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Warum die Iren „Nein“ gesagt haben

 

Eine statistisch-individuelle Betrachtung

Bis zum Oktober, so das Ergebnis des EU-Gipfels von vergangener Woche, soll die irische Regierung in sich gehen. Dann, beim nächsten EU-Ratstreffen, soll sie sich und dem Rest von Europa erklären können, warum ihr Volk so versagt hat. Vor allem Deutschland und Frankreich nämlich gilt das irische Nein zum Lissabon-Vertrag als dummer Fehltritt, der korrigiert werden müsse. „Streng genommen muss man ja nur vier Prozent umstimmen“, sagt ein erfahrener deutscher EU-Politiker.

Dabei ist schon heute ziemlich klar, warum 53 % der Iren mit Nein gestimmt haben. Eine Umfrage des Gallup-Institutes im Auftrag der EU-Kommission liefert recht präzise Auskünfte über die Motive der EU-Verweigerer.
Was zeigen sie? Vor allem eins: Die Gründe für die Skepsis gegenüber der Brüsseler Zentralgewalt sind tiefgreifender, als es der Großteil der EU-Führer wahrhaben möchte. Jedenfalls scheinen sie nicht binnen weniger Monate oder durch kleinliche Zugeständnisse an die Iren „heilbar“ zu sein.

Ergänzend zu der Analyse von Gallup sei an dieser Stelle ein Leserbrief dokumentiert, der die ZEIT aus Dublin erreichte. Der Internet-Unternehmer John Ring schildert darin in sachlichem, unaufgeregtem Ton dreizehn Gründe für die Ablehnung des Lissabon-Vertrags. Sein Brief ist geeignet, tiefes Nachdenken auszulösen.
John Rings erster Grund für die Ablehnung von Lissabon lautet:

1 – Gebildete, intelligente Menschen konnten den Vertrag nicht lesen oder verstehen.

Dieser persönliche Befund deckt sich mit dem statistischen Hauptgrund für die Ablehnung in Irland. 22 % der Befragten sagten, sie hätten „nicht genug über den Vertrag gewusst und wollten nicht über etwas abstimmen, was ich nicht verstehe“.

Unser Leser fährt fort:

2 – Lissabon sollte die EU „demokratischer“ machen. Dennoch hat nur Irland mit 1% der EU Bevölkerung seine Bürger nach deren Meinung gefragt – und dies auch nur weil unsere Regierung dazu verpflichtet war.

Die Frage, für wie demokratisch die Iren die EU halten, taucht in der Gallup-Umfrage nicht auf. Aus ihr geht aber hervor, dass die Iren keineswegs EU-feindlich eingestellt sind. Nur fünf Prozent gaben als Grund für ihre Nein-Stimme an, sie seien „gegen die Idee eines vereinten Europas.“ Das zweitwichtigste Motiv für die Ablehnung (12 %) lautete allerdings, „die irische Identität schützen“ zu wollen.

Interessanter – und für die EU-Führer vermutlich schockierender – ist allerdings der Befund, dass die Zustimmung zum Lissabon-Vertrag abnimmt, je jünger die Befragten sind. Die meisten Nein-Sager (65 %) gab es in der Altersgruppe zwischen 18 und 24 Jahren. Die höchste Zustimmung (58 %) bei den über 55jährigen.

Nach der Undurschaubarkeit des Vertrages und der Angst um die nationale Identität gab es vier drittwichtigste Gründe (je 6 %) für die Nein-Sager: „Die irische Neutralität in Sicherheits- und Verteidigungsfragen aufrechtzuerhalten“, „Ich traue unseren Politikern nicht“, „Wir werden das Recht auf einen Kommissar in jeder Kommission verlieren“ und „Unser Steuersystem muss beschützt werden.“

In den Worten von John Ring:

3 – Die meisten irischen Politiker und Parlamentsmitglieder, sowie viele ihrer EU Kollegen, wollten eine „Ja“-Stimme – jedoch hatten nach eigenem Zugeständnis nur wenige den Vertrag gelesen oder seine Auswirkungen bedacht.

4 – Die Franzosen und Holländer haben gegen die EU-Verfassung gestimmt. Dies ist dasselbe Dokument mit geringfügigen Änderungen.

5 – Extremisten, die ein „Nein“ befürworten, haben viele Lügen erzählt, welche keine vernünftige Person glauben würde. Dennoch waren sie die einzigen, die diese Fragen besprochen haben. Die Ja-Leute sagten „vertraut uns“. Ich vertraue ihnen nicht, was die Kommentare von vielen EU-Politikern nach dem Resultat bekräftigen, die sagen „Lissabon ist nicht tot“, obwohl wir im Voraus gewarnt wurden, dass es jedes Land ratifizieren muss.

6 – Lissabon befürwortet eine gemeinsame EU-Außenpolitik. Wenn wir den März 2003 vor der Irak-Krise bedenken, hätte es hier für Frankreich, Deutschland und Großbritannien wirklich eine einheitliche EU-Irak-Politik geben können? Für die meisten ernsten Probleme unserer Zeit scheinen die derzeitigen EU-Strukturen ausreichend.

7 – Jedes Land sollte hauptamtliche Kommissar(e) haben und ja, ein einfacher Mechanismus sollte gefunden werden, welcher es ermöglicht einstimmig zu verhandeln, zum Beispiel bei Energie-Gesprächen mit Russland. Aber ich will nicht, dass ein nicht gewählter (von der Bevölkerung) EU-Präsident mein Land auf andere Art repräsentiert, als es gegenwärtig der Fall ist.

8 – Ich will keine EU-Armee, trotz der Tatsache, dass Krieg leider manchmal notwendig ist. Obwohl eine Nation durch dieses Abkommen – bisher – nicht gezwungen wird einen Verteidigungsfond zu akzeptieren oder einen Beitrag dazu zu leisten, weist es doch in diese Richtung, und ich bin damit keinesfalls einverstanden.

9 – Obwohl wir mit EU-Ländern zusammen arbeiten, diktiert der globale Handel, dass wir auch mit diesen konkurrieren. Ich benötige einen 100 % garantierten, eindeutig formulierten Vorbehalt, dass unsere Körperschaftssteuersatz weder jetzt noch in Zukunft jemals geändert wird, es sei denn es wurde von der irischen Regierung gefordert.

10 – Einige Aspekte des Abkommens werden „zu einem späteren Zeitpunkt“ erläutert. Dafür kann ich nicht stimmen.

11 – Rechtsexperten, die Lissabon studiert haben, denken (sind sich aber nicht sicher), dass wir niemals wieder die Gelegenheit haben werden über bedeutende Fragen im Bezug auf die EU abzustimmen. Ist das wahr? Niemand scheint dies mit Sicherheit sagen zu können.

12 – Die positiven und sehr wichtigen Fragen des Lissabon-Abkommens, wie Zusammenarbeit bei der Verbrechensbekämpfung usw., sollten sehr schnell in die Tat umgesetzt werden. Warum werden die offensichtlich guten Dinge mit den umstrittenen vermengt?

13 – Das Veto eines jeden Landes wird durch eine „qualifizierte Mehrheitsabstimmung“ bei wichtigen Fragen ersetzt, was voraussichtlich für viele EU Nationen ernsthafte unvorhergesehene Auswirkungen haben wird. Gerade erst haben Sie den Wert eines Vetos erlebt.

Auch diese Eindrücke unseres irischen ZEIT-Lesers decken sich denen der Allgemeinheit. Eine große Mehrheit der Iren (68 %) sagte, dass die „Nein“-Kampagne überzeugender gewesen sei als die „Ja“-Kampagne. Sogar die Mehrheit der Ja-Sager (57 %) sah dies so. Nur ein Prozent der Nein-Sagen allerdings finden, wie John Ring, dass die EU eigentlich ganz gut funktioniert.

So gut wie keine Rolle spielte laut der Gallup-Umfrage indes, dass aufgrund von EU-Recht möglicher Weise die Schwulen-Ehe, Abtreibung oder Sterbehilfe in Irland erlaubt werden könne. Diese Sorge geben nur 2 % der Nein-Sager als ihr Motiv an. Auch für John Ring waren diese Aspekte kein Thema.

Die Drohungen von EU-Politikern, deren Arroganz und vorherige Weigerung, auf zwei „nein“-Stimmen zu hören, die Kredit-Krise, Immigration, Abtreibung, Arbeiter-Rechte, Ölpreise, Inflation, Arbeitsplatz-Verluste, EU-Recht und örtliche politische Fragen haben meine Stimme in keinster Weise beeinflusst.

Was jetzt tun?, fragt John Ring. Schließlich will er nicht als EU-Gegner gelten, bloß weil er gegen den Lissabon-Vertrag war. Auch diese Sorge deckt sich wohl mit der vieler anderer Iren.

Ich will engere politische Verbindungen und tiefer gehende Integration innerhalb von Europa. Ich wollte nicht „Nein“ stimmen, da ich sowie die meisten Iren die ich kenne, sehr für Europa eingestellt bin. Wir wissen, dass hier unsere Zukunft liegt.

Was soll Brüssel jetzt tun? Die oben genannten Punkte korrigieren, alle EU Bewohner bitten darüber abzustimmen (statt 27 gefügige Regierungen dazu zu bringen es zu ratifizieren ohne es zu lesen), uns nicht auf zu fordern einfach zu glauben, dass eine neue Verfassung – Entschuldigung „ein neues Abkommen“ – das wir nicht verstehen, in Ordnung ist und ja, ich werde dafür stimmen. Anderenfalls bin ich mit den Dingen zufrieden so wie sie jetzt sind.

Jenen, die durch unsere „Nein“-Stimme frustriert sind, möchte ich respektvoll nahe legen, dass deren Bevölkerung, wenn sie gefragt würde, möglicherweise dasselbe sagen würde.

John Ring

GEC, Taylor’s Lane, Dublin 8, Irland