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Wahlprogramme als Sprachtest? Die Verständlichkeit der Bundestagswahlprogramme im Vergleich

Am 28. Juni haben mit CDU und CSU die beiden letzten der im Bundestag vertretenen Parteien ihr Wahlprogramm für die Bundestagswahl vorgelegt. Wie schon bei der Europawahl haben Kommunikationswissenschaftler der Uni Hohenheim in Kooperation mit der Ulmer Kommunikationsberatungsagentur CommunicationLab nun die fünf vorliegenden Wahlprogramme genauer unter die Lupe genommen: Wie verständlich sind die Programme insgesamt? Welche Themen werden verständlicher behandelt, welche weniger verständlich? Und was sind die Gründe für mangelnde Verständlichkeit?

Im Vergleich zur Europawahl können die Programme der meisten Parteien erfreulicherweise als verständlicher bezeichnet werden. Nur die Verständlichkeit des Programms der Union fällt hinter die Verständlichkeit des CSU-Programms zur Europawahl zurück. Am verständlichsten ist das Bundestagswahlprogramm der Grünen (11,0 von möglichen 20 Punkten), dicht gefolgt vom Programm der SPD (10,5). Deutlich schlechter schneiden bereits die Wahlprogramme von Union (8,6) und FDP (8,4) ab, das mit Abstand unverständlichste Wahlprogramm legt jedoch die Linke vor (6,5). Betrachtet man die Verständlichkeit der einzelnen Themenbereiche, so fällt auf, dass bei fast allen Parteien Einleitung und Schlussteil sowie die Passagen zum Selbstverständnis am verständlichsten formuliert wurden. Unter den unverständlichsten Teilen hingegen finden sich besonders häufig die beiden Themen Gesundheitspolitik und Verteidigungspolitik.

Verständlichkeit der Bundestagswahlprogramme im Vergleich

Die Gründe für die mangelnde Verständlichkeit vieler Abschnitte der Wahlprogramme liegen v.a. in einer häufig zu hohen Wort- und Satzkomplexität sowie der Verwendung von Fachsprache. Die Folge: Leser mit niedrigerer Bildung und geringem politischen Vorwissen dürften bei der Lektüre der meisten Wahlprogramme nach Kurzem kapitulieren. Dies lässt sich anhand einiger Beispiele eindrucksvoll unterstreichen. So versucht die Union ihre potenziellen Wähler u.a. mit dem folgendem Argument zu überzeugen: „Für Kreditzusagen an eine nicht konsolidierte Zweckgesellschaft müssen grundsätzlich die gleichen Eigenkapitalvorschriften gelten wie für Aktiva vergleichbaren Risikos in der Bilanz.“ Ähnlich unverständliche Formulierungen finden sich auch bei der FDP: „Der konsequente Weg zur Aufdeckung von Ineffizienzen bei der Erhebung von Netzentgelten wird weiterverfolgt und eine weitergehende Entflechtung der Energienetze angestrebt.“ Beide Beispiele vereint auch eine weitere Gemeinsamkeit, die zu mangelnder Verständlichkeit füht: Klare Verantwortlichkeiten werden häufig durch die Vermeidung von „Wir“-Aussagen umgangen, stattdessen werden Passivkonstruktionen oder „Man“-Aussagen verwendet. Doch auch einzelne, nicht weiter erläuterte Fachbegriffe dürften einige Leser zur Verzweiflung treiben. So lobt die SPD die „britische Stempelsteuer“, die Grünen empfehlen ihr „Progressivmodell“, die Linke kritisiert „Agroenergie-Importe“ und die Union warnt vor „prozyklisch wirkenden Regeln“.

Auch bei den Bundestagwahlprogrammen besteht jedoch, wie schon bei den Europawahlprogrammen, Anlass zur Hoffnung: So planen fast alle Parteien die Veröffentlichung von Kurzversionen ihrer Programme (was angesichts eines Umfangs von über 200 Seiten insbesondere bei den Grünen eine gute Idee sein dürfte). Die SPD war dabei am schnellsten und präsentiert jetzt bereits die acht zentralen Ziele ihres Wahlprogramms. Deren Verständlichkeit legt die Messlatte für die Kurzprogramme der anderen Parteien hoch: Mit einem Wert von 16,3 auf dem Hohenheimer Verständlichkeitsindex kommt die SPD nahe heran an die durchschnittliche Verständlichkeit von Politik-Beiträgen der Bild-Zeitung (16,8). Ob damit auch der Informationsgehalt der Kurzprogramme auf Bildzeitungsniveau sinkt, soll in Folgestudien der Hohenheimer Forscher untersucht werden.

Weitere Informationen
Wahlprogramm-Check 2009 der Uni Hohenheim (auch Europawahl- und Kommunalwahl-Analyse)

Bundestag will sich in Zukunft bei Gesetzen von Sprach-Experten beraten lassen

Änderungsantrag der Grünen zur Verständlichkeit ihrer Wahlprogramme

CDU will Anglizismen bekämpfen

 

Der Oskar-Code

Der Wahlkampf im Saarland nimmt außergewöhnliche Züge an. Der ehemalige SPD-Ministerpräsident Reinhard Klimmt organisiert derzeit eine Unterschriften-Aktion für Heiko Maas, in der sich alle ehemaligen SPD-Minister des Landes offen zum SPD-Kandidaten bekennen sollen. In jedem anderen Bundesland käme dies einem Offenbarungseid gleich, schließlich sollte die Unterstützung ehemaliger Minister für ihre Partei eine Selbstverständlichkeit sein. Im saarländischen Wahlkampf 2009 könnte dieses Signal an die Wählerschaft jedoch tatsächlich den gewünschten Effekt entfalten: Es geht darum, die zur Linkspartei abgewanderten Wähler wieder für die SPD zu gewinnen.

Das Kalkül lautet folgendermaßen: Viele Wähler sind auch deshalb bereit, die Linke zu wählen, weil diese Partei in Person des ehemaligen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine die politischen Erfolge vergangener SPD-Regierungen für sich reklamiert. Daher gilt es nun klar zu machen, dass diese Erfolge nicht auf die Person Lafontaine, sondern auf die Regierungspartei SPD zurückzuführen sind. Stellvertretend dafür werden die sozialdemokratischen Kabinettsmitglieder der Lafontaine-Ära angeführt, die die damaligen politischen Entscheidungen geschultert und verantwortet haben.

Das Stimmenpotenzial, das dieser Frage innewohnt, lässt sich erahnen, wenn man das saarländische Ergebnis der Europawahl der jüngsten Umfrage zu Landtagswahl von Infratest dimap gegenüberstellt und sich dabei vor Augen hält, dass die Zugkraft des Spitzenkandidaten Lafontaine auf Landesebene sehr viel größer ist als im Rahmen der Europawahl.

Saarländische Umfrage- und Wahlergebnisse im Vergleich

Angaben in Prozent. Quellen: Infratest dimap und Bundeswahlleiter.

Es zeigt sich, dass die Linkspartei bei der Europawahl sechs Prozentpunkte weniger erreicht hat, als ihr in Umfragen zur Landtagswahl zugetraut wird. Davon konnte jedoch keine der etablierten Parteien profitieren, stattdessen teilen sich diese sechs Prozentpunkte unter den kleinen Parteien auf. Beispielsweise konnten die Freien Wähler, die Piraten- und die Rentnerpartei aus dem Stand zusammen knapp drei Prozent der Stimmen erringen.

Diese Differenz zwischen Umfragedaten und Wahlergebnis der Linkspartei kann natürlich nicht allein auf das Zugpferd Lafontaine zurückgeführt werden, schließlich standen bei der Europawahl nicht nur andere Personen, sondern auch andere Themen im Vordergrund. Ein weiteres klassisches Argument gegen die Übertragbarkeit von Europawahlergebnissen auf die Landesebene ist die zumeist deutlich höhere Wahlbeteiligung bei Landtagswahlen. Dies ist hier jedoch nicht gegeben, das Saarland konnte bei der Europawahl mit 58,6% die höchste Wahlbeteiligung aller Bundesländer verzeichnen. Bei der letzten Landtagswahl 2004 sind 55,5% der Wahlberechtigten an die Urnen gegangen.

So liegt die Vermutung nahe, dass tatsächlich einige Saarländer eher Oskar Lafontaine als der Linkspartei als solcher zugeneigt sind. Diese Menschen haben an der Europawahl nicht teilgenommen, weil keine Partei sie ansprechen konnte. Es bleibt die entscheidende Frage: Wie knackt man den Oskar-Code?

 

Read my lips: no new taxes…

Dieser Wahlkampfspruch von George Bush sen. im Jahre 1988 brach ihm im Wahlkampf 1992 das Genick. Er hatte sein Wahlversprechen nicht einhalten können: Steuererhöhungen in seiner ersten und einzigen Amtszeit waren unausweichlich.

Nun hat sich Angela Merkel dieses Mantra auferlegt – eine Erhöhung der Mehrwertsteuer werde es mit ihr nicht geben. Den neuesten Umfragen zufolge halten viele Bürgerinnen und Bürger dies schon jetzt für unglaubwürdig. So glauben laut dem aktuellen Deutschlandtrend von Infratest dimap vier von fünf Befragten nicht an das Versprechen der Kanzlerin.

Eine solche Reaktion in der Bevölkerung war absehbar – gerade zu einer Zeit, in der die Politik ganz offensichtlich noch kein Patentrezept gegen die Wirtschaftskrise gefunden hat und daher nun unter anderem auch verschiedenste Steuermodelle munter diskutiert. Warum also hat sich die Kanzlerin dennoch zu diesem Schritt entschlossen? Die Antwort liegt in der strategischen Ausrichtung ihrer Partei: Der Bundestagswahlkampf der Union ist ein Kanzlerinnenwahlkampf. Alles ist auf Angela Merkel zugeschnitten, ihre Person soll die Wähler überzeugen. Und dementsprechend muss die Kanzlerin stärker als im letzten Wahlkampf persönlich Themen setzen, der Auftritt eines „Professors aus Heidelberg“, der als externer Experte für einen bestimmten Politikbereich präsentiert wird, ist in diesem Jahr unwahrscheinlich.

Diese Strategie ist gewagt. Aus der Wahlforschung wissen wir, dass das sogenannte „candidate voting“ nicht so weit verbreitet ist, wie man vermuten könnte. Studien zeigen, dass der Einfluss der Spitzenkandidaten auf die Wahlentscheidung der Bürger in den letzten Jahren relativ konstant geblieben ist. Das gilt auch für die bisher vielleicht am stärksten auf eine Konfrontation der Kandidaten zugespitzte Bundestagswahl 2002 – das Duell Schröder gegen Stoiber. Umfragen der Forschungsgruppe Wahlen haben kurz vor der Wahl ergeben, dass nur 30 Prozent der Wähler ihre Entscheidung auf Grund des Kandidaten treffen werden, für 61 Prozent hingegen war die Partei der wichtigere Faktor.

Zudem spielen Inhalte auch dann noch eine wichtige Rolle, wenn sich die Wähler tatsächlich mehr an den Kandidaten als an den Parteien orientieren. Wichtig für den Wähler ist die wahrgenommene Problemlösungskompetenz der Kandidaten. Hier hat Frau Merkel derzeit einen klaren Vorsprung vor Frank-Walter Steinmeier, aber Versprechen wie das zur Mehrwertsteuer könnten diese guten Umfragewerte untergraben. Denn die Wähler können sich offensichtlich nicht vorstellen, wie Frau Merkel die Wirtschafts- und Finanzkrise lösen möchte, ohne Steuern zu erhöhen.

 

Vom Hindukusch an die Wahlurne? Der Afghanistan-Einsatz und die Wahl 2009

Der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan ist nicht sonderlich populär. Wie der jüngste ARD-Deutschlandtrend zeigt, stehen die Deutschen dem Bundeswehreinsatz in Afghanistan mehrheitlich kritisch gegenüber. Rund zwei Drittel der Befragten plädieren dafür, die Bundeswehr aus Afghanistan möglichst schnell abzuziehen. Auch das jüngste ZDF-Politbarometer weist eine, wenngleich weniger deutliche Mehrheit gegen den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr aus. Diese Muster sind nicht neu. Bereits seit einiger Zeit sprechen sich in Bevölkerungsumfragen – je nach Institut und Frageformulierung – deutliche Mehrheiten oder bedeutende Minderheiten gegen die Fortsetzung des Afghanistan-Engagements aus. Folglich könnte eine Partei, der es gelingt, am 27. September die Gegner dieses Bundeswehreinsatzes auf ihre Seite zu bringen, mit erheblichen Stimmengewinnen rechnen. Gibt es realistische Chancen dafür?

Außenpolitische Themen haben es nicht leicht, das Wahlverhalten zu beeinflussen oder gar über den Wahlausgang zu entscheiden. Viele Bürger schenken der Außenpolitik häufig keine allzu große Aufmerksamkeit. Daher sind ihre Urteile über solche Fragen nicht sehr fundiert und recht leicht beeinflussbar. Aus diesem Grund ist bei der Interpretation entsprechender Umfrageergebnisse besondere Vorsicht geboten. Da viele Wahlberechtigte außenpolitischen Themen eine geringe Bedeutung beimessen, lassen sie solche Fragen nicht in ihre letztliche Stimmentscheidung einfließen. Innenpolitische Themen liegen für viele Bürger wesentlich näher. Daher gelten außenpolitische Fragen für die innenpolitische Meinungsbildung im allgemeinen und für Wahlverhalten im besonderen als nicht allzu bedeutsam.

Aber auch zu dieser Regel gibt es Ausnahmen. Man denke nur an die Bundestagswahl 2002. Im Sommer 2002 setzte Gerhard Schröder einen möglichen Krieg im Irak auf die innenpolitische Agenda. In den letzten Wochen vor der Wahl gewann das Thema merklich an Einfluss auf das Wahlverhalten und trug entscheidend dazu bei, dass die rot-grüne Bundesregierung nicht von einer schwarz-gelben Bundesregierung unter Edmund Stoiber abgelöst wurde. Schröder gelang es offenbar, den Bürgern die Wichtigkeit des Irak-Themas vor Augen zu führen und sie dabei auch emotional anzusprechen. Dass gerade letzteres nicht unwichtig ist, zeigen Analysen zum Irak-Krieg 1991. Denn damals sorgte vom Krieg ausgelöste Angst nicht nur dafür, dass die Bundesbürger die Regierungsparteien, die den US-geführten Militäreinsatz unterstützten, schlechter bewerteten. Vielmehr trug Angst sogar dazu bei, dass Bürger langfristige Parteiloyalitäten in Frage stellten. Die innenpolitische Meinungsbildung kann also durchaus erheblich auf die Außenpolitik reagieren.

Ob das im Falle des Afghanistan-Einsatzes gelingen wird, ist damit noch nicht gesagt. Zwar wirbt die Linke seit langem als entschiedene Gegnerin des Bundeswehreinsatzes um Stimmen. Doch scheint sie damit nicht durchzudringen. Das mag zum einen daran liegen, dass das Thema wenige Menschen anspricht. Zum anderen mag eine Rolle spielen, dass ein Votum für die Linke aus anderen Gründen für etliche Bürger kaum in Frage kommt. Würden andere Parteien eine einsatzkritische Position vertreten, stiegen die Chancen für Einflüsse der Afghanistan-Frage auf die Wahlentscheidung. Erst recht würde eine Emotionalisierung des Themas dessen Durchschlagskraft an der Wahlurne erhöhen. Damit wäre etwa dann zu rechnen, wenn die Zahl gefallener Bundeswehrsoldaten dramatisch anstiege oder aber ernstzunehmende Anschlagsdrohungen gegen Deutschland gerichtet würden. So betrachtet, bleibt zu hoffen, dass die Afghanistan-Frage am 27. September wirkungslos bleibt – ausgeschlossen sind solche Effekte freilich nicht.

Literaturempfehlungen

Schoen, Harald, 2004: Der Kanzler, zwei Sommerthemen und ein Foto-Finish. Priming-Effekte bei der Bundestagswahl 2002, in: Frank Brettschneider/Jan van Deth/Edeltraud Roller (Hrsg.), Die Bundestagswahl 2002. Analysen der Wahlergebnisse und des Wahlkampfes, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, 23-50.

Schoen, Harald, 2006: Beeinflusst Angst politische Einstellungen? Eine Analyse der öffentlichen Meinung zum Golfkrieg 1991, in: Politische Vierteljahresschrift 47, 441-464.

 

Piratenalarm

Die Piraten beschäftigen die Leser von ZEIT.ONLINE und den Politik-Ressortleiter der ZEIT. Ein prominenter Neu-Pirat saß heute dagegen mutterseelenallein im Bundestag. Im Plenum musste Jörg Tauss an einem Extratischchen hocken. Und auch im voll besuchten Bundestagrestaurant war überall ein reger Betrieb, nur um Tauss‘ Tisch, der in der Mitte des Saals mit dem Rücken zum Eingang saß, machten alle seine Ex-Kollegen einen demonstrativen Bogen. Wie’s mit den Piraten und Tauss weiter geht, lesen Sie morgen auf ZEIT.ONLINE. Kai Biermann besucht ihren ersten Parteitag.

 

Alte Berliner Republik

Man-o-man, ist die Berliner Republik alt geworden. Ziemlich genau zehn Jahre ist es her, seit der Bundestag das schnuckelige Bonn verlassen hat, um ins hektische Berlin umzuziehen. Inzwischen sind die Abläufe im alten, neuen Reichstag eingeübt, die Gebäude funkeln nicht mehr, mancherorts blättert sogar der Lack.

Aber auch die Protagonisten von damals sind gealtert – und wie. Eine der coolsten Gruppen im politischen Spektrum waren vor rund einem Jahrzehnt die Netzwerker. Das waren Nachwuchspolitiker der SPD, denen die Parlamentarische Linke zu links und der Seeheimer Kreis zu rechts war. Sie gründeten eine kluge Zeitschrift, die Berliner Republik – und fast noch wichtiger: Sie feierten die besten Polit-Partys in der Hauptstadt: hippe Locations, wilde Tänze und Knutschereien der jungen Bundestagsabgeordneten bis tief in die Nacht.

Schnitt, zehn Jahre später: Ein paar Tische sind im Volkspark Friedrichshain aufgestellt. Würstchen bruzzeln auf dem Grill. Die Tanzfläche ist leer. Der Andrang am Eingang überschaubar. Die Berliner Republik feiert Geburtstag. Aber Bundestagsabgeordnete sind diesmal nicht gekommen, jedenfalls nicht zur Begrüßung um 9 Uhr, wie der Redner gallig bemerkt.

Später erscheint dann doch noch eine Hand voll Politiker. Die Tanzfläche betreten sie kein einziges Mal. Die meisten haben inzwischen gute Posten und Kinder, viele stattliche Bäuche. Man lässt sich ein Bier zapfen, nimmt sich ein Würstchen und unterhält sich gediegen. Die Atmosphäre erinnert ein bisschen an einen Gemeindenachmittag. Das ist nicht die Avantgarde, die hier feiert, das ist das Establishment.

Das Netzwerk war in der Ära Schröder nicht unwichtig. Fast alle Reformen des früheren Kanzlers trugen die jungen, pragmatischen Genossen mit – und verteidigten sie an der Basis. Manche hatten sogar hier ihren Ursprung: Vom aktiven Sozialstaat skandinavischer Prägung war in Deutschland zuerst in der Berliner Republik zu lesen.

In Zeiten der Großen Koalition hingegen hat man von den Netzwerkern weniger gehört: Sie stellen inzwischen einige Minister, einen Bundesgeneralsekretär und ein paar Landeschefs. Mit der Macht sind sie spießiger geworden. Revoluzzer waren sie zwar nie. Aber sie haben auch an Neugier und Gestaltungsdrang verloren. All das ist biologisch vollkommen normal. Aber, so denkt man am Biertisch zwischen zwei Genossen, die über Ferienhäuser reden, irgendwie auch ein bisschen traurig.

Auch die Politiker selbst scheinen zu merken, dass der Zahn der Zeit an ihrer Gruppe nagt. Einer, der Generalsekretär in einem Landesverband ist, bemerkt am nächsten Morgen ganz nüchtern: „Wir bekommen nicht mal mehr ordentliche Partys hin. Mein Gott, wir triefen vor Staatstreue.“

 

Für jeden was dabei… willkommen in der Welt der Umfragen.

Dieses Mal ist wirklich für jeden was dabei: Im Willy-Brandt freut man sich über die „aktuelle Stimmung“ im neuesten ZDF-Politbarometer: SPD +4, CDU/CSU -3. Ignorieren wird man dort den ARD-Deutschlandtrend (SPD -2), ärgern wird man sich über die Projektion der Forschungsgruppe Wahlen: Trotz +4 in der – ebenfalls auf der Wahlabsichtsfrage basierenden – aktuellen Stimmung keine Änderung bei der Projektion (weiterhin 25); dafür verliert die Union in der Projektion einen Punkt (jetzt 37), obwohl doch ihr Verlust in der aktuellen Stimmung nur -3 war: -3 (Stimmung)=-1 (Projektion), aber +4 (Stimmung)=0 (Projektion), hm, ärgerlich für die SPD. Die Union freut sich eher indirekt – sie verliert in den Umfragen zwar überall, gleichzeitig reicht es aber für schwarz-gelb bei ARD und ZDF für eine eigene Mehrheit (und erst recht, wenn man die aktuelle Diskussion um Überhangmandate mit bedenkt). Allerdings gilt dies nur, wenn man unterstellt, dass die Union wirklich mit der FDP reagieren will. FDP in den Umfragen? Gewinnt in der ARD (+1), verliert aber in der aktuellen Stimmung des ZDF (-2). Grüne? In beiden Projektionen unverändert. Linke? Gewinnen überall dazu. Ach, Umfragen können so schön, einfach für jeden was dabei – fast wie am Wahlabend, wo es ja auch selten Verlierer gibt.

 

Keine Lust auf Dreier: Zu aktuellen Koalitionspräferenzen und -erwartungen der Parteianhänger

Zum Übergang der „alten“ Bundesrepublik in die wiedervereinigte „Berliner Republik“ gehörte auch ein konsequenzenreicher Wandel des Parteiensystems. Im westdeutschen Zweieinhalb-, später dann „Zweizweihalbe“-Parteiensystem hatten sich Parteien und Bürger über Jahrzehnte daran gewöhnt, dass durch Kooperation einer großen mit einer kleinen, politisch benachbarten Partei auf unproblematische Weise stabile, durch Mehrheiten im Bundestag abgesicherte Bundesregierungen gebildet werden konnten. Das änderte sich durch die Auffächerung des Parteiensystems infolge des Hinzutretens der PDS. Seit der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl waren die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag stets mehr oder weniger prekär. Nur fiel das zunächst nicht weiter auf, weil die Wahlen bis 2002 dennoch – wenngleich überwiegend knapp – Mehrheiten produzierten, die für eine Regierungsbildung nach bewährtem Muster ausreichten. Mit der Bundestagswahl 2005 änderte sich das. Weder die schwarz-gelbe noch die rot-grüne Parteienkombination erreichte genügend Stimmen, um gemeinsam regieren zu können. Nach der Wahl machte sich die Republik einige bewegte Wochen lang Gedanken über unorthodoxe, bislang nie praktizierte Modelle der Regierungszusammenarbeit von drei Parteien (bzw. teilweise sogar vier, wenn man die CSU separat zählt). Doch am Ende entschieden sich die schwarzen und roten Parteiführer für jene Große Koalition, die sie heute – glaubt man ihrer Rhetorik – am liebsten umgehend beerdigen würden. Freilich ist nicht auszuschließen, dass das Wahlergebnis auch 2009 eine Auseinandersetzung mit Varianten der Regierungszusammenarbeit jenseits der hergebrachten, lagerinternen Zweiparteienbündnisse erzwingen wird.

Wie gut sind die Bürger auf eine solche Situation vorbereitet? Wie bewerten sie die verschiedenen Möglichkeiten parteipolitischer Zusammenarbeit? Und welche Koalitionskonstellation erwarten sie derzeit als Resultat der Bundestagswahl? Hiervon vermittelt eine Umfrage einen Eindruck, die Anfang Juni 2009 im Rahmen der „German Longitudinal Election Study 2009 (GLES)“ bei 1071 wahlberechtigten Personen durchgeführt wurde. Die Untersuchung wurde über das Internet durchgeführt und ist nicht repräsentativ für die wahlberechtigte Bevölkerung. Sie ermöglicht aber einen aufschlussreichen Vergleich der Kernanhänger der verschiedenen Parteien – derjenigen Wähler also, die sich den Parteien gefühlsmäßig auf Dauer verbunden fühlen.

Parteigebundene Wähler orientieren sich in ihren Einstellungen oft an den Positionen ihrer Parteiführungen. Verfolgt man die öffentlichen Stellungnahmen der Parteien, gewinnt man den Eindruck, dass diese sich nur ungern mit der Perspektive eines Wahlergebnisses auseinander setzen, das ähnlich unklar ausfallen könnte wie bei der Vorwahl. Lieber unterstellen sie weiterhin geordnete Verhältnisse und setzen auf die gewohnten Modelle der Zusammenarbeit, vor allem auf der bürgerlichen Seite des Parteienspektrums. Wer sich zu weit vorwagt und anregt, auch die Möglichkeit bislang (auf Bundesebene) unerprobter Kooperationen offenzuhalten, wird prompt zurückgepfiffen. Eine Ausnahme bildet lediglich die SPD mit ihren Gedankenspielen über eine „Ampel“-Regierung mit Grünen und FDP.

Koalitionspräferenzen parteigebundener Wähler

Anhänger der CDU/CSU und der FDP favorisieren klar das von ihren Parteien angestrebte schwarz-gelbe Bündnis. Alle anderen Kombinationen, die Christdemokraten bzw. Liberale einschließen, werden neutral oder sogar leicht negativ bewertet. Korrespondierend hierzu geben auch der SPD und den Grünen zuneigende Wähler einer Neuauflage ihrer lagergebundenen Zusammenarbeit eindeutig den Vorzug, wenngleich weniger enthusiastisch. Der Großen Koalition stehen schwarze wie rote Wähler indifferent gegenüber – nicht positiv, aber auch nicht sonderlich negativ. Dreierbündnisse werden durchweg nicht positiv gesehen. Das gilt auch für die Haltung der SPD-Anhänger gegenüber der „Ampel“, die sie ähnlich bewerten wie die Große Koalition. Lediglich die Anhänger der Linken weichen von diesem Muster ab – sie favorisieren eine rot-rot-grüne Zusammenarbeit. Die Koalitionspräferenzen der parteigebundenen Wähler erscheinen somit tatsächlich als Echo der Vorgaben ihrer Parteien – und deren Rhetorik bewegt sich bislang überwiegend in den hergebrachten Bahnen, in denen Dreikoalitionen keine Rolle spielen.

Koalitionserwartungen parteigebundener Wähler

Auch die Erwartungen der Parteianhänger hinsichtlich des Wahlergebnisses verlassen kaum den Rahmen des Gewohnten. Eine Dreierkoalition halten nur sehr wenige Befragte für wahrscheinlich. Leicht eingefärbt durch ein Quantum Wunschdenken, das die eigene Seite stets im Vorteil sieht, sind die aktuellen Ergebnisse von Meinungsumfragen die wichtigste Quelle dieser Einschätzungen. An Union oder FDP gebundene Wähler sind mehrheitlich zuversichtlich, dass die Bundestagswahl in ihrem Sinne ausgehen wird. Der SPD, den Grünen und der Linken nahe stehende Wähler rechnen hingegen deutlich eher mit einer Fortsetzung der Großen Koalition. Ähnlich verbreitet ist unter ihnen aber auch die Erwartung, dass Schwarz-gelb die Nase vorn haben wird. Mit einer Realisierung der eigenen Wunschkoalition rechnen nur geringe Anteile dieser Wähler.

Doch was geschieht, wenn der demoskopisch ermittelte schwarz-gelbe Vorsprung in den Umfragen in den kommenden Wochen schwindet? Es sei daran erinnert, dass 2005 in ähnlichem zeitlichem Abstand von der Bundestagswahl sogar noch eine Alleinregierung der Union für möglich gehalten wurde. Wie erinnerlich, hat das dann doch nicht geklappt. Bis zum Wahltag kam es zu so starken Verschiebungen der Wahlabsichten, dass sich am Ende nicht einmal das angestrebte bürgerliche Bündnis der CDU/CSU mit der FDP realisieren ließ. Dass es diesmal wieder so kommt, kann niemand ausschließen. Die deutschen Wähler werden immer wankelmütiger und treffen ihre Entscheidungen immer später, viele (bei der Bundestagswahl 2005 immerhin fast jeder Zehnte!) sogar erst am Wahltag selbst.
Vieles wird davon abhängen, ob und wie sich die Parteien im Wahlkampf auf eine solcherart geänderte Erwartungslage einstellen. Wenn sie sich jetzt durch frühzeitige Festlegungen eingraben, wird es ihnen später schwer fallen, ohne Glaubwürdigkeitsverluste neue koalitionspolitische Zielvorgaben zu formulieren. Überdies wirkt eine Polarisierungsstrategie, die der Lagerlogik verhaftet bleibt, mobilisierend und bringt dadurch Wählerstimmen. Sie ist also für die Parteien attraktiv. Es erscheint daher wenig wahrscheinlich, dass sich die Parteien während des Wahlkampfes von der hergebrachten Blocklogik lösen und sich für Planspiele mit neuen Koalitionsformen öffnen werden. Die Wähler, die ja auf die Signale der Parteien reagieren und sich an deren Vorgaben orientieren, werden sich infolgedessen nicht mit Alternativoptionen auseinandersetzen und anfreunden. Am Ende eines solchen Szenarios steht freilich die Gefahr einer (ohnehin jeglicher Koalitionspolitik inhärenten, dann aber besonders ausgeprägten) Loslösung der Regierungsbildung vom Wählerwillen, mit potenziell ungünstigen Folgen für die Legitimität der neuen Regierung.

Lektüreempfehlungen
Faas, Thorsten/Rüdiger Schmitt-Beck. 2007. “Wahrnehmung und Wirkungen politischer Meinungsumfragen. Eine Exploration zur Bundestagswahl 2005.” in: Frank Brettschneider/Oskar Niedermayer/Bernhard Weßels (Hg.). Die Bundestagswahl 2005. Analysen des Wahlkampfes und der Wahlergebnisse. Wiesbaden: VS-Verlag: 233-267.

Franz Urban Pappi, Regierungsbildung im deutschen Fünf-Parteiensystem, in: Politische Vierteljahresschrift 50:2 (2009), 187-202.

 

Nur Ärger mit diesem Twitter… oder?

Dieser Twitter macht in diesem Wahljahr nur Ärger. Erst veröffentlicht er das Ergebnis der Wahl des Bundespräsidenten zu früh, jetzt droht er offenkundig, das auch im Vor- und Umfeld der Bundestagswahl zu tun. Kein Wunder, dass Politiker „Twitter-Manipulationen bei Bundestagswahl“ fürchten, wie Spiegel Online kürzlich berichtete.

Worum geht es? Infratest dimap (für die ARD) und die Forschungsgruppe Wahlen (für das ZDF) befragen an Wahltagen Tausende von repräsentativ ausgewählten Wählerinnen und Wählern vor Hunderten von repräsentativ ausgewählten Stimmlokalen. Das sind die so genannten „Wahltagsbefragungen“ (die mit anderen im Vorfeld durchgeführten Umfragen wenig gemein haben). Sie sind die Basis der Prognose des Wahlergebnisses, die um Punkt 18.00 Uhr (mit vorherigem Countdown!) über die Sender geht. Die Institute befragen den ganzen Tag über, fangen aber natürlich schon tagsüber an, ihre Ergebnisse auszuzählen. Und sie machen noch etwas: „Die sogenannten Exit-Polls mit Zahlen und Trends zum Wahlausgang werden den Parteien nachmittags mitgeteilt“, heißt es bei Spiegel Online dazu.

Die Sorge ist nun, dass diese Parteien diese Informationen diesem Twitter sagen und der es dann allen anderen weitererzählt. Und dass dann alle anderen (zumindest die, die noch nicht gewählt haben) unter dem Eindruck von diesem Twitter ins Wahllokal stürmen und alles „manipulieren“.

Hierzu sind zwei Dinge festzustellen:

(1) In § 32 des Bundeswahlgesetzes heißt es unter der Überschrift „Unzulässige Wahlpropaganda und Unterschriftensammlung, unzulässige Veröffentlichung von Wählerbefragungen“ in Absatz (2): „Die Veröffentlichung von Ergebnissen von Wählerbefragungen nach der Stimmabgabe über den Inhalt der Wahlentscheidung ist vor Ablauf der Wahlzeit unzulässig.“ Weiterhin heißt es in § 49a unter dem Stichwort „Ordnungswidrigkeiten“ in Absatz (1): „Ordnungswidrig handelt, wer … entgegen § 32 Abs. 2 Ergebnisse von Wählerbefragungen nach der Stimmabgabe über den Inhalt der Wahlentscheidung vor Ablauf der Wahlzeit veröffentlicht.“ Absatz (2) benennt die Strafe: „(2) Die Ordnungswidrigkeit [kann] nach … Absatz 1 Nr. 2 mit einer Geldbuße bis zu fünfzigtausend Euro geahndet werden.“ Da kann der Twitter ja schon mal mit dem Sparen beginnen. Im Ernst: Die Frage ist wohl, was hier „Veröffentlichung“ heißt. Wie viele Parteifunktionäre und Journalisten dürfen die Ergebnisse vorab erfahren, ohne dass dies „öffentlich“ ist? 10? 100? 1000? Oder sollte man die Zulässigkeit auf Personen, die bereits gewählt haben, beschränken? Denn die können ja nicht mehr manipulieren…

(2) … was zum zweiten Punkt führt: Die These, dass diese Informationen problematisch sind: Wer CDU wählt, weil die Sonne scheint, SPD wählt, weil der Nachbar ihm gerade erzählt hat, dass er das auch getan habe, wer grün wählt, weil das seine Lieblingsfarbe ist, „Die Linke“ wählt, weil sie irgendwie aus Ostdeutschland kommt, oder FDP wählt, weil er gerade eben neueste Umfrageergebnisse gehört hat. Ist das relevant? Ist eines davon besser oder schlechter als das andere?

Hinzu kommt – ich hatte das an anderer Stelle schon einmal skizziert -, dass die Forschung hierzu bislang keine eindeutigen Befunde präsentieren konnte. Mobilisierung in Folge veröffentlichter Umfragen ist ebenso möglich wie Demobilisierung, Vorteile für den vermeintlich Führenden sind ebenso vorstellbar wie Vorteile für scheinbar zurückliegende Parteien. Einen einseitigen Effekt jedenfalls hat die Forschung bislang nicht nachweisen können.

Vielleicht sollte man einmal ganz neu darüber nachdenken, wie man mit diesen Informationen aus Wahltagsbefragungen (und diesem Twitter) umgeht. Nicht wie Dieter Wiefelspütz (SPD), der anregt, „über ein Verbot der Wählerbefragungen nachzudenken“. Oder Dorothee Bär von der CSU, die fordert, alle Eingeweihten auf einen „Kodex des Stillschweigens zu verpflichten“. Das ist doch ziemlich elitär. Warum nicht eine Pflicht für die Institute, jede Stunde den aktuellen Zwischenstand zu veröffentlichen? Das würde vielleicht sogar die Leute mobilisieren. Twitter sei dank.

 

Die SPD und die Überhangmandate

Die Überhangmandate lassen die Abgeordneten des Bundestags bis zum Ende der Legislaturperiode nicht los. Am kommenden Freitag wird ein Gesetzentwurf der Grünen zur Vermeidung von Überhangmandaten bei der kommenden Bundestagswahl beraten. Diese Frage, die sonst eher nur Wahlrechtsfeinschmecker interessieren würde, darf diesmal mit erheblichem öffentlichem Interesse rechnen. Denn bei der Wahl am 27. September könnten laut Simulationen Überhangmandate dafür sorgen, dass eine schwarz-gelbe Koalition im Bundestag über eine Mandatsmehrheit verfügt, die sie andernfalls nicht erhielte (siehe auch meinen früheren Beitrag sowie Beiträge von Thomas Gschwend und Thorsten Faas). Anders als bei früheren Wahlen könnte man die Überhangmandate nicht mehr als wahlsystemisches Kuriosum ohne praktisch-politische Bedeutung betrachten. Vielmehr könnte diese vom Bundesverfassungsgericht monierte Regelung zu einem echten Machtfaktor werden.

Die Meinungsbildungsprozesse in Parteien und Fraktionen sind in vollem Gange. Die Linke signalisierte bereits Unterstützung für den Vorschlag der Grünen. Union und FDP sprachen sich – vermutlich aus nahe liegenden Gründen – gegen den Entwurf aus. Die Rolle des Züngleins an der Waage fällt damit den sozialdemokratischen Abgeordneten zu. Die SPD hat sich Zeit genommen für einen längeren Abwägungsprozess. Nachdem aus der Fraktion Signale zugunsten des Grünen-Vorschlags ausgesandt wurden, scheint die SPD-Führung nun eher dazu zu neigen, nicht für den Entwurf der Grünen zu votieren. Doch damit muss das letzte Wort noch nicht gesprochen sein.

Unabhängig davon, wie sich die SPD letztlich entscheiden wird, dürfte der sorgfältige Abwägungsprozess der Sozialdemokraten damit zusammenhängen, dass sie sich in einer interessanten Situation befinden. Würden die Sozialdemokraten für den Gesetzentwurf der Grünen votieren, würde das vielen Beobachtern angesichts der vermutlichen Auswirkungen der Überhangmandate auf die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag durchaus einleuchten. Allerdings entbehrte ein solches Votum nicht einer gewissen Pikanterie, und zwar aus zwei Gründen. Entschieden sich die Sozialdemokraten für den Entwurf der Grünen, würden SPD, Grüne und die Linke in einer politisch brisanten Frage gemeinsam abstimmen. Mancher politische Gegner dürfte das wohl als Indiz oder gar Beweis dafür werten, dass die Sozialdemokraten ihre Schwüre, auf Bundesebene keine sogenannte rot-rot-grüne Koalition zu bilden, vergäßen, sobald ein Bündnis mit der Linken den Sozialdemokraten eine Machtperspektive eröffnete. Aus der Wahlrechtsfrage könnte also Wahlkampfmunition werden.

Eine zweite Komplikation ergibt sich aus der vermutlichen Wirkung der angestrebten Wahlrechtsänderung. Die Vermeidung von Überhangmandaten würde dazu führen, dass eine Koalition aus Union und FDP weniger wahrscheinlich eine Mehrheit im Bundestag erhält. Nimmt man zusätzlich an, dass die Koalitionsaussagen der Parteien auch nach dem 27. September noch gelten, heißt das, dass eine Fortsetzung der Großen Koalition wahrscheinlicher würde. Das Klima in dieser Koalition dürfte allerdings nicht dadurch verbessert werden, dass ein Partner kurz vor dem Wahltag die eherne Koalitionsregel, dass die Bündnispartner einheitlich abstimmen, bricht. Mit anderen Worten: Die Große Koalition würde wahrscheinlicher, ihre Arbeit aber wohl nicht einfacher.