmandaten, beträgt im Mittel mehr als 21 Sitze. In praktisch allen Simulationen hat die CDU/CSU einen deutlichen Vorsprung an Überhangmandaten, oft sogar einen rekordverdächtigen. Eine auf diese Weise künstlich vergrößerte CDU/CSU Fraktion im Bundestag hätte auch erheblich mehr strategisches Machtpotential in Koalitionsverhandlungen mit der FDP (oder natürlich auch den Grünen bzw. der SPD) nach der Bundestagswahl.

So dramatisch wird es vermutlich aber nicht kommen. Ich nehme nicht an, dass die jetzigen Umfragen wirklich gut das Stimmungsbild am Wahlabend wiedergeben. Der Abstand zwischen CDU/CSU und SPD wird sich noch verkleinern. Potentielle Wahlkreissieger der CDU/CSU gemäß Behnkes Simulationsstudie werden dann doch nicht das Direktmandat gewinnen, sondern es an die SPD-KandidatIn verlieren, was sofort zu einer Verringerung von Überhangmandaten führen würde. Außerdem wären die Wahlkampfstrategen der Parteien töricht, wenn sie ihre Direktmandatsstrategien nicht entsprechend auf diese Umstände anpassten (siehe hierzu auch den Beitrag von Thorsten Faas).

 

Der Kirchhof-Komplex (und -Reflex)

Wahlkampf 2005 – alles läuft gut für die Union. Bis Kirchhof kommt. Das ist mehr als Folklore, sondern lässt sich auch mit Zahlen untermauern: Je bekannter Kirchhof in der Bevölkerung wurde, desto unbeliebter wurde er auch, wie die folgende Grafik zeigt (die auf täglichen Interviews in der heißen Phase des Wahlkampfs 2005 basiert):

Innerhalb kürzester Zeit sank das Ansehen Kirchhofs auf der etwa aus den ZDF-Politbarometern bekannten Skala von -5 bis +5 um annähernd zwei Punkte. Da sonst schon Verschiebungen in der Größenordnung von wenigen Zehntelpunkten als bemerkenswert gelten, ist dies ein dramatischer Einbruch.

Darauf hat die Union jetzt reagiert und im laufenden Wahlkampf Steuersenkungen für die Zukunft angekündigt. Ob das den Wähler allerdings mehr überzeugt als die Strategie 2005 – wo doch Wirtschaftswissenschaftler nahezu unisono mit dem Gegenteil rechnen?

 

Das letzte Wahlprogramm für die Bundestagswahl 2009: Die Union rutscht in die Mitte

CDU und CSU als letzte der im Bundestag vertretenen Parteien haben heute ihr Wahlprogramm für die kommende Bundestagswahl vorgelegt und damit der Wählerschaft als auch ihren parteipolitischen Mitbewerbern ihre inhaltlichen Vorstellungen für die nächste, bis 2013 reichende Legislaturperiode offeriert. Die Debatte um Forderungen innerhalb der CDU nach Steuererhöhungen wurden offenbar in der am 28. Juni veröffentlichten finalen Version des Regierungsprogramms nicht aufgenommen. So heißt es in Kapitel I.1 („Verantwortungsbewusste Steuerpolitik für Leistungsgerechtigkeit“) des CDU/CSU-Wahlprogramms, dass Steuererhöhungen abgelehnt werden. Diese Aussage mag nicht nur aufgrund des entschiedenen Widerstandes gegenüber Steuererhöhungen seitens der CSU in das Programm eingefügt worden sein, sondern auch aufgrund der harschen Reaktion des von den Unionsparteien präferierten Koalitionspartners FDP. Doch wie sieht die allgemeine wirtschafts- und gesellschaftspolitische Ausrichtung der Union im Jahr 2009 aus? Hat sich die programmatische Ausrichtung signifikant von der vor vier Jahren formulierten Haltung verschoben? Löst man sich also von dieser einen kurzen Satz umfassenden Aussage zu Steuererhöhungen und betrachtet das Wahlprogramm der Union und die der anderen Bundestagsparteien insgesamt, so haben CDU und CSU einen deutlichen Wandel gegenüber ihrem letzten Manifest aus dem Jahr 2005 durchgemacht.

Die in der Grafik abgetragenen Positionen der endgültigen Versionen der Wahlprogramme der momentan und – wenn man den Demoskopen glaubt – auch sicher nach dem 27. September im Bundestag vertretenen Parteien zeigen, dass in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen lediglich die Union ihre Position signifikant verschoben hat, und zwar in die Mitte der wirtschaftspolitischen Links-Rechts-Dimension (Die Technik zur Gewinnung der Positionen ist wie in früheren hier präsentierten Analysen das auf relativen Worthäufigkeiten beruhende „wordscore“-Verfahren, das auch Standardfehler der geschätzten Positionen ermittelt). Das heißt, dass CDU/CSU im Vergleich zu 2005 nunmehr stärker auf den Staat als Korrektiv setzen und damit den freien Markt stärker in seine Grenzen weisen wollen, was sicherlich eine Reaktion auf die globale Wirtschaftskrise und ihre auch in Deutschland spürbaren Folgen ist und bei einem großen Teil der Wählerschaft gut ankommt. Doch auch gesellschaftspolitisch ist die Union in ihrem Wahlprogramm 2009 deutlich weniger konservativ ausgerichtet als noch vier Jahre zuvor. Dieser Wandel kommt mit Hinblick auf die durchaus reformorientiert-progressive Familienpolitik von Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) trotz parteiinterner Kritik vom konservativen Parteiflügel nicht ganz unerwartet.

Was implizieren diese Positionsverschiebungen der Union nun aber für den nach der Wahl einsetzenden Koalitionsbildungsprozess? Wie die Reaktion der Liberalen auf die Forderungen nach höheren Steuern bereits gezeigt hat, so dürfte diese programmatische Verschiebung der Unions-Position auf dem zentralen Politikfeld „Wirtschaft und Soziales“ die Koalitionsverhandlungen mit der FDP nicht unbedingt einfacher machen. Mit der SPD, die wie Liberale und die Grüne lediglich ihre gesellschaftspolitische Position gegenüber 2005 deutlich verändert haben, dürfte sich eine Einigung auf ein weiteres Koalitionsabkommen nun weitaus unkomplizierter gestalten als noch in der Konstellation vier Jahre zuvor. Doch diese rein inhaltlich-programmatisch ausgerichtete Interpretation des am 28. September einsetzenden Koalitionsspiels vernachlässigt natürlich zentrale Faktoren wie die Sitzstärke oder auch die Koalitionsaussagen der im Parlament vertretenen Parteien. Bezieht man aber lediglich die Information mit ein, dass CDU/CSU und Sozialdemokraten sich zwar eine erneute große Koalition nicht unbedingt wünschen, eine Neuauflage jedoch auch nicht ausschließen, so bleibt festzuhalten, dass die Inhalte des 2009er Wahlprogramms der Union offensichtlich nicht dazu dienen, einem neuen schwarz-roten Bündnis große Steine in den Weg zu legen.

 

Nationale Regierungsparteien haben die Europawahl 2009 verloren

Mein französischer Kollege Olivier Rozenberg hat mich vorgestern am Rande einer Konferenz gefragt, warum denn die Ergebnisse der vergangenen Wahl nicht den Erwartungen entsprochen hätten, die wir an eine Nebenwahl richten. Insbesondere hätten einige Regierungen, darunter der französiche Präsident Sarkozy und der italienische Ministerpräsident Berlusconi, dazugewonnen anstatt zu verlieren.

Diese Wahrnehmung geht allerdings auf eine notorisch falsche Darstellung der Europawahlergebnisse in großen Teilen der Presse zurück. Dort werden üblicherweise die Ergebnisse der letzten Europawahl mit denen der Europawahl des Jahres 2004 verglichen, also die Ergebnisse einer „unwichtigen“ Wahl mit denen einer anderen „unwichtigen“ Wahl. In der Theorie der Nebenwahlen heben wir jedoch auf regelmäßige Abweichungen der Europawahlergebnisse von den Ergebnissen nationaler Hauptwahlen ab. Einer dieser regelmäßigen Unterschiede ist es, dass nationale Regierungsparteien in Nebenwahlen verlieren – und zwar relativ zu ihrem vergangenen Hauptwahlergebnis.

Die folgende Grafik konfrontiert das Europawahlergebnis der nationalen Regierungsparteien mit ihrem vorherigen Hautwahlergebnis. Wären diese Ergebnisse alle gleich, fänden sich alle Länder auf der Diagonalen aufgereiht. Hätten die Regierungsparteien in der Europawahl systematisch gewonnen, wären sie oberhalb der Diagonalen abgetragen. Dies ist jedoch nicht so. Die allermeisten Länder sind unterhalb der Diagonalen platziert: nationale Regierungsparteien haben die Europawahl 2009 verloren.

Stimmenanteile der Regierungsparteien in Europa und national

(Klicken, um die Grafik zu vergrößern)

Dies war nur in Polen und Finnland anders. Den Sonderfall Polen geht wohl darauf zurück, dass es dort für viele Bürger nicht so ganz klar ist, wer eigentlich die Regierung führt – Ministerpräsident Tusk oder Präsident Kascinski, die sich zudem gerade in europäischen Fragen im permanenten Clinch befinden. Und in Finnland hat das Zentrum, die regierungsführende Partei, deutlich verloren, während die kleineren Koalitionspartner, die konservative Partei und die Grünen, zulegen konnten. Das gilt tendenziell auch in Italien, wo Berlusconi mit seinem „Volk der Freiheit“ klar verloren hat, während sein kleiner Koalitionspartner „Lega Nord“ dazu gewinnen konnte. Belgien ist ein weiterer Grenzfall, was wohl der dort herrschenden Wahlpflicht und der Tatsache, dass sich die föderale Politik dort im Prozess der Auflösung zu befinden scheint, zuzuschreiben ist.

Die klarsten Verlierer – das hat die Presse richtig erkannt – waren die britischen, die ungarischen und die bulgarischen Sozialisten. Aber das sieht man nun wirklich auch ohne Brille.