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Koalitionsszenarien in Hamburg: ein sozialliberales Revival?

Der frühere Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau hat vor kurzem seiner Sozialdemokratischen Partei geraten, nach den am 20. Februar stattfindenden Bürgerschaftswahlen eine Koalition mit der FDP einzugehen. SPD und Liberale hatten die Hansestadt zuletzt von 1987 bis 1991 unter der Führung Voscheraus regiert. Nach den Wahlen in diesem Jahr wäre eine solche Option nur dann überhaupt möglich, wenn die Freien Demokraten die 5%-Hürde knacken würden.

Die von Thorsten Faas im Rahmen dieses Blogs vorgelegte Analyse der inhaltlichen Schnittmengen zwischen den Hamburger Parteien auf Basis des Wahl-O-Mats deutet darauf hin, dass SPD und FDP große inhaltliche Schnittmengen haben. Nun spielen aber für die Regierungsbildung in den deutschen Bundesländern neben den inhaltlichen Positionen der Parteien und – natürlich – deren Sitzstärke im Parlament auch bundespolitische Faktoren eine Rolle. So würde eine sozialliberale Koalition in Hamburg auf bundespolitischer Ebene der Opposition aus SPD, Grünen und Linken nicht allzu viel nutzen, da im Falle der Bildung einer SPD/FDP-Koalition das Land Hamburg im Bundesrat zu den „neutralen“ und nicht zu den von der Opposition kontrollierten Ländern zählen würde. Gegeben dass die Hamburger Bürgerschaft aus fünf Fraktionen – SPD, CDU, GAL, Linke und FDP – bestehen würde (was die Umfrage von Infratest-dimap vom 3. Februar andeutet), welche Koalition wäre dann das wahrscheinlichste Ergebnis des Regierungsbildungsprozesses?

Auf der Grundlage eines Datensatzes, der die Ergebnisse aller Regierungsbildungsprozesse in den deutschen Bundesländern seit 1990 umfasst, können mit statistischen Verfahren die Wahrscheinlichkeiten dafür ermittelt werden, dass eine theoretisch mögliche Parteienkombination schlussendlich auch die Regierung bildet. Dabei werden neben der Stärke der Parteien auch die inhaltlichen Distanzen zwischen den Parteien, ihre Koalitionsaussagen sowie die bundespolitischen Muster des Parteienwettbewerbs berücksichtigt. Lässt man neben einer Koalition mit der Linken, die von SPD wie GAL ausgeschlossen wird, auch ein Bündnis zwischen Sozialdemokraten und CDU, dass die SPD ebenfalls ablehnt, bei der Berechnung außer acht, dann dominiert eindeutig Rot-Grün das Bild: Die Wahrscheinlichkeit einer Koalition aus SPD und GAL liegt bei 78%, wohingegen die Chancen für ein sozialliberales Bündnis nur 19% betragen (die angenommene Sitzverteilung in der Bürgerschaft ergibt sich anhand der Umfrageergebnisse von Infratest-dimap vom 3. Februar).

Worin liegen die Ursachen für die sehr hohe Wahrscheinlichkeit der Bildung einer rot-grünen Koalition in Hamburg nach den Wahlen vom 20. Februar 2011? Ein Grund ist die – trotz einer leichten Bewegung der FDP in die programmatische Mitte, siehe die Abbildung unten – noch immer sehr große Distanz zwischen SPD und Liberalen in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen. Ein weiterer Faktor ist die fehlende Kongruenz einer sozialliberalen Koalition in Hamburg zu der Zusammensetzung von Regierung und Opposition auf Bundesebene. Würde man den bundespolitischen Einflussfaktor nicht berücksichtigen, dann würde die Chance für die Bildung von Rot-Gelb jedoch nur leicht auf knapp 25% ansteigen. Rot-Grün würde mit einer Wahrscheinlichkeit von 72% noch immer weit vorne liegen. Von daher dürften wohl Henning Voscheraus Wünsche nach einem sozialliberalen Revival in der Hansestadt nicht Realität werden. Ein Trostpflaster dürfte jedoch sein, dass seine SPD auf jeden Fall wieder regieren und als stärkste Partei den Ersten Bürgermeister und Senatspräsidenten stellen wird.

 

Hamburg ist Wahl-o-mat

Es ist wieder soweit: Vorwahlzeit, Wahl-o-mat-Zeit. Dieses Mal ist Hamburg Wahl-o-mat. Und in den „sozialen Medien“ dieses Internets häufen sich wieder die Meldungen: „Bei mir kam Partei x vor Partei y, wie kann das sein? Was ist mit mir los?“
Vielleicht gar nichts. Vielleicht ist vielmehr mit Hamburg etwas los, zumindest mit den dortigen Parteien. Ein Blick auf den Wahl-o-mat hilft. Was haben die Parteien auf die 38 ihnen präsentierten Thesen geantwortet? Zu den Thesen gehören etwa Aussagen wie „In der Hamburger Wirtschaftspolitik soll der Hafen stets Vorrang haben“ oder auch „In Hamburg soll keine Stadtbahn gebaut werden“. Wie schon bei früheren Wahlen kann man nämlich diese Antworten genauer anschauen und daraus einen Indexwert (*) ableiten, der anzeigt, wer wem wie nahesteht. Tut man dies für die fünf Parteien, die in Hamburg eine Chance haben, in der kommenden Bürgerschaft vertreten zu sein, resultiert folgendes Bild:

Man hat den Eindruck, dass in Hamburg wirklich einiges los ist… das schwarz-grüne Bündnis, aber auch sein Scheitern scheint die Parteienlandschaft erheblich durcheinander gewürfelt zu haben.

  • CDU und Grüne/GAL – bis vor kurzem noch eine einzige Koalitionsregierung – haben nur noch wenig gemeinsam. Nur CDU und Linke bzw. FDP und Linke eint inhaltlich noch weniger.
  • SPD und Grüne/GAL – angeblich bald gemeinsam an der Regierung – haben allerdings auch noch wenig gemeinsam. Die Einigkeit der Sozialdemokraten sowohl mit den Christdemokraten als auch der FDP ist höher.
  • Auch SPD und FDP haben mehr gemeinsam als CDU und FDP.
  • An der Spitze mit der höchsten Übereinstimmung stehen Grüne/GAL und Linke.

All das überrascht. Knapp drei Wochen sind es noch bis zur Wahl. Ein spannender Wahlkampf steht uns bevor. Wenn man sich allerdings die Ergebnisse hier anschaut, dann wird die Zeit danach – wenn Koalitionen verhandelt werden – noch spannender.

(*) Der Index berechnet sich wie folgt: Für jedes Paar von Parteien wird über alle 38 Thesen hinweg gezählt, wie oft die Parteien übereinstimmen. Jede Übereinstimmung gibt einen Punkt, jede Kombination von “stimme zu” oder “stimme nicht zu” mit “neutral” einen halben Punkt. Addiert man diese Punkte zusammen und teilt die Summe durch 38 (die Zahl der Thesen), erhält man den Index. Die Annahme ist dabei natürlich, dass alle Thesen gleich wichtig sind.

 

Duo, Trio oder Elefantenrunde? Zur Diskussion über die Fernsehdebatte in Baden-Württemberg

Von Jürgen Maier und Thorsten Faas
Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) hat sich durchgesetzt. Überlegungen des SWR, nicht nur den CDU-Spitzenkandidaten und seinen Herausforderer von der SPD, Nils Schmid, für eine Fernsehdebatte einzuladen, sondern auch den Top-Kandidaten von Bündnis 90/Die Grünen, Winfried Kretschmann, erteilte er eine klare Absage: „Für Trio-Konstellationen stehe ich nicht zur Verfügung. Ein Duell besteht aus zwei Personen, wie der Name schon sagt.“ Tatsächlich kommt es nun am 16. März zu einem Aufeinandertreffen von Mappus und Schmid.

Fernsehdebatten (oft etwas martialisch auch als „TV-Duelle“ bezeichnet) sind ein aus den USA importiertes Format, in dessen Rahmen die aussichtsreichsten Kandidaten für das Amt des Regierungschefs miteinander die zentralen Themen des Wahlkampfs diskutieren. In der Regel sind es tatsächlich zwei Kandidaten, die sich dabei gegenüberstehen. Allerdings gab und gibt es Ausnahmen davon: Der prominenteste Fall sind die TV-Debatten im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 1992, als der demokratische Herausforderer Bill Clinton nicht nur mit dem damaligen republikanischen Präsidenten George Bush sen., sondern auch mit dem unabhängigen Kandidaten Ross Perot diskutierte. Auch bei der Erstauflage solcher Debatten in Großbritannien im vergangenen Jahr waren drei Kandidaten geladen: Gordon Brown für Labour, James Cameron für die Conservatives und Nick Clegg für die Liberalen.

Auch in Deutschland wäre ein Dreikampf kein Novum. In den Landtagswahlkämpfen 2004 und 2009 in Brandenburg und Thüringen standen sich Vertreter von CDU, SPD und PDS bzw. Die Linke gegenüber. Ein „Duell“ besteht also nicht immer aus zwei Personen. Nun könnte man argumentieren, dass es sich hierbei eigentlich nicht um TV-Duelle, sondern um Elefantenrunden – also eine Diskussion zwischen Repräsentanten aller im Parlament vertretenen Parteien – handelte. Dies stimmt jedoch nur für Thüringen (hier saßen tatsächlich nur diese drei Parteien im Landtag). In der brandenburgischen Volksvertretung war zum Zeitpunkt der Fernsehdebatten allerdings auch die DVU vertreten – der man allerdings keine öffentliche Bühne geben wollte. Auf diese Weise kam es zumindest in Brandenburg schon einmal zu einem aus drei Personen bestehenden Duell.

Die Rationalität hinter diesem Vorgehen war die hohe Popularität der eingeladenen politischen Kräfte – sowohl in den USA als auch in Großbritannien als auch in Thüringen und Brandenburg. Aus diesem Grund regt sich auch in Baden-Württemberg Widerstand. Bündnis 90/Die Grünen reagierten in einem offenen Brief an den Intendanten des SWR auf die Entscheidung des Fernsehsenders. Sie argumentieren unter Berufung auf Umfrageergebnisse, dass ein Ausschluss von Kretschmann die (sich abzeichnenden) politischen Kräfteverhältnisse „verzerren“ würde. Im Kern geht es den Grünen natürlich nicht nur um bloße Sichtbarkeit, sondern vor allem um die Möglichkeit, ein vergleichsweise großes Publikum direkt, d.h. unter Umgehung journalistischer Selektionskriterien, anzusprechen. Damit verknüpft ist die Hoffnung, dass dieser direkte Zugang zu den Wählern sich positiv auf die eigenen Wahlchancen niederschlägt. Wissenschaftliche Untersuchungen zu den TV-Debatten auf Bundesebene belegen immer wieder, dass diese Hoffnung durchaus zur Realität werden kann.

Wie kann man die Situation nun auflösen? Kurzfristig damit, nochmals darüber nachzudenken, ob das Duo Mappus-Schmid nicht doch um den Grünen Kretschmann ergänzt werden sollte. Dies muss – wie ein Blick nach Österreich zeigt – nicht unbedingt darin münden, alle drei Kandidaten gemeinsam vor der Kamera stehen. In der Alpenrepublik debattiert traditionell jeder gegen jeden. Alternativ dazu könnte man natürlich auf eine Elefantenrunde ausweichen – und auch Liberale (und Linke?) zu einer Diskussion bitten. Mittelfristig müssen klarere Regeln her, wann Parteien einen Repräsentanten in ein solches Duell entsenden dürfen. Zwar wurde vom Bundesverfassungsgericht 2002 entschieden, dass ein solcher Anspruch generell nicht besteht und die Fernsehsender (und zwar auch die öffentlich-rechtlichen) in der Zusammenstellung solcher Diskussionsrunden grundsätzlich frei sind. Aber auch hier könnte ein Blick in die USA weiterhelfen: Dort werden alle Kandidaten geladen, die eine rechnerische Chance haben, die Mehrheit im Electoral College zu gewinnen, bzw. die in landesweiten Umfragen mindestens 15 Prozent der Wähler hinter sich vereinigen können. Außerdem liegt die Organisation solcher Debatten dort in den Händen einer unabhängigen „Commission on Presidential Debates“, was auch der Situation in Deutschland angesichts der zu beobachtenden Institutionalisierung solcher Diskussionsrunden sicher gut tun würde.

 

Twitterprognosen, oder: Warum die Piratenpartei beinahe die Wahl 2009 gewonnen hätte

von Andreas Jungherr, Pascal Jürgens und Harald Schoen

Die zunehmende Nutzung internetgestützter Dienste wie zum Beispiel Google, Facebook oder Twitter hat für Sozialwissenschaftler den erfreulichen Nebeneffekt, dass sie auf immer größer werdende Datensätze zugreifen können, die menschliches Verhalten dokumentieren. So wurde zum Beispiel erfolgreich gezeigt, dass die Häufigkeit von Google-Suchanfragen Rückschlüsse auf die Entwicklung von Verbraucherzahlen oder Grippeepidemien zulässt. Mit Hilfe von Daten des Microblogging-Dienstes Twitter wurde versucht, den Kassenerfolg von Kinofilmen vorherzusagen oder die Struktur von Fernsehereignissen aufzuzeigen. Verschiedene Studien zeigen das Potential dieser neuen, durch Internetnutzung entstandenen Datensätze. Die Art und Größe dieser Datensätze birgt neben der Chance eines tatsächlichen Erkenntnisgewinns über gesellschaftliche Entwicklungen außerhalb des Internets für Forscher jedoch auch die Gefahr, zufällige Muster in den Daten als bedeutungsvolle Ergebnisse zu interpretieren.

Wie schnell man solchen Fehlschlüssen aufsitzen kann, zeigt der Aufsatz „Predicting Elections with Twitter: What 140 Characters Reveal about Political Sentiment“ von Andranik Tumasjan, Timm O. Sprenger, Philipp G. Sandner und Isabell M. Welpe. In ihrem Text versuchen die Autoren, das Ergebnis der Bundestagswahl 2009 mit Hilfe von Twitter-Nachrichten zu prognostizieren, die vor der Wahl gesendet wurden. Für die sechs im Bundestag vertretenen Parteien gelingt das so gut, dass die Autoren folgern, “the mere number of tweets mentioning a political party can be considered a plausible reflection of the vote share and its predictive power even comes close to traditional election polls”. Ein faszinierendes Ergebnis: Das einfache Zählen von Twitternachrichten führt zu sehr ähnlichen Resultaten wie kostspielige Erhebungen von Meinungsforschungsinstituten, die so gerne als Prognosen gelesen werden.

Die anfängliche Freude über dieses Ergebnis verfliegt allerdings schnell, betrachtet man sich die Analyse genauer. Eine einfache Replikation der Studie von Tumasjan und Kollegen ergibt Ergebnisse, die der Originalstudie sehr ähneln (Tabelle 1). In der Replikation der Studie stellten wir fest, dass für die Bundestagsparteien der mit Hilfe von Twitternennungen prognostizierte Stimmenanteil im Durchschnitt nur um 1,51 Punkte vom tatsächlichen Stimmenanteil ab. So weit, so gut.

Tabelle 1: Anteile der Bundestagsparteien an den Stimmen und Twitternennungen

a In Anlehnung an Tumasjan et al. wurden nur die auf die betrachteten Parteien entfallenen Stimmen berücksichtigt.

In ihrer Untersuchung entschieden sich Tumasjan und Kollegen dafür, nur die Nennungen von Parteien zu zählen, die auch tatsächlich im Bundestag vertreten waren. Diese Entscheidung ist etwas überraschend, da die Autoren so eine politische Prognose auf der Basis von Onlinekommunikation erstellen, aber diejenige Partei nicht berücksichtigen, die von allen Parteien die meisten Unterstützer im Internet sammeln konnte. Um zu überprüfen, wie robust die Ergebnisse von Tumasjan und Kollegen tatsächlich sind, beschlossen wir, die Piratenpartei in unsere Replikation der Originalstudie einzubeziehen. Abbildung 1 zeigt das Ergebnis.

Abbildung 1: Anteile der Bundestagsparteien und der Piratenpartei an den Stimmen und Twitternennungen

 

*In Anlehnung an Tumasjan et al. wurden nur die auf die betrachteten Parteien entfallenen Stimmen berücksichtigt.

Die Twitterprognose identifiziert hier eindeutig die Piratenpartei als stärkste Kraft. Wäre diese Prognose korrekt, so hätte die Piratenpartei am Wahltag 35 Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten und damit mit hoher Wahrscheinlichkeit den Kanzler gestellt. Dieses Szenario hat offensichtlich wenig mit den tatsächlichen Wahlergebnissen zu tun, da die Piratenpartei am Wahltag etwa 2 Prozent der abgegeben Stimmen erzielen konnte und damit nicht in den Bundestag einziehen konnte. Es scheint, als würde zumindest dieses Instrument versagen, sobald man internetgestützte politische Bewegungen in die Analyse einbezieht.

Nun könnte man die Twitterprognose mit dem Argument zu retten versuchen, es sei zu ambitioniert, ausgerechnet die Piratenpartei in die Analyse einzubeziehen, von der ja vor der Wahl 2009 jeder gewusst habe, dass sie nicht in den Bundestag einziehen würde. Auf den ersten Blick erscheint dieser Einwand überzeugend, nicht jedoch auf den zweiten. Denn eine Methode, die Informationen darüber voraussetzt, welche Parteien in den Bundestag einziehen werden, dürfte schwerlich als eigenständiges Prognoseinstrument akzeptiert werden.

Dieses Beispiel zeigt, wie leicht es ist, sich von Mustern in Datenspuren menschlichen Online-Verhaltens irreführen zu lassen. Gerade die Reichhaltigkeit dieser Daten und ihre komplexen Zusammenhänge legen es nahe, Muster zu erkennen. Schwierig wird es allerdings, wenn diese Muster auf ihren Realitätsbezug überprüft werden sollen. Gerade hier entscheidet sich jedoch, ob die Ergebnisse einer solchen Untersuchung tatsächlich gesellschaftliche Entwicklungen außerhalb des Internets abbilden oder nur statistische Artefakte sind.

Literatur:

Tumasjan, Andranik, Timm O. Sprenger, Philipp G. Sander and Isabell M. Welpe. (2010). “Predicting Elections with Twitter: What 140 Characters Reveal about Political Sentiment,” Proceedings of the Fourth International AAAI Conference on Weblogs and Social Media. Menlo Park, California: The AAAI Press. 178-185.

Die Autoren:

Andreas Jungherr arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Soziologie an der Universität Bamberg. Dort promoviert er zur Dynamik politischer Twitternutzung. Er twittert unter dem Namen @ajungherr.

Pascal Jürgens ist Kommunikationswissenschaftler und promoviert demnächst im Bereich der Online-Kommunikation. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in empirischen Methoden, insbesondere bei Sozialen Netzwerken und Modellierung.

Harald Schoen ist Politikwissenschaftler und Professor für Politische Soziologie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Zu seinen Forschungsgebieten gehören Wahlverhalten, Wahlkämpfe und ihre Wirkungen, Einstellungen zu außen- und sicherheitspolitischen Themen sowie Fragen der politischen Psychologie.

 

Das nicht allzu überraschende vorzeitige Aus von Schwarz-Grün in Hamburg

Die Koalition von Christdemokraten und der sich in Hamburg „Grün-Alternative Liste“ (GAL) nennenden Grünen funktionierte über mehr als zwei Jahre relativ reibungslos. Ein Grund dafür wird im guten Koalitionsklima gesehen, dass maßgeblich durch die relevanten Personen in einer Koalition bestimmt wird: Mit Ole von Beust als dem Musterexemplar eines liberalen Christdemokraten konnten die Grünen in der Hansestadt vertrauensvoll regieren, was mit von Beusts Nachfolger, dem häufig „Law and Order“-Mann bezeichneten Christoph Ahlhaus, von Beginn an wesentlich schwieriger war.

Doch war nach der Bürgerschaftswahl vom Februar 2008 eine Koalition aus CDU und GAL überhaupt das optimale Ergebnis des Koalitionsbildungsprozesses? Oder wären andere Parteienkombination, die sich aus der vier Fraktionen (CDU, SPD, GAL und Linke) umfassenden Hamburger Bürgerschaft hätten ergeben könnten, von Anfang an wahrscheinlicher gewesen? Auf der Grundlage aller Regierungsbildungen in den Bundesländern von 1990 bis zur Hamburg-Wahl im Februar 2008 lassen sich mit Hilfe statistischer Verfahren die Determinanten der Koalitionsbildung ermitteln und auf dieser Basis auch die Wahrscheinlichkeiten für alle potentiell möglichen Koalitionen in der Hamburgischen Bürgerschaft für die Legislaturperiode von 2008 bis 2012 berechnen. Die Ergebnisse zeigen, dass „Schwarz-Grün“ einen starken Konkurrenten hatte: gemäß den in der Tabelle abgetragenen Wahrscheinlichkeiten war eine große Koalition aus CDU und Sozialdemokraten mit einer Chance von 48,5% nur geringfügig unwahrscheinlicher als ein Bündnis von Christdemokraten und GAL. Daran ändert sich auch nichts, wenn man die Koalitionsaussage der SPD und ihres damaligen Spitzenkandidaten Michael Naumann, kein Bündnis mit der „Linken“ einzugehen, nicht in der Analyse berücksichtigt: Noch immer dominieren Schwarz-Grün und Schwarz-Rot das Koalitionsspiel.

Koalitionsoption SPD schließt Koalition mit der „Linken“ aus SPD schließt Koalition mit der „Linken“ nicht aus
CDU und GAL 48,9% 42,2%
CDU und SPD 48,5% 41,9%
CDU-Minderheits-
regierung
1,9% 1,6%

 

Ein Grund für den „Gleichstand“ beider Parteikombinationen liegt in den programmatischen Unterschieden zwischen den Hamburger Parteien. Trotz der – im Vergleich zu anderen Landesverbänden der Union – sehr moderat ausgerichteten Hamburger CDU waren die Schnittmengen zwischen GAL und Union aufgrund ihrer Wahlprogramme deutlich geringer als zwischen SPD und Grün-Alternativen. Dies gilt sowohl für wirtschafts- und sozialpolitische Fragen als auch für das Politikfeld Gesellschaft, das auch die insbesondere für Hamburg relevante Bildungspolitik mit abdeckt. Wenn sich die programmatischen Positionen von CDU und Grünen nicht maßgeblich annähern, worauf momentan nichts hindeutet, dann wird Schwarz-Grün mittelfristig keine stabile Konstellation sein. Ob dies auch für „Jamaika-Koalitionen“ gilt, wird die Entwicklung des Bündnisses aus CDU, FDP und Grünen an der Saar in den kommenden Monaten zeigen.

 

„Stuttgart 21“ in den Programmen der baden-württembergischen Parteien seit 1992: Kein zentrales Thema der Grünen

Durch das Vermittlungsverfahren zum Großbauprojekt „Stuttgart 21“ hat sich – wohl auch aufgrund des (zumindest zeitweise) rollenden Castor-Transports – die Lage am Hauptbahnhof in der baden-württembergischen Landeshauptstadt wieder etwas beruhigt. Dennoch bleibt das Thema auf der Agenda und wird eine, wenn nicht die zentrale Rolle im Landtagswahlkampf im kommenden Frühjahr 2011 spielen. Ein Aspekt, der in der Debatte um das Ausmaß der Demonstrationen immer wieder aufkam, war die Behauptung, dass die das Projekt befürwortenden Parteien und die Landesregierung von Baden-Württemberg in den letzten Jahrzehnten ihre Haltungen zu „Stuttgart 21“ nicht deutlich genug kommuniziert hätten und daraus die momentanen Verwerfungen zwischen einem Teil der (Stuttgarter) Bürgerinnen und Bürger einerseits und CDU, FDP sowie der SPD andererseits entstanden sind. Haben Christ-, Sozial- und Freidemokraten im Südwesten wirklich dieses Thema in den letzten Jahren derart missachtet und ihre Haltungen nicht deutlich genug gemacht? Sind wirklich die Bündnisgrünen die einzige Partei, die ihre ablehnende Haltung gegenüber dem Bauprojekt über einen langen Zeitraum hinweg deutlich gemacht hat?

Ein Blick in die Wahlprogramme der Parteien seit 1992 sowie in die Koalitionsabkommen der Landesregierungen kann ein wenig Licht ins Dunkel bringen. Man kann relativ einfach über die Häufigkeit der Wörter, die sich auf „Stuttgart 21“ explizit bzw. auf Infrastrukturmaßnahmen im baden-württembergischen Schienennetz allgemein beziehen, die Bedeutung dieses Themas für die Parteien bzw. – wenn man das Koalitionsabkommen heranzieht – für die Landesregierungen messen. Dabei zeigen sich erstaunliche Ergebnisse: so sind die Grünen in Baden-Württemberg mitnichten die Partei, die dieses Themengebiet am häufigsten in ihren Programmen nennt. Bei der Landtagswahl 1992 waren dies vor allem FDP und SPD: 1,6 bzw. 1,4% der Wörter in den Wahlprogrammen beider Parteien bezogen sich auf den Ausbau des Schienennetzes und dabei die – aus der Sicht dieser Parteien bestehende – Notwendigkeit, Stuttgart und den Stuttgarter Flughafen besser an den Bahn-Fernverkehr anzubinden. Auch 0,7% des Wahlprogramms der Union gingen inhaltlich in diese Richtung. Hingegen bezogen sich nur 0,1% der Wörter im Wahlprogramm der Grünen 1992 auf das Thema von Aus- und Neubau von Schienenstrecken. Zwar widmeten die südwestdeutschen Grünen zu den Landtagswahlen 1996 und 2001 diesem Thema mehr Raum in ihren Wahlprogrammen, allerdings war der Anteil inhaltlicher Aussagen zu „Stuttgart 21“ 1996 bei SPD und FDP sowie fünf Jahre später bei den Sozialdemokraten noch immer deutlich höher als in den Dokumenten der Grünen. Zur Wahl des Landesparlaments 2006 ging der Anteil an Wörtern, die sich auf Bahnbauprojekte in Baden-Württemberg bezogen, bei den Grünen im Vergleich zu 2001 sogar von 1% auf 0,6% zurück, wohingegen neben der SPD auch die CDU dieses Issue in höherem Ausmaß ansprachen.

Es gilt somit festzuhalten, dass die Grünen in Baden-Württemberg auf keinen Fall die Partei bei den vergangenen Landtagswahlen waren, die dieses Thema in ihren Wahlprogrammen in besonders hervorgehobener Weise angesprochen und problematisiert hatten. Dies taten auch – und noch dazu in zum Teil deutlich größerem Ausmaß – SPD, Liberale und die Christdemokraten. Zudem widmet sich ein nicht unerheblicher Teil der Koalitionsabkommen den Themengebieten „Schienennetz“ und „Stuttgart 21“ in sehr expliziter Form. Letzteres gilt insbesondere für den „schwarz-roten“ Koalitionsvertrag aus dem Jahr 1992, aber auch für das zweite christlich-liberale Koalitionsabkommen von 2001. Somit mögen zwar von Seiten der Landesregierung und der sie tragenden Parteien das Thema „Stuttgart 21“ und seine Implikationen nicht in ausreichender Form während der Legislaturperiode der Wählerschaft kommuniziert worden sein. Allerdings haben alle Parteien – insbesondere SPD, FDP und auch die CDU – ihre inhaltlichen Positionen zu diesem Thema im Durchschnitt seit 1992 mehr Gewicht in den Wahlprogrammen beigemessen als es die Grünen taten. Es scheint daher so, als ob die Grünen die wahlstrategische Bedeutung von „Stuttgart 21“ erst mit der Kommunalwahl 2009 entdeckt haben und nun versuchen, durch die explizite Herausstellung dieses Themas bei der Landtagswahl 2011 auf Stimmenfang zu gehen. Ob sich die Abkehr der SPD von Stuttgart 21 – „für die rasche Realisierung der Schnellbahntrasse Stuttgart/Ulm“ (SPD-Wahlprogramm 1992); „Mit „Baden-Württemberg 21“ das Land zum Treffpunkt Europas machen“ (SPD-Wahlprogramm 2001) – auszahlen wird, kann eher bezweifelt werden. Wähler mögen es in der Regel nicht, wenn Parteien inhaltliche Positionen auf einmal ins Gegenteil verkehren.

 

Der vergangene Freitag in Stuttgart aus sozialwissenschaftlicher Perspektive, oder: „Gut, dass mer gschwätzt hän“

AndreaDemokratien werden in den Sozialwissenschaften an (mindestens) zwei Kriterien gemessen: An ihrer Effizienz und an ihrer Responsivität. Das Regieren ist heutzutage durch trans- und suprantionale Zusammenschlüsse geprägt und steht unter dem Eindruck von Internationalisierung und Globalisierung. Die Themen und Problemlagen gewinnen dadurch an Komplexität. So ist der Aspekt der Effizienz in jüngerer Vergangenheit verstärkt in den Vordergrund gerückt: Wie können Staaten mit Blick auf die genannte Komplexität einerseits und ihre begrenzten Ressourcen andererseits die Ziele erreichen, die sie sich setzen? Darüber hinaus haben wir nun aber am vergangenen Freitag erlebt, wie wichtig auch die Responsivität nach wie vor ist: Ist der Staat in der Lage, Forderungen und Kritik seiner Bürger aufzunehmen und seine Entscheidungen klar zu kommunizieren? Lange wurde dieser Prozess als Kernaufgabe der Parteien verstanden. Der offene Dialog zu Stuttgart 21 zeigt nun aber neue Wege auf, wie man auf die Bedürfnisse der Bürger eingehen kann.

Fassen wir den Freitag kurz einmal zusammen: Im Ergebnis nichts Neues, aber eine Art von Befriedung. Auf gut schwäbisch: „Es isch nix rauskomme, aber gut, dass mer gschätzt hän“! Positiv formuliert bedeutet dies, dass wohl in Zukunft kein Großprojekt mehr durchgeführt werden kann, ohne dass Bürgerinnen und Bürger in der Planungsphase ernsthaft und nachhaltig eingebunden werden.

Die konkrete Ausgestaltung dieser Prozesse muss kontinuierlich diskutiert und verbessert werden. Das Verfahren in Stuttgart ist vermutlich noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Für die Frage, wie solche Verfahren dauerhaft in die politische Entscheidungsfindung eingebunden werden können, lohnt der Blick in die Schweiz. Und zwar nicht auf die derzeit sehr populären Volksentscheide, die auch in Zusammenhang mit Stuttgart 21 immer wieder als Beispiel bemüht werden. Eher sollten wir von den Erfahrungen der Schweizer mit einem anderen festen Bestandteil ihrer Demokratie lernen: Das sogenannte Vernehmlassungsverfahren ist – Nuancen und Details beiseite gelassen – die Vorab-Prüfung eines Großprojektes durch alle relevanten Gruppen, Befürworter wie Gegner. In der Sprache der Schweizer Bundesbehörden geht es um „Vorhaben des Bundes von erheblicher politischer, finanzieller, wirtschaftlicher, ökologischer, sozialer und kultureller Tragweite“, die „auf ihre Akzeptanz, auf ihre sachliche Richtigkeit und auf ihre Vollzugstauglichkeit hin geprüft werden.“

Bürgerinnen und Bürger werden also schon bei der Ausgestaltung eines Projektes mit an Bord geholt – quasi in einer institutionalisierten Form der Bürgerbeteiligung. Dies ist nicht gleichzusetzen mit dem bei uns gültigen Planfeststellungsvefahren. Dies ist ein Verwaltungsverfahren, welches für Bauvorhaben vorgesehen ist. Die Bürger haben zwar die Möglichkeit, sich bei der zuständigen Anhörungsbehörde einzuschalten – allerdings nicht schon bei der Ausgestaltung des Plans, sondern erst nach der Veröffentlichung des Vorhabens. Dies ist ein erheblicher Unterschied.

Gehen wir also noch einmal zurück zum Freitag in Stuttgart: Ging es wirklich um Responsivität oder war das mehr eine kleine Demokratie-Show? Vermutlich beides. Man sollte jedoch zugestehen, dass sich momentan alle Beteiligten in einem Lernprozess befinden. Und dadurch ergibt sich eine spannende Situation, welche die Politik ansonsten so gut es geht zu vermeiden sucht: Unsicherheit. Natürlich haben der Ministerpräsident und viele andere stets betont, dass der Umbau des Bahnhofes im Kern nicht verhandelbar sei. Allerdings können das nicht einmal die zentralen Akteure wirklich einschätzen, weil sie schlichtweg zu wenig Erfahrung mit solchen Verfahren haben und somit auch nicht wissen können, welche Dynamiken sich im Zuge eines solchen „joint fact finding“ ergeben können – von der nächsten Stufe des Prozesses (über die ja bisher nur wenig bekannt ist) einmal ganz zu schweigen.

Insofern ist die Botschaft „Gut, dass mer gschwätzt hän“ gar nicht so gering, wie sie sich zunächst anhören mag. Denn solange geredet wird, können sich die Prozesse entwickeln – und werden uns vielleicht noch ein ums andere mal überraschen…

 

Paradoxes Wählerverhalten in Wien: Warum punktet eine rechtsextremistische Kampagne bei Wählern mit Migrationshintergrund?

Gastbeitrag von Felix Lill

„Eigentlich hab‘ ich ja nichts gegen Ausländer, aber…“ In Wien ist dieser Satz nicht selten zu hören. Dann werden die klassischen Argumente aufgezählt, obwohl keine empirische Evidenz für sie spricht: „Die nehmen unsere Arbeitsplätze weg“, „die fressen unsere Renten auf“, „die sind kriminell“, „jetzt dürfen sie auch noch in den Gemeindebauten wohnen, die wir von unseren Steuern bezahlen“…

Bei den Wiener Gemeinderatswahlen am 10. Oktober hat die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) nicht durch Zufall über 26% gewonnen. Eigentlich ist das Ergebnis nichts Neues: Erst vor zwei Jahren, bei den österreichweiten Nationalratswahlen, gewannen die rechtspopulistischen Parteien, FPÖ und die Splitterpartei BZÖ (Bündnis Zukunft Österreich), zusammen sogar leicht über 28%. Zu Lebzeiten Jörg Haiders, dessen Tod erst zwei Jahre her ist, war Rechtspopulismus ohnehin salonfähig. Haider konnte vor knapp zehn Jahren sogar mit der konservativen ÖVP auf Bundesebene koalieren. Aber nach Jörg Haiders Tod glaubten viele, das Thema sei so langsam vom Tisch.

Der jüngste Wahlkampf, den der FPÖ-Spitzenkandidat Heinz Christian Strache geführt hat, ist der bisher wohl rechtsextremistischste gewesen. Wahlslogans lauteten: „Mehr Mut für unser Wiener Blut – Zu viel Fremdes tut niemandem gut“ oder „Sarrazin statt Muezzin“. So weit ging es, dass Neonazis auf Websites ihr Gefallen an Strache bekundeten, der ihnen sonst immer zu milde gewesen war. Aber auch in breiten Teilen der österreichischen Bevölkerung, beobachtet das Nachrichtenmagazin „profil“ in seiner aktuellen Ausgabe, herrscht ein durch Tatsachen nicht zu begründendes Gefühl der ständigen Benachteiligung vor. Ein beliebter Sündenbock sind immer wieder „die Ausländer.“

Laut einer Umfrage des Sozialforschungsinstituts SORA und des Instituts für Strategieanalysen ISA war für 68% der FPÖ-Wähler der Anti-Zuwanderung-Standpunkt ein zentraler Grund für ihre Stimmentscheidung; über ein Drittel nannten auch explizit die islamophobe Haltung der Partei.

Interessant ist aber, dass von den wahlberechtigten Wienern mit Migrationshintergrund, die rund ein Viertel aller Wahlberechtigten ausmachten, immerhin 16% die FPÖ wählten – das sind 3% Stimmenanteil mehr als die Grünen und 2% mehr als die ÖVP von dieser Gruppe erhielten. Das ist zwar weniger als bei einigen vorigen Wahlen, aber angesichts des eindimensionalen und extrem ausländerfeindlichen Wahlkampfes der FPÖ auf den ersten Blick erstaunlich.

Werden Wähler mit Migrationshintergrund auf ein solches Stimmverhalten angesprochen, begründen sie dies typischerweise mit Selbstschutz: Weitere Zuwanderung vermeiden, mit harter Hand gegen die Klischees straffälliger Migranten angehen, nicht in einen Topf mit den Fremden, den Zuwanderern geworfen werden. Definiert man Wahlberechtigte mit Migrationshintergrund als eine Wählergruppe, ist hier bei einem beträchtlichen Anteil ein adverses Verhalten beobachtbar: Anstatt sich gegen die Hetze von Straches FPÖ stark zu machen, wollen jene 16% lieber zum (österreichischen) Kern der Gesellschaft gehören. Im Resultat dürfte das auf Kosten aller Wiener Bürger mit Migrationshintergrund gehen, denn das Gros der FPÖ-Wähler wird nicht wissen oder gar unterscheiden, welcher Türke oder Serbe nun sein Kreuz für die FPÖ gemacht hat. Rechtsextremismus, von dem jene Wiener mit Migrationshintergrund am wenigsten profitieren, könnte so durch eigenes Zuarbeiten aufflammen.

Zwar bleibt Michael Häupl (SPÖ) Wiener Bürgermeister, aber mehr als ein Viertel der Wiener wird nun von der FPÖ repräsentiert. Womöglich werden bald auch von einigen Türken, Polen, und Abstämmigen des ehemaligen Jugoslawiens diese Sprüche zu hören sein: „Ich hab‘ ja nichts gegen Ausländer. Aber…“

Felix Lill hat Volkswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität Wien sowie Philosophie der Sozialwissenschaften an der London School of Economics studiert und absolviert derzeit ein Master-Programm an der Hertie School of Governance in Berlin. Seit mehreren Jahren arbeitet er als freier Journalist, u.a. für Die Presse, Tages-Anzeiger, taz und Spiegel Online. In diesem Jahr wurde er mit dem österreichischen Sportjournalistenpreis in der Kategorie „Print“ ausgezeichnet.

 

Eine kulturelle Konfliktlinie

Spätestens seit dem Regierungsantritt der Großen Koalition im Jahr 2005 hatte die CDU/CSU ihre bis dato ausländerkritische Haltung zugunsten einer Integrationsoffensive (Integrationsgipfel, Islamkonferenz) zurückgestellt. Die beiden Unionsparteien schienen (endlich) in der Realität der „Einwanderungssituation ohne Einwanderungsland“ (Klaus Bade) angekommen zu sein, die sie mehrheitlich fast eine ganze Generation lang negiert hatten. Als „Anerkennung und Eingliederung anstatt Ignoranz und Ausgrenzung“ könnte man diese Phase der unionsgeführten Migrationspolitik überschreiben. Das vorläufige Ende dieser Phase wurde vom neuen Bundespräsidenten Christian Wulff eingeläutet, indem er bei Amtsantritt nicht nur – wie vor ihm bereits Johannes Rau – erklärte, Präsident aller in Deutschland lebenden Personen zu sein, sondern dadurch, dass er am Tag der Deutschen Einheit darüber hinaus feststellte, dass der Islam inzwischen zu Deutschland gehöre.

Dass diese – in der Beschreibung korrekte – Äußerung nun zu einer Art „Backlash“ in den Reihen der Union, einer reflexartigen Gegenpositionierung hinter eine vor allem von der CDU mühevoll errungene, realitätsnähere Politikposition führt, hat situative, strategische, aber auch im Parteienwettbewerb fest verankerte Gründe. Die situativen Gründe sind offenbar: Die Regierung hatte einen katastrophalen Start, von dem sie sich – für viele Beobachter überraschend -, bislang nicht erholen kann. Mit der Steuer-, Atom- und Gesundheitspolitik macht sich Schwarz-Gelb bislang wenig Freunde, und mit Stuttgart 21 hat sich auch noch eine „baugleiche“ Landesregierung ins Taumeln geprügelt. Selbst Stammwähler von Union und FDP geraten derzeit ins Grübeln darüber, ob sie diese Politik unter Anwendung dieser Mittel noch gutheißen können.

Aus strategischer Sicht spiegelte der Wandel der Union zu einer grundsätzlich zuwanderungsoffenen, in jedem Fall aber integrationsbejahenden Inländer-Partei auch den Wunsch wider, für Deutsche mit Migrationshintergrund, die inzwischen ein erhebliches Wählerpotenzial darstellen, wählbar zu werden. Die wenigen Analysen, die sich 1999-2002 mit dem Wahlverhalten von Migranten in Deutschland beschäftigt haben, kommen zum Schluss, dass die Union zwar unter den Aussiedlern und Spätaussiedlern hohe Stimmenanteile (über 60 Prozent) erhalten hat, dass sie jedoch unter ehemaligen ausländischen Arbeitnehmern und insbesondere unter türkeistämmigen Wählern chancenlos ist (rund 10 Prozent). Während die Zahl der wahlberechtigten Spätaussiedler stagniert, nimmt die Zahl der wahlberechtigten Türkeistämmigen zu. Und neueste Untersuchungen zur Bundestagswahl 2009 (in Vorbereitung) geben Grund zur Annahme, dass die hohe Zustimmung für die CDU/CSU bei Russlanddeutschen deutlich nachlässt, während Gewinne der Union bei den Türkeistämmigen marginal sind. Die Tatsache, dass die leicht veränderte Migrationspolitik an der Wahlurne keine Früchte trägt, ist ein möglicher Grund für die erneute Positionsänderung der Union. Der andere, wahrscheinlich gewichtigere Grund ist der vermeintlich „rechte“ Rand der Bevölkerung, den man zusätzlich zu Teilen der politischen Mitte nicht auch noch verlieren möchte. Die Union fürchtet nicht nur den alten Bahnhof, sondern auch einen deutschen Geert Wilders und vor allem den Verlust von Regierungsmehrheiten bei Landtagswahlen, der auch Auswirkungen auf die Regierungsstabilität im Bund haben würde.

Doch der eigentliche Konflikt, der zunächst in den Äußerungen des bayerischen Ministerpräsidenten offenbar wurde, sitzt deutlich tiefer. Den Unionsparteien ist es bislang gelungen, die Vorstellung einer ethnisch-kulturell homogenen Gesellschaft mit ihrem Parteinamen exklusiv und gleichzeitig wählbar zu verbinden. So erstaunt es nicht, dass eine Analyse der Einstellungen der Bundestagskandidatinnen und -kandidaten des Jahres 2005 ergab, dass die Parteizugehörigkeit zur CSU einerseits und zu den Grünen andererseits, Extrempositionen in der Frage des Zuzugs von Einwanderern aus demographischen und ökonomischen Gründen darstellen. Während also Grünen-Politiker aufgrund des Arbeitsmarktes und der demographischen Entwicklung häufig die Notwendigkeit von Zuwanderungsregelungen sehen, sind CSU-Politiker selten dieser Ansicht. Insofern sagt Horst Seehofer nur das, was in seiner Partei gedacht wird. Und auch bei der Frage nach kultureller Anpassung von Einwanderern an die deutsche Gesellschaft nehmen die Kandidatinnen und Kandidaten von CSU und Grünen gegensätzliche Positionen ein, werden allerdings von den Politikern einer jeweils anderen Partei überboten: CDU und Linkspartei. Folglich überrascht es nicht, dass sich große Teile der CDU gegen die Vorstellung aussprechen, kulturelle Differenz sei Teil des christlichen Abendlandes (und müsste folglich mehr oder minder akzeptiert werden). Aus der wertfreien Perspektive eines Parteienwettbewerbs, der unterschiedliche Politikangebote machen sollte, ist gegen solch klare Positionen überhaupt nichts einzuwenden – im Gegenteil: Die Bürger wollen wissen, wofür und wogegen die Parteien stehen.

Langfristig betrachtet handeln CDU und CSU im wahrsten Sinne konservierend: Sie sind Wächter und Anbieter der gesellschaftlichen Vorstellung einer deutschen Nicht-Einwanderungsgesellschaft. Damit können sie den Großteil ihrer Stammwähler wahrscheinlich halten, sofern diese ihnen der Exkurs auf den Integrationsgipfel nicht nachtragen. Doch zu welchem Preis? Die mittel- und langfristigen Kosten eines solchen ethnisch-kulturellen Reflexes sind hoch, denn die Gesellschaft ist längst nicht mehr monokulturell oder gar monoethnisch (sie war es auch nie). Und für viele Wahlberechtigte mit Migrationshintergrund wird es schwierig bleiben, einer Partei mit einem im Kern monoethnischen Gesellschaftsbild die Stimme zu geben. Für Muslime wird es nochmals schwieriger, denn es handelt sich auch noch um explizit christliche Parteien.

Die vielleicht interessantesten Reaktionen auf diese neuerliche Migrationsdebatte kommen von der FDP. Der Generalsekretär distanziert sich heute in der FAZ von ethnisch-religiösen Argumentationslinien und fordert „Eine republikanische Offensive“. Dazu gehöre sowohl eine Entkoppelung christlicher Konfessionen vom Staat (u.a. mit Blick auf die Kirchensteuer) als auch die Wahrnehmung kultureller Vielfalt als Freiheitsgewinn. Und Wirtschaftsminister Brüderle legt nach, indem er das bereits intensiv diskutierte, aber nicht eingeführte Punktesystem für (Arbeits)Migration wiederbelebt. Ein wenig hat es den Anschein, als versuche die FDP, sich in einem Politikfeld zu profilieren, in dem ihre Politiker bislang Mittelpositionen einnahmen und folglich kaum wahrgenommen wurden. Fakt ist aber auch, dass die FDP bei Integrationsfragen in der Regierung Kohl wiederholt kleinbei gab und damit ihre eigenen Ausländerbeauftragten beschädigte. Ein wenig sieht es schließlich aus, als wollten sich die Regierungsparteien gezielt unterschiedlich positionieren, um verschiedene Wählerklientele besser ansprechen zu können. Mitentscheidend wird dabei sein, wie authentisch sie dies tun werden. Es bleibt abzuwarten, ob die Migrationspolitik im Sinne einer Konzeptualisierung von diesen vermeintlich politischen Manövern profitieren wird.

Literatur:
Wüst, Andreas M.: Das Wahlverhalten eingebürgerter Personen in Deutschland, Aus Politik und Zeitgeschichte B52/2003, S. 29-38.
Wüst, Andreas M.: Bundestagskandidaten und Einwanderungspolitik: Eine Analyse zentraler Policy-Aspekte, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 19 (1), 2009, S. 77-105.

 

„Warum erst jetzt?“ – Stuttgart 21 stand schon vor der großen Protestwelle auf wackeligen Beinen

AndreaIn einigen Beiträgen zu Stuttgart 21 klingt an, dass die Ausbau-Gegner derzeit massiv mobilisieren und dadurch die politische Stimmung nachhaltig beeinflussen – manche Kommentatoren verknüpfen damit sogar die Schicksale von Politikern und Regierungen. Beispielsweise erregte eine Umfrage des „Stern“ große Aufmerksamkeit, die sowohl in Stuttgart als auch in ganz Baden-Württemberg Bevölkerungsmehrheiten gegen das Projekt ermittelte. Dabei wird häufig davon ausgegangen, dass diese Änderung des Stimmungsbildes im Zuge der Proteste erfolgt sei – und dies wiederum wirft die Frage auf, warum die Gegner des Projektes erst seit kurzer Zeit so präsent sind, obwohl das Projekt doch schon seit 15 Jahren auf der öffentlichen Agenda steht.

Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, einen genaueren Blick auf die diversen Umfragedaten zu Stuttgart 21 zu werfen: In der Bürgerumfrage „Leben in Stuttgart“, die vom Statistischen Amt der Stadt Stuttgart im Frühjahr 1995 durchgeführt wurde, standen 51% der Stuttgarterinnen und Stuttgarter hinter dem Großprojekt – 30% der Befragten hielten Stuttgart 21 für eine „sehr gute“, immerhin 21% für eine „gute“ Maßnahme. Andererseits sahen rund 30% das Projekt skeptisch (21% fanden es „sehr schlecht“, weitere 9% „schlecht“) und immerhin 18% waren unentschieden. Schon damals konnte man also nicht gerade von einer breiten Unterstützung für das Projekt sprechen.

Dieses uneinheitliche Stimmungsbild verschlechterte sich schrittweise über die Jahre hinweg. Im Jahr 2007 – also noch vor der großen Wirtschafts- und Finanzkrise, die möglicherweise eine allgemein skeptische Stimmung hätte verursachen können – hatten einer groß angelegten Stuttgarter Bürgerumfrage zufolge nur noch 31% der Stuttgarter eine „gute“ oder „sehr gute“ Meinung über das Projekt. Ihnen standen 48% gegenüber, die eine „schlechte“ oder „sehr schlechte“ Meinung hatten. In einer weiteren Bürgerumfrage im Sommer 2009 manifestierte sich dieser Trend, der Anteil der „guten“ und „sehr guten“ Meinungen zu S21 ging noch einmal leicht zurück, auf 29%, der Anteil „schlechter“ und „sehr schlechter“ Meinungen lag fast unverändert bei 47%.

Vergleicht man diese Zahlen mit dem Ergebnis der Stern-Umfrage (51% aller Baden-Württemberger bzw. 67% der Stuttgarter stimmten dort gegen S21, 26% der Baden-Württemberger und 30% der Stuttgarter dafür*), so wird deutlich, dass die Proteste der vergangenen Monate zwar die vorhandene Skepsis gegenüber S21 sichtbar gemacht haben. Die Überzeugung von Befürwortern oder Unentschiedenen hielt sich jedoch in Grenzen: Mobilisierung ja, Konvertierung nein.

Anders gesagt war die Gruppe der Skeptiker schon seit längerer Zeit beachtlich, sie hat es aber nicht geschafft, im politischen Prozess Gehör zu finden. Auch die meisten Parteien haben das Vorhaben unterstützt. Erst als der Protest auf die Straße verlegt wurde, wurden aber auch die Kritiker von Stuttgart 21 wahrgenommen.

Was bedeutet dies nun für die aktuelle Debatte? Der eingangs dargelegte Gedanke, dass das Projekt bereits seit 15 Jahren diskutiert werde, ist Grundlage des zentralen Arguments der Ausbau-Befürworter: Sie sagen, dass der Planungsprozess über die Jahre hinweg bereits alle Gruppen angehört und alle demokratischen Instanzen durchlaufen habe, daher dürfe er nun nicht einer Stimmungsdemokratie geopfert werden. Faktisch gab es aber offensichtlich nur unzureichende Möglichkeiten für die Ausbau-Gegner, ihre Argumente vorzutragen. Das politische System war nicht in der Lage, diese Stimmen und Stimmungen einzufangen.

Diese Beobachtung alleine ist noch kein Grund, das bisherige (zweifellos demokratisch legitimierte) Verfahren in Frage zu stellen. Sie gibt allerdings Anlass dazu, sich nicht allzu sehr an die gefassten Beschlüsse zu klammern, sondern das Schlichtungsverfahren ergebnisoffen zu gestalten.

*Vielen Dank für die Hinweise auf den Zahlendreher, die Passage wurde korrigiert.