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Warum die Iren „Nein“ gesagt haben

Eine statistisch-individuelle Betrachtung

Bis zum Oktober, so das Ergebnis des EU-Gipfels von vergangener Woche, soll die irische Regierung in sich gehen. Dann, beim nächsten EU-Ratstreffen, soll sie sich und dem Rest von Europa erklären können, warum ihr Volk so versagt hat. Vor allem Deutschland und Frankreich nämlich gilt das irische Nein zum Lissabon-Vertrag als dummer Fehltritt, der korrigiert werden müsse. „Streng genommen muss man ja nur vier Prozent umstimmen“, sagt ein erfahrener deutscher EU-Politiker.

Dabei ist schon heute ziemlich klar, warum 53 % der Iren mit Nein gestimmt haben. Eine Umfrage des Gallup-Institutes im Auftrag der EU-Kommission liefert recht präzise Auskünfte über die Motive der EU-Verweigerer.
Was zeigen sie? Vor allem eins: Die Gründe für die Skepsis gegenüber der Brüsseler Zentralgewalt sind tiefgreifender, als es der Großteil der EU-Führer wahrhaben möchte. Jedenfalls scheinen sie nicht binnen weniger Monate oder durch kleinliche Zugeständnisse an die Iren „heilbar“ zu sein.

Ergänzend zu der Analyse von Gallup sei an dieser Stelle ein Leserbrief dokumentiert, der die ZEIT aus Dublin erreichte. Der Internet-Unternehmer John Ring schildert darin in sachlichem, unaufgeregtem Ton dreizehn Gründe für die Ablehnung des Lissabon-Vertrags. Sein Brief ist geeignet, tiefes Nachdenken auszulösen.
John Rings erster Grund für die Ablehnung von Lissabon lautet:

1 – Gebildete, intelligente Menschen konnten den Vertrag nicht lesen oder verstehen.

Dieser persönliche Befund deckt sich mit dem statistischen Hauptgrund für die Ablehnung in Irland. 22 % der Befragten sagten, sie hätten „nicht genug über den Vertrag gewusst und wollten nicht über etwas abstimmen, was ich nicht verstehe“.

Unser Leser fährt fort:

2 – Lissabon sollte die EU „demokratischer“ machen. Dennoch hat nur Irland mit 1% der EU Bevölkerung seine Bürger nach deren Meinung gefragt – und dies auch nur weil unsere Regierung dazu verpflichtet war.

Die Frage, für wie demokratisch die Iren die EU halten, taucht in der Gallup-Umfrage nicht auf. Aus ihr geht aber hervor, dass die Iren keineswegs EU-feindlich eingestellt sind. Nur fünf Prozent gaben als Grund für ihre Nein-Stimme an, sie seien „gegen die Idee eines vereinten Europas.“ Das zweitwichtigste Motiv für die Ablehnung (12 %) lautete allerdings, „die irische Identität schützen“ zu wollen.

Interessanter – und für die EU-Führer vermutlich schockierender – ist allerdings der Befund, dass die Zustimmung zum Lissabon-Vertrag abnimmt, je jünger die Befragten sind. Die meisten Nein-Sager (65 %) gab es in der Altersgruppe zwischen 18 und 24 Jahren. Die höchste Zustimmung (58 %) bei den über 55jährigen.

Nach der Undurschaubarkeit des Vertrages und der Angst um die nationale Identität gab es vier drittwichtigste Gründe (je 6 %) für die Nein-Sager: „Die irische Neutralität in Sicherheits- und Verteidigungsfragen aufrechtzuerhalten“, „Ich traue unseren Politikern nicht“, „Wir werden das Recht auf einen Kommissar in jeder Kommission verlieren“ und „Unser Steuersystem muss beschützt werden.“

In den Worten von John Ring:

3 – Die meisten irischen Politiker und Parlamentsmitglieder, sowie viele ihrer EU Kollegen, wollten eine „Ja“-Stimme – jedoch hatten nach eigenem Zugeständnis nur wenige den Vertrag gelesen oder seine Auswirkungen bedacht.

4 – Die Franzosen und Holländer haben gegen die EU-Verfassung gestimmt. Dies ist dasselbe Dokument mit geringfügigen Änderungen.

5 – Extremisten, die ein „Nein“ befürworten, haben viele Lügen erzählt, welche keine vernünftige Person glauben würde. Dennoch waren sie die einzigen, die diese Fragen besprochen haben. Die Ja-Leute sagten „vertraut uns“. Ich vertraue ihnen nicht, was die Kommentare von vielen EU-Politikern nach dem Resultat bekräftigen, die sagen „Lissabon ist nicht tot“, obwohl wir im Voraus gewarnt wurden, dass es jedes Land ratifizieren muss.

6 – Lissabon befürwortet eine gemeinsame EU-Außenpolitik. Wenn wir den März 2003 vor der Irak-Krise bedenken, hätte es hier für Frankreich, Deutschland und Großbritannien wirklich eine einheitliche EU-Irak-Politik geben können? Für die meisten ernsten Probleme unserer Zeit scheinen die derzeitigen EU-Strukturen ausreichend.

7 – Jedes Land sollte hauptamtliche Kommissar(e) haben und ja, ein einfacher Mechanismus sollte gefunden werden, welcher es ermöglicht einstimmig zu verhandeln, zum Beispiel bei Energie-Gesprächen mit Russland. Aber ich will nicht, dass ein nicht gewählter (von der Bevölkerung) EU-Präsident mein Land auf andere Art repräsentiert, als es gegenwärtig der Fall ist.

8 – Ich will keine EU-Armee, trotz der Tatsache, dass Krieg leider manchmal notwendig ist. Obwohl eine Nation durch dieses Abkommen – bisher – nicht gezwungen wird einen Verteidigungsfond zu akzeptieren oder einen Beitrag dazu zu leisten, weist es doch in diese Richtung, und ich bin damit keinesfalls einverstanden.

9 – Obwohl wir mit EU-Ländern zusammen arbeiten, diktiert der globale Handel, dass wir auch mit diesen konkurrieren. Ich benötige einen 100 % garantierten, eindeutig formulierten Vorbehalt, dass unsere Körperschaftssteuersatz weder jetzt noch in Zukunft jemals geändert wird, es sei denn es wurde von der irischen Regierung gefordert.

10 – Einige Aspekte des Abkommens werden „zu einem späteren Zeitpunkt“ erläutert. Dafür kann ich nicht stimmen.

11 – Rechtsexperten, die Lissabon studiert haben, denken (sind sich aber nicht sicher), dass wir niemals wieder die Gelegenheit haben werden über bedeutende Fragen im Bezug auf die EU abzustimmen. Ist das wahr? Niemand scheint dies mit Sicherheit sagen zu können.

12 – Die positiven und sehr wichtigen Fragen des Lissabon-Abkommens, wie Zusammenarbeit bei der Verbrechensbekämpfung usw., sollten sehr schnell in die Tat umgesetzt werden. Warum werden die offensichtlich guten Dinge mit den umstrittenen vermengt?

13 – Das Veto eines jeden Landes wird durch eine „qualifizierte Mehrheitsabstimmung“ bei wichtigen Fragen ersetzt, was voraussichtlich für viele EU Nationen ernsthafte unvorhergesehene Auswirkungen haben wird. Gerade erst haben Sie den Wert eines Vetos erlebt.

Auch diese Eindrücke unseres irischen ZEIT-Lesers decken sich denen der Allgemeinheit. Eine große Mehrheit der Iren (68 %) sagte, dass die „Nein“-Kampagne überzeugender gewesen sei als die „Ja“-Kampagne. Sogar die Mehrheit der Ja-Sager (57 %) sah dies so. Nur ein Prozent der Nein-Sagen allerdings finden, wie John Ring, dass die EU eigentlich ganz gut funktioniert.

So gut wie keine Rolle spielte laut der Gallup-Umfrage indes, dass aufgrund von EU-Recht möglicher Weise die Schwulen-Ehe, Abtreibung oder Sterbehilfe in Irland erlaubt werden könne. Diese Sorge geben nur 2 % der Nein-Sager als ihr Motiv an. Auch für John Ring waren diese Aspekte kein Thema.

Die Drohungen von EU-Politikern, deren Arroganz und vorherige Weigerung, auf zwei „nein“-Stimmen zu hören, die Kredit-Krise, Immigration, Abtreibung, Arbeiter-Rechte, Ölpreise, Inflation, Arbeitsplatz-Verluste, EU-Recht und örtliche politische Fragen haben meine Stimme in keinster Weise beeinflusst.

Was jetzt tun?, fragt John Ring. Schließlich will er nicht als EU-Gegner gelten, bloß weil er gegen den Lissabon-Vertrag war. Auch diese Sorge deckt sich wohl mit der vieler anderer Iren.

Ich will engere politische Verbindungen und tiefer gehende Integration innerhalb von Europa. Ich wollte nicht „Nein“ stimmen, da ich sowie die meisten Iren die ich kenne, sehr für Europa eingestellt bin. Wir wissen, dass hier unsere Zukunft liegt.

Was soll Brüssel jetzt tun? Die oben genannten Punkte korrigieren, alle EU Bewohner bitten darüber abzustimmen (statt 27 gefügige Regierungen dazu zu bringen es zu ratifizieren ohne es zu lesen), uns nicht auf zu fordern einfach zu glauben, dass eine neue Verfassung – Entschuldigung „ein neues Abkommen“ – das wir nicht verstehen, in Ordnung ist und ja, ich werde dafür stimmen. Anderenfalls bin ich mit den Dingen zufrieden so wie sie jetzt sind.

Jenen, die durch unsere „Nein“-Stimme frustriert sind, möchte ich respektvoll nahe legen, dass deren Bevölkerung, wenn sie gefragt würde, möglicherweise dasselbe sagen würde.

John Ring

GEC, Taylor’s Lane, Dublin 8, Irland

 

Die Legende von Lissabon

Da wäre sie also, die Lösung der Iren-Krise. Bis zum 15. Oktober wollen die 27 Staatschefs der Europäischen Union den Iren Zeit geben, über die Gründe und Folgen des Neins zu Lissabon nachzudenken. Dann soll der Dubliner Ministerpräsident Brian Cowen einen „Bericht“ vorlegen. Über den soll dann noch einmal beraten werden. Einstweilen jedenfalls sollen die übrigen Staaten den Reformvertrag weiter ratifizieren. Soweit die Schlussfolgerungen des Brüsseler „Krisen“-EU-Gipfels.

Die unausgesprochene Hoffnung bei all dem lautet, dass sich die EU-Rebellen schon wieder einfangen lassen. Jeder, so ist hinter vorgehaltener Hand auf den Fluren des Brüsseler Ratsgebäudes zu hören, dürfe sich schließlich mal einen Fehltritt leisten. Hauptsache, er kommt irgendwann wieder zur Vernunft.

Zum Lissabon-Vertrag, das machte Bundeskanzlerin Angela Merkel klar, gebe es keine Alternative. „Lissabon ist besser geeignet, den Sorgen der Menschen über Europa Rechnung zu tragen“, sagte sie. Und meinte die legendäre Brüsseler Bürokratie sowie das gefühlte Demokratiedefizit der Union. Die Europäische Union, so die leidenschaftliche Überzeugung der Kanzlerin, werde mit Lissabon „demokratischer, effizienter und transparenter“, gerade von Europaskeptikern müsse er dem bisherigen, sperrigen Nizza-Vertrag vorgezogen werden. „Der Lissabonner Vertrag ist einfach viel näher am Bürger“, so die Kanzlerin.

Dann aber sagte Merkel etwas, das über den Krisentag hinaus nachdenklich werden lässt. Nachdenklich darüber, ob die Effizienz Europas tatsächlich von seinen Rechtsgrundlagen abhängt. Oder ob es nicht vielmehr auf die Entschlossenheit seiner Staatschefs ankäme, den Kontinent zu bewegen.

Sie stimme, sagte die Kanzlerin, dem französischen Präsidenten Sarkozy darin zu, dass es ohne den Lissabon-Vertrag keine Erweiterung der Europäischen Union geben könne. Weder die Türkei, noch Kroatien, das auf einen Beitritt 2010 hofft, könnten ohne die neuen Spielregeln dem Club beitreten.

„Ich stimme dem [Sarkozys Statement] zu, weil der Vertrag von Nizza die Union in der Tat auf eine Mitgliedschaft von 27 Mitgliedern beschränkt.“

Das ist schlicht falsch. Der Vertrag von Nizza, also die jetzt gültige Rechtsgrundlage für die Europäische Union, lässt Erweiterungen durchaus zu. Dazu müssten zwar entsprechende Erweiterungsverträge von sämtlichen 27 Mitgliedsstaaten abgesegnet sowie die Stimm- und Abgeordnetengewichte in Rat und im Parlament angepasst werden.
Das alles wäre mühsam, sicher. Aber weder rechtlich verboten noch unmöglich. Rumänien und Bulgarien sind schließlich 2007 auch auf Nizza-Grundlage in die vergrößerte Union aufgenommen worden, als 26. und 27. Mitglied.

Im Irish Independent sagte der polnische Ministerpräsident Donald Tusk: „The Irish vote should in no way be related to the enlargement. Enlargement is definitely not impossible without the Lisbon Treaty. Some leaders state this as condition but we don’t see it that way.“ Ihm pflichtet der britische Schatten-Europaminister Mark Francois bei. Es sei, sagt er, „völlig klar“, dass die Erweiterung auch ohne Lissabon-Vertrag weitergehen könne.

Manch einem Beobachter in Brüssel drängt sich der Eindruck auf, dass die Diskussionen um eine neue Bedienungsanleitung für Europa bisweilen als willkommene Entschuldigung dienen, nicht mehr politische Energie in diejenigen Projekte zu stecken, die Europa auch ohne Lissabon-Vertrag weiterbringen könnten.

Der Vergleich mag ungewöhnlich scheinen, aber warum klagt eigentlich die Nato nicht über Effizienzprobleme? Sie besteht aus fast so vielen Mitglieder wie die EU (26), und um Beschlüsse zu fassen, ist auch in ihren Gremien Einstimmigkeit erforderlich. Sicher, die Verteidigungsallianz plagt sich mit vielen Problemen, aber mit mangelnder Entschlossenheit nicht gerade. Liegt das womöglich daran, dass es in dieser Staatenfamilien ein starke Führungsmacht, die USA, gibt, die offensiv versucht, die Richtung vorzugeben? Und wenn ja, könnte die EU von dieser Methode nicht vielleicht etwas lernen?

Für eine kohärente Energieaußenpolitik gegenüber Russland beispielsweise braucht es keinen neuen EU-Vertrag. Es wäre bloß der gemeinsame europäische Wille nötig, sich von Gasprom nicht durch 27 dividieren zu lassen. Sprich, auch Durchsetzungsvermögen gegenüber den Kreml-Chefs und nationalen Energieriesen.

Für die Umsteuerung der EU-Subventionsfluten wäre kein neuer Vertrag nötig. Sondern bloß die handlungsleitende Erkenntnis, dass es Wahnsinn ist, die Landwirte Europas jedes Jahr mit 40 Milliarden Euro zu unterstützen, während in Europas Universitäten Geld für Professoren, Bibliotheken und Computer fehlt.

Um gemeinsam Druck auf Iran auszuüben, die Urananreicherung für Waffen sein zu lassen, benötigt Europa keinen Vertrag.

Auch für eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik braucht es kein weiteres Papierwerk. Sondern vielmehr die Führungsstärke, den Europäern zu erklären, dass wir alle an den Verteidigungsausgaben sparen können, wenn die Länder ihre Rüstungsbeschaffung koordinieren würden, um die überflüssige Dopplung von Fähigkeiten zu vermeiden.

Vielleicht sollten die europäischen Staatschefs aus dem Debakel von Irland diese Lektion lernen:

Fragt nicht, was der Vertrag für euch tun kann. Fragt, was ihr (auch ohne Vertrag) für Europa tun könnt!

Überzeugt durch Performance, nicht durch Prozessdebatten. Dann klappt’s vielleicht auch mit den Referenden.

 

Durchgebrannt – Brüssel am Rande des Nervenzusammenbruchs

Eine Kurzreportage zum EU-Krisengipfel

Es sind Possen wie diese, die nicht nur viele Iren an Europa verzweifeln lassen. Ausgerechnet am Tag des großen Brüsseler Krisengipfels, bei dem die 27 Staatschefs der EU beraten wollen, wie es nach dem Nein der Iren zum Lissabon-Vertrag weitergehen soll, brennen bei der Kommission ein paar Drähte durch.

Die Glühbirne in Europa wird bis 2015 abgeschafft, verkündet der EU-Energiekommissar, der Lette Andris Piebalgs. Die Menschen sollen Energiesparlampen benutzen, um das Klima zu retten.

Das ist genau die zündende Zukunftsidee, auf die Europa so dringend gewartet hat. Der Kontinent wird gedimmt.

„Das ist nur ein sehr kleiner Beitrag zum Klimaschutz“, erläutert die Leiterin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Claudia Kemfert, in der FAZ, „aber nicht ganz zu vernachlässigen.“

Nicht ganz zu vernachlässigen dürften viele Europa vor allem die Frage finden, was es die EU angeht, welche Leuchtmittel sie sich zuhause in die Sockel schrauben. Der CDU-Europaparlamentarier Werner Langen ahnt den Zorn der Basis. Schnell schießt er am Morgen eine Pressemitteilung hinaus:

„Wir lassen die Köpfe rauchen, wie das Projekt EU bei den Bürgern wieder mehr Zustimmung bekommt, und die Kommission hat nichts Besseres zu tun, als die Abschaffung der Glühbirne zu fordern. Einige Kommissare haben offenbar nichts verstanden“, wütet der Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament.

Und feuert, gut gezielt auf die Volksseele, noch einmal nach:

„Ein solcher Vorschlag ist genau der Dirigismus, der die Menschen gegen Europa aufbringt. Es ist einfach schockierend, dass sich an der Denke in den Amtsstuben der Kommission nicht ändert. Wir müssen endlich weg von der Beglückungsideologie und dem verordneten Gutmenschentum.“

Gut gebrüllt, möchte man meinen. Peinlich bloß, was gegen Mittag Langens Fraktionskollege Peter Liese per Rundmail klarstellt. Das Europaparlament habe die „Stromfresserrichtlinie“ selbst abgesegnet, erinnert er. Die Initiative der Kommission, Glühbirnen zu verbieten, sei schließlich Bestandteil des EU-Klimaschutzpaketes.

„Ich lege großen Wert darauf, dass die Europäische Kommission diese und ähnliche Maßnahmen nicht deshalb verabschieden kann, weil einige Beamten dies für richtig halten, sondern weil das Europäische Parlament (EP) und die Regierungen der Mitgliedstaaten es so wollen und die entsprechende Rechtsgrundlage geschaffen haben.“

Um eines mal klarzustellen: „In Europa herrscht Demokratie.“

Nur, wie genau diese Demokratie funktioniert, scheinen nicht einmal die Akteure selbst immer zu wissen.

Ein paar Schritte vom Kommissionsgebäude entfernt, sonnt sich derweil die irische EU-Rebellin Mary Lou McDonald im extrem klimaschädlichen Scheinwerferlicht des Internationalen Pressezentrums, vor sich etwa fünf Mikrofone. „Der Lissabon-Vertrag ist tot“, sagt die Europaabgeordnete der Linksnationalistenpartei Sinn Féin. Sie hat sich einzige Dubliner Parlamentensfraktion für ein Nein stark gemacht. Und gesiegt, wie sie es sieht.
Die Staatschefs der EU, sagt McDonald, sollten jetzt ja nicht versuchen, der Vertrag auf irgendeine krumme Weise wiederbeleben zu wollen.

„Das Demokratiedefizit der Union wird durch den Lissabon-Vertrag nicht beseitigt“, sagt sie. „Wir brauchen eine neue Grundsatzdiskussion, neue Verhandlungen, einen neuen Vertrag!“ Links und rechts von ihr nicken je ein französischer und ein niederländischer Sozialist tief solidarisch.

Aber was, Frau McDonald, wenn die Europäer eine neue zermürbende Vertragsdebatte noch abstoßender finden als den Lissabon-Vertrag?

„Es wird Widerstand gegen einen neuen Vertrag geben, das ist mir schon klar. Aber wir Politiker sollten und immer daran erinnern, dass wir die Diener des Willens des Volkes sind – nicht dessen Herren.“

Der Wille des Brüsseler Journalistenvolkes ist indes auf eine möglichst kurze Krise gerichtet. Schön wäre, finden viele, wenn sie heute gegen 20.45 Uhr erledigt wäre. Denn dann beginnt des Fußballspiel Deutschland gegen Portugal. „Ich weiß gar nicht, wie ich das schaffen soll“, sagt ein Kollege tief besorgt mit Blick auf den Gipfelterminkalendar. Der sagt nämlich Folgendes:

Ab 20.15 Uhr soll der irische Premierminister Brian Cowen seinen 26 Kollegen beim Abendessen erklären, was auf der Insel schiefgelaufen ist und wie er gedenkt, Europa aus diesem Schlamassel herauszuholen. Gegen 22 Uhr wollen die Staatschefs dann noch einmal vor die Presse treten. Zwischendurch allerdings, so hat Bundeskanzlerin Merkel schon in einem Fernsehinterview nach dem letzten EM-Spiel angekündigt, wolle sie mit ihrem portugiesischen Kollegen „ab und zu mal um die Ecke gehen“, um das Viertelfinale im TV zu verfolgen.

Für die Lösung der EU-Krise sind am ersten Gipfeltag, mit anderen Worten, ziemlich genau 90-EM-Minuten eingeplant.

Wenn das keine volksnahe Lösung ist.

 

Europa nach dem Irland-Schock. Fünf Fragen und Antworten

1. Die Iren haben Nein zum Lissabon-Vertrag gesagt. Stürzt Europa jetzt in eine neue Krise?

Brandgeruch lösen dieser Tage in Brüssel nur ein paar flammenden Pressemitteilungen aus dem EU-Parlament aus. Europa stecke in einer „existenzbedrohenden Krise“, versuchen Europa-Abgeordnete klarzumachen, ja, in einer „politischen Krise mit Folgewirkungen, die im Moment niemand voraussagen kann.“

Merkwürdiger Weise aber scheint diese große Krise nicht richtig in Gang zu kommen. Die EU-Maschinerie surrt nach dem Nein der Iren seltsam unbeeindruckt auf Routine-Drehzahl. In der allmittäglichen Pressekonferenz spricht der Vizepräsident der EU-Kommission über die Entwicklung der europäischen Asylpolitik. Der Hohe Außenbeauftragte Javier Solana weilt im Iran, um einen Vorschlag zur zivilen Zusammenarbeit in Nuklearfragen zu überbringen. Und der Europäische Rat drückt tiefe Sorge aus. Über? Die sich verschlechternde Sicherheitslage im Sudan.

Es sind diesmal eben nur 862 415 Iren, die Nein zum EU-Vertrag gesagt haben. Anders als 2005, als Franzosen und Niederländer dem damals noch „Verfassung“ genannten Reformwerk eine Abfuhr erteilten, führt der Dubliner Ausrutscher nicht zum gefühlten Totalschaden Europas. Er gilt eher als Panne, die sich ausbeulen lässt.

Mit dieser Grundstimmung jedenfalls versuchten am Montag nach dem Nein die 27 Außenminister der EU in Luxemburg, einen Plan B zu schmieden. Die Rettungsstrategie soll rechtzeitig für den EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs am Donnerstag und Freitag in Brüssel skizziert sein. Jener Plan B muss jetzt her, der laut Kommissionspräsident Manuel Barroso und dem irischen Premierminister Brian Cowen undenkbar war. Jedenfalls haben sie das den Iren vor der Abstimmung gesagt.
Bis zum vergangenen Freitag gab es eine klare Regelung im Lissabon-Vertrag. Sie besagte, dass sämtliche 27 Staaten der EU dem Reformwerk zustimmen müssen, damit es in Kraft treten kann. Jetzt gibt es die politische Wirklichkeit. Unmittelbar nach dem Nein schlägt Deutschlands Außenminister Frank-Walter Steinmeier vor, Irland solle „für eine Zeitlang den Weg frei machen für einen weiteren Integrationsprozess der 26 übrigen Staaten“. In die Sprache der Zeit übersetzt: Übles Foul, Ire. Für dich ist das Turnier gelaufen.

Dass es so nicht läuft in der EU-Arena, machten die übrigen Außenminister dem Deutschen allerdings schnell klar. Sie einigten stattdessen darauf, den Iren auf andere Art Disziplin beizubringen. Durch, nennen wir es, die europäisierende Kraft des Faktischen. Alle anderen 26 Staaten sollen den Vertrag ungerührt ratifizieren, lautet das Signal des Luxemburger Treffens. Im Angesichte dieser Phalanx, so das Kalkül, könnten die Iren am Ende unmöglich bei ihrem Nein bleiben. Es trifft sich, dass nicht einmal mehr London zickt; gerade haben die notorischen Brüsselmuffel im Oberhaus den Lissabon-Vertrag abgesegnet. Zwar gibt die slowenische Ratspräsidentschaft zusammen mit der irische Regierung zu bedenken, man brauche jetzt ein wenig Bedenkzeit. Aber zu mehr als einer Pietätspause für die Iren scheint sich die Krise nicht auszuwachsen.

Gäbe es gibt da nicht noch eine unbehagliche juristische Instanz. Sowohl in Deutschland wie auch in Tschechien liegen Klagen gegen den Lissabon-Vertrag bei den Verfassungsgerichten. Ob deren Richter vor der Wucht von 26 Parlamentsentscheidungen erzittern werden, weiß noch niemand.

2. Welche Alternativen gibt es zum Lissabon-Vertrag?

Europa hat jetzt die Wahl zwischen vier mehr oder minder großen Übeln. Es könnte, falls die Ratifizierungsstrategie nicht aufgehen sollte, eine neue Regierungskonferenz einberufen, um den Lissabon-Vertrag noch einmal so zu überarbeiten, dass am Ende auch die Iren zustimmen. Das hieße, noch ein paar Jahre eine Funktionsdebatte zu führen, noch einmal alle Mitgliedsstaaten zur Ratifizierung zu bitten, vor allem aber die Europäer weiter mit technischer Selbstbezogenheit zu langweilen, statt Politik zu machen. Nicht einmal Verwaltungsjuristen aus EU-Referaten finden diese Option prickelnd. Hier eine offizielle Auflistung der Arbeitsstunden, die bisher in der Vertragsverhandlungen verbrannt worden sind.

Europa könnte, zweitens, die Diskussion um eine neue Bedienungsanleitung vorläufig beenden und erst einmal weiter auf der Grundlage des Vertrages von Nizza weitermachen. Zwar haben Europapolitiker immer wieder gewarnt, einer Union der 27 Mitgliedsstaaten drohe der Kollaps, wenn die Institutionen und Entscheidungsprozesse nicht gestrafft würden. Doch die Praxis sieht anders aus. Seit der großen Osterweiterung von 2004 und 2007 ist die Gesetzgebung in Brüssel mitnichten erlahmt. Sicher, sie holpert bisweilen, aber wo tut sie das nicht?

Eine Studie der Trans European Policy Studies Association (Tepsa) listet auf, dass zwischen 1999 und 2003 jährlich durchschnittlich 195 Rechtsakte in Brüssel erlassen wurden. Nach dem Beitritt der zehn osteuropäischen Neulingen waren es 2005 noch 130. Und 197 im Jahr 2006, also nicht weniger als im vorherigen Durchschnitt.

Europa könnte also den Iren-Schock konstruktiv verarbeiten und erst einmal klären, was es eigentlich werden möchte. Ein möglichst föderales Gebilde mit weit reichender Harmonisierung der Rechts- und Sozialordnungen? Oder vielleicht doch lieber eine Freihandelszone mit lediglich hinreichenden Binnenmarktregeln und einer strategischen Außenpolitik in Feldern, die Gemeinschaftsgeist verdienen, zum Beispiel in der Immigrations- und Energiepolitik?

Und wie wäre es, drittens, mit einem Kerneuropa, also einem Nukleus von Staaten, die mit tieferer Integration voranschreiten und dem sich andere Clubmitglieder Schritt für Schritt anschließen könnten? Allein das Stichwort ließ die versammelten Außenminister in Luxemburg zusammenzucken. Nein danke, sagten vor allem die Vertreter der kleineren Staaten.

Nicht einmal mehr der einstige Schöpfer der Idee, Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, spricht von der Kernthese. Er wirft stattdessen die Idee in die Runde, ob nicht vielleicht künftig der EU-Präsident direkt von den Europäern gewählt werden könnte. Damit würde Europa zumindest jenen Superposten bekommen, dessen Inhaber es nach außen repräsentieren und im Inneren steuern solle. Ähnliches schwebt den Grünen im EU-Parlament vor. Um wenigstens die Grundrechtecharta und die erweiterten Rechte für das Parlament zu retten, wollen sie Wahl im nächsten Juni zusammen mit der Europa-Wahl ein europaweites Referendum über ein „Demokratie-Gesetz“ abhalten.

Für solche Volksentscheidungen müsste allerdings ebenfalls der EU-Vertrag geändert werden. Und auch das würde bedeuten, dass ihn sämtliche Regierungen, die ihn bisher ratifiziert haben lassen (19 von 27), ihn noch einmal durch die Parlamente boxen müssten.
Im Gespräch sind nun zusätzliche „Souveränitätsgarantien“ für Irland, etwa im Steuerrecht, in der Verteidigungspolitik und beim Familienrecht. Diese vierte Option dürfte die wahrscheinlichste sein. Aber was passiert, wenn die Iren trotz dieser Extrawürste noch einmal Nein sagen?

3. Welche Hoffnungen hängen am Lissabon-Vertrag?

Nach dem irischen Nein wird es eine Reihe von Neuerungen nicht geben, die wahrscheinlich sogar viele irische Nein-Sager begrüßt hätten. Jedenfalls können diese wohl nicht mehr, wie geplant, zum 1. Januar 2009 in Kraft treten. Die Verkleinerung der Kommission gehört dazu. Sie sollte von derzeit 27 auf 18 Kommissare schrumpfen. Die Parlamente in den Einzelstaaten sollten zudem die Möglichkeit erhalten, Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip zu rügen, also der Brüsseler Regelungswut Einhalt zu gebieten.

Auch die Krönungsfeierlichkeiten für den ersten ständigen EU-Präsidenten sowie den Europäischen „Außenminister“ dürften sich verschieben. Die Hoffnungen, die sich mit den beiden künftigen Spitzenposten für die europäische Außenwirkung verbinden, mögen zwar überzogen sein, denn beiden Ämtern droht wegen unklarer Kompetenzzuschnitte ein eher schwammiges Profil. Gleichwohl, das Ausbleiben neuer Lichtgestalten dürfte auf Brüssels grauen Fluren einen tiefen Blues auslösen. Rein rechtlich übrigens könnte die Staatschefs niemand daran hindern, sich einen permanenten EU-Präsidenten zu wählen. Und auch ein Europäischer Diplomatischer Dienst ließe sich ohne Lissabon-Vertrag installieren. Die Frage ist bloß, ob sich dafür ohne Vertragskontext der politische Wille findet.

Ebenso wenig muss der Erweiterungsprozess gestoppt werden. Um den nächsten Kandidaten, Kroatien, 2010 in die EU aufzunehmen, braucht es zwar einen Beitrittsvertrag, den alle 27 Mitglieder absegnen müssen. Aber der ließe sich notfalls unabhängig von Lissabon abschließen.

Passé sind indes erst einmal die erweiterten Mitbestimmungsrechte für das Europäische Parlament. Sie sollten sicherstellen, dass die künftige Gesetzgebung aus Brüssel im Regelfall mit einer höheren demokratischen Legitimation versehen sind.

4. Warum haben die Iren Nein gesagt?

Der Hauptgrund für das Nein der Iren dürfte ein simpler Beweggrund gewesen sein, der auf Englisch besser klingt als auf Deutsch: „If you don’t know, vote no.“ Man unterschreibt nichts, was man nicht versteht, schon gar nicht, wenn es über 400 Seiten dick ist. Von einer „unabsichtliche Unlesbarkeit des Vertragstextes“ spricht mittlerweile sogar der grüne EU-Dombaumeister Daniel Cohn-Bendit. Die Unverständlichkeit des Lissabon-Vertrages stand den Iren stellvertretend für das ganze Konstrukt EU. Undurchsichtig, technokratisch und elitär – diese Kritik an Brüssel üben die Iren wiederum stellvertretend für viele Europäer.

Sicher, die meisten Iren waren nach wochenlangen Pro- und Contradebatten mit erheblich mehr Lissabon-Wissen überschüttet worden, als es sich je ein Festlandeuropäer freiwillig antun würde. Aber das, was sie erfuhren – oder zu erfahren glaubten -, hat viele eher verängstigt denn überzeugt. Die einen Agitatoren behaupteten, Brüssel werde durch die Hintertür irgendwann auf die die irische Steuergesetzgebung zugreifen können.

Konservative Katholiken fürchteten, durch die Grundrechtecharta werde Abtreibung und Schwulenehe legalisiert. Und viele Iren, denen die traditionelle Neutralität der Insel am Herzen liegt, hatten Sorge, ihr Land werde durch den Lissabon-Vertrag in ein Nato-ähnliches EU-Militärbündnis hineingesogen. Hinzu kam schlicht eine gewisse Lust an der Rebellion, gerade bei jüngeren Iren. „Es war irgendwie trendy, Nein zu stimmen“, sagt eine Schülerin.

Im irischen Votum zeigte aber auch, dass die Europäische Union keine klare Idee mehr von sich selbst ausstrahlt. Das Gründungsargument, die Überwindung nationalstaatlichen Denkens, war und ist Iren kein Argument; auf der Insel wird der Nationalstolz sorgsam gepflegt, nicht eingehegt. Die furchtsame Skepsis vor eigener Größe, die das deutsche Selbstbíld auszeichnet, ist ihnen, wie vielen anderen Europäern auch, gänzlich fremd.

5. Was kann und muss Nicolas Sarkozy als nächster EU-Ratspräsident nun tun?

Koordinieren, moderieren und reparieren. All das, mit anderen Worten, was der französische Präsident sich für seine Zeit in Brüssel nicht vorgenommen hatte. Am 1. Juli übernimmt Sarkozy die halbjährliche EU-Ratspräsidentschaft. Die Wunschziele, die der Hyper-Präsident bereits hat verlauten lassen, strotzen nur so vor politischem Testosteron. Eine Renaissance der Nuklearenergie wollte er Europa bescheren. Eine Kräftigung der Europäischen Verteidigung. Und eine härtere Hand gegen illegale Einwanderung. Jetzt aber braucht die EU kein napoleonisches Ego mehr, sondern einen pan-nationalen Teamplayer.
Sarkozy muss vor allem findige Juristen auftreiben, die den Iren eine gesichtswahrende Lösung anbieten könnten. Er muss die Stimmung bei den anderen Regierungen halten und nicht zuviel neuen Streit in die EU tragen. Auf dem Pflichtprogramm stehen daneben eine Haushaltsreform, eine Neuordnung der europäischen Förderpolitik sowie ein Klima- und Energiepaket. Jede Menge Stoff für jede Menge Mini-Krisen.

Zusatzfrage: Wer wird der nächste deutsche EU-Kommissar in Brüssel?

Auf der Brüsseler Nebenbühne steht derweil ein kleiner großkoalitionärer Stellvertreterkrieg an. Angela Merkel will, wie die FAZ erfahren hat, definitiv den CDU-Mann Peter Hintze, derzeit Parlamentarischer Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, als nächsten deutschen Kommissar nach Europa schicken. SPD-Chef Kurt Beck besteht derweil weiter auf seinem Kandidaten, dem Europaabgeordneten Martin Schulz. Große Chancen, im Herbst 2009 den Nachfolger des bisherigen deutschen Kommissar Günter Verheugen zu stellen, dürften die Sozialdemokraten allerdings nicht haben. 20 Jahre lang haben in der Kommission SPD-Mitglieder geherrscht, die CDU besitzt das Argument des dringenden Wechsels. Und dem SPD-Mann Schulz, da sind sich die Brüssologen einig, würde auch der Posten des Parlamentspräsidenten gut zu Gesichte stehen.

Ziemlich sicher ist allerdings, dass schon bald paneuropäische Eifersüchte um Kommissionsposten ausbrechen müssen. Denn laut dem Nizza-Vertrag muss die Kommission verkleinern werden, sobald sie 27 Mitglieder groß ist (was der Fall ist). Anders als im Lissabon-Vertrag steht dort allerdings nicht, um wieviele Kommissare sie genau gekürzt werden muss.
Vielleicht wäre es ein guter erster Schritt, die Iren zu schonen?