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Europa nach dem Irland-Schock. Fünf Fragen und Antworten

 

1. Die Iren haben Nein zum Lissabon-Vertrag gesagt. Stürzt Europa jetzt in eine neue Krise?

Brandgeruch lösen dieser Tage in Brüssel nur ein paar flammenden Pressemitteilungen aus dem EU-Parlament aus. Europa stecke in einer „existenzbedrohenden Krise“, versuchen Europa-Abgeordnete klarzumachen, ja, in einer „politischen Krise mit Folgewirkungen, die im Moment niemand voraussagen kann.“

Merkwürdiger Weise aber scheint diese große Krise nicht richtig in Gang zu kommen. Die EU-Maschinerie surrt nach dem Nein der Iren seltsam unbeeindruckt auf Routine-Drehzahl. In der allmittäglichen Pressekonferenz spricht der Vizepräsident der EU-Kommission über die Entwicklung der europäischen Asylpolitik. Der Hohe Außenbeauftragte Javier Solana weilt im Iran, um einen Vorschlag zur zivilen Zusammenarbeit in Nuklearfragen zu überbringen. Und der Europäische Rat drückt tiefe Sorge aus. Über? Die sich verschlechternde Sicherheitslage im Sudan.

Es sind diesmal eben nur 862 415 Iren, die Nein zum EU-Vertrag gesagt haben. Anders als 2005, als Franzosen und Niederländer dem damals noch „Verfassung“ genannten Reformwerk eine Abfuhr erteilten, führt der Dubliner Ausrutscher nicht zum gefühlten Totalschaden Europas. Er gilt eher als Panne, die sich ausbeulen lässt.

Mit dieser Grundstimmung jedenfalls versuchten am Montag nach dem Nein die 27 Außenminister der EU in Luxemburg, einen Plan B zu schmieden. Die Rettungsstrategie soll rechtzeitig für den EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs am Donnerstag und Freitag in Brüssel skizziert sein. Jener Plan B muss jetzt her, der laut Kommissionspräsident Manuel Barroso und dem irischen Premierminister Brian Cowen undenkbar war. Jedenfalls haben sie das den Iren vor der Abstimmung gesagt.
Bis zum vergangenen Freitag gab es eine klare Regelung im Lissabon-Vertrag. Sie besagte, dass sämtliche 27 Staaten der EU dem Reformwerk zustimmen müssen, damit es in Kraft treten kann. Jetzt gibt es die politische Wirklichkeit. Unmittelbar nach dem Nein schlägt Deutschlands Außenminister Frank-Walter Steinmeier vor, Irland solle „für eine Zeitlang den Weg frei machen für einen weiteren Integrationsprozess der 26 übrigen Staaten“. In die Sprache der Zeit übersetzt: Übles Foul, Ire. Für dich ist das Turnier gelaufen.

Dass es so nicht läuft in der EU-Arena, machten die übrigen Außenminister dem Deutschen allerdings schnell klar. Sie einigten stattdessen darauf, den Iren auf andere Art Disziplin beizubringen. Durch, nennen wir es, die europäisierende Kraft des Faktischen. Alle anderen 26 Staaten sollen den Vertrag ungerührt ratifizieren, lautet das Signal des Luxemburger Treffens. Im Angesichte dieser Phalanx, so das Kalkül, könnten die Iren am Ende unmöglich bei ihrem Nein bleiben. Es trifft sich, dass nicht einmal mehr London zickt; gerade haben die notorischen Brüsselmuffel im Oberhaus den Lissabon-Vertrag abgesegnet. Zwar gibt die slowenische Ratspräsidentschaft zusammen mit der irische Regierung zu bedenken, man brauche jetzt ein wenig Bedenkzeit. Aber zu mehr als einer Pietätspause für die Iren scheint sich die Krise nicht auszuwachsen.

Gäbe es gibt da nicht noch eine unbehagliche juristische Instanz. Sowohl in Deutschland wie auch in Tschechien liegen Klagen gegen den Lissabon-Vertrag bei den Verfassungsgerichten. Ob deren Richter vor der Wucht von 26 Parlamentsentscheidungen erzittern werden, weiß noch niemand.

2. Welche Alternativen gibt es zum Lissabon-Vertrag?

Europa hat jetzt die Wahl zwischen vier mehr oder minder großen Übeln. Es könnte, falls die Ratifizierungsstrategie nicht aufgehen sollte, eine neue Regierungskonferenz einberufen, um den Lissabon-Vertrag noch einmal so zu überarbeiten, dass am Ende auch die Iren zustimmen. Das hieße, noch ein paar Jahre eine Funktionsdebatte zu führen, noch einmal alle Mitgliedsstaaten zur Ratifizierung zu bitten, vor allem aber die Europäer weiter mit technischer Selbstbezogenheit zu langweilen, statt Politik zu machen. Nicht einmal Verwaltungsjuristen aus EU-Referaten finden diese Option prickelnd. Hier eine offizielle Auflistung der Arbeitsstunden, die bisher in der Vertragsverhandlungen verbrannt worden sind.

Europa könnte, zweitens, die Diskussion um eine neue Bedienungsanleitung vorläufig beenden und erst einmal weiter auf der Grundlage des Vertrages von Nizza weitermachen. Zwar haben Europapolitiker immer wieder gewarnt, einer Union der 27 Mitgliedsstaaten drohe der Kollaps, wenn die Institutionen und Entscheidungsprozesse nicht gestrafft würden. Doch die Praxis sieht anders aus. Seit der großen Osterweiterung von 2004 und 2007 ist die Gesetzgebung in Brüssel mitnichten erlahmt. Sicher, sie holpert bisweilen, aber wo tut sie das nicht?

Eine Studie der Trans European Policy Studies Association (Tepsa) listet auf, dass zwischen 1999 und 2003 jährlich durchschnittlich 195 Rechtsakte in Brüssel erlassen wurden. Nach dem Beitritt der zehn osteuropäischen Neulingen waren es 2005 noch 130. Und 197 im Jahr 2006, also nicht weniger als im vorherigen Durchschnitt.

Europa könnte also den Iren-Schock konstruktiv verarbeiten und erst einmal klären, was es eigentlich werden möchte. Ein möglichst föderales Gebilde mit weit reichender Harmonisierung der Rechts- und Sozialordnungen? Oder vielleicht doch lieber eine Freihandelszone mit lediglich hinreichenden Binnenmarktregeln und einer strategischen Außenpolitik in Feldern, die Gemeinschaftsgeist verdienen, zum Beispiel in der Immigrations- und Energiepolitik?

Und wie wäre es, drittens, mit einem Kerneuropa, also einem Nukleus von Staaten, die mit tieferer Integration voranschreiten und dem sich andere Clubmitglieder Schritt für Schritt anschließen könnten? Allein das Stichwort ließ die versammelten Außenminister in Luxemburg zusammenzucken. Nein danke, sagten vor allem die Vertreter der kleineren Staaten.

Nicht einmal mehr der einstige Schöpfer der Idee, Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, spricht von der Kernthese. Er wirft stattdessen die Idee in die Runde, ob nicht vielleicht künftig der EU-Präsident direkt von den Europäern gewählt werden könnte. Damit würde Europa zumindest jenen Superposten bekommen, dessen Inhaber es nach außen repräsentieren und im Inneren steuern solle. Ähnliches schwebt den Grünen im EU-Parlament vor. Um wenigstens die Grundrechtecharta und die erweiterten Rechte für das Parlament zu retten, wollen sie Wahl im nächsten Juni zusammen mit der Europa-Wahl ein europaweites Referendum über ein „Demokratie-Gesetz“ abhalten.

Für solche Volksentscheidungen müsste allerdings ebenfalls der EU-Vertrag geändert werden. Und auch das würde bedeuten, dass ihn sämtliche Regierungen, die ihn bisher ratifiziert haben lassen (19 von 27), ihn noch einmal durch die Parlamente boxen müssten.
Im Gespräch sind nun zusätzliche „Souveränitätsgarantien“ für Irland, etwa im Steuerrecht, in der Verteidigungspolitik und beim Familienrecht. Diese vierte Option dürfte die wahrscheinlichste sein. Aber was passiert, wenn die Iren trotz dieser Extrawürste noch einmal Nein sagen?

3. Welche Hoffnungen hängen am Lissabon-Vertrag?

Nach dem irischen Nein wird es eine Reihe von Neuerungen nicht geben, die wahrscheinlich sogar viele irische Nein-Sager begrüßt hätten. Jedenfalls können diese wohl nicht mehr, wie geplant, zum 1. Januar 2009 in Kraft treten. Die Verkleinerung der Kommission gehört dazu. Sie sollte von derzeit 27 auf 18 Kommissare schrumpfen. Die Parlamente in den Einzelstaaten sollten zudem die Möglichkeit erhalten, Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip zu rügen, also der Brüsseler Regelungswut Einhalt zu gebieten.

Auch die Krönungsfeierlichkeiten für den ersten ständigen EU-Präsidenten sowie den Europäischen „Außenminister“ dürften sich verschieben. Die Hoffnungen, die sich mit den beiden künftigen Spitzenposten für die europäische Außenwirkung verbinden, mögen zwar überzogen sein, denn beiden Ämtern droht wegen unklarer Kompetenzzuschnitte ein eher schwammiges Profil. Gleichwohl, das Ausbleiben neuer Lichtgestalten dürfte auf Brüssels grauen Fluren einen tiefen Blues auslösen. Rein rechtlich übrigens könnte die Staatschefs niemand daran hindern, sich einen permanenten EU-Präsidenten zu wählen. Und auch ein Europäischer Diplomatischer Dienst ließe sich ohne Lissabon-Vertrag installieren. Die Frage ist bloß, ob sich dafür ohne Vertragskontext der politische Wille findet.

Ebenso wenig muss der Erweiterungsprozess gestoppt werden. Um den nächsten Kandidaten, Kroatien, 2010 in die EU aufzunehmen, braucht es zwar einen Beitrittsvertrag, den alle 27 Mitglieder absegnen müssen. Aber der ließe sich notfalls unabhängig von Lissabon abschließen.

Passé sind indes erst einmal die erweiterten Mitbestimmungsrechte für das Europäische Parlament. Sie sollten sicherstellen, dass die künftige Gesetzgebung aus Brüssel im Regelfall mit einer höheren demokratischen Legitimation versehen sind.

4. Warum haben die Iren Nein gesagt?

Der Hauptgrund für das Nein der Iren dürfte ein simpler Beweggrund gewesen sein, der auf Englisch besser klingt als auf Deutsch: „If you don’t know, vote no.“ Man unterschreibt nichts, was man nicht versteht, schon gar nicht, wenn es über 400 Seiten dick ist. Von einer „unabsichtliche Unlesbarkeit des Vertragstextes“ spricht mittlerweile sogar der grüne EU-Dombaumeister Daniel Cohn-Bendit. Die Unverständlichkeit des Lissabon-Vertrages stand den Iren stellvertretend für das ganze Konstrukt EU. Undurchsichtig, technokratisch und elitär – diese Kritik an Brüssel üben die Iren wiederum stellvertretend für viele Europäer.

Sicher, die meisten Iren waren nach wochenlangen Pro- und Contradebatten mit erheblich mehr Lissabon-Wissen überschüttet worden, als es sich je ein Festlandeuropäer freiwillig antun würde. Aber das, was sie erfuhren – oder zu erfahren glaubten -, hat viele eher verängstigt denn überzeugt. Die einen Agitatoren behaupteten, Brüssel werde durch die Hintertür irgendwann auf die die irische Steuergesetzgebung zugreifen können.

Konservative Katholiken fürchteten, durch die Grundrechtecharta werde Abtreibung und Schwulenehe legalisiert. Und viele Iren, denen die traditionelle Neutralität der Insel am Herzen liegt, hatten Sorge, ihr Land werde durch den Lissabon-Vertrag in ein Nato-ähnliches EU-Militärbündnis hineingesogen. Hinzu kam schlicht eine gewisse Lust an der Rebellion, gerade bei jüngeren Iren. „Es war irgendwie trendy, Nein zu stimmen“, sagt eine Schülerin.

Im irischen Votum zeigte aber auch, dass die Europäische Union keine klare Idee mehr von sich selbst ausstrahlt. Das Gründungsargument, die Überwindung nationalstaatlichen Denkens, war und ist Iren kein Argument; auf der Insel wird der Nationalstolz sorgsam gepflegt, nicht eingehegt. Die furchtsame Skepsis vor eigener Größe, die das deutsche Selbstbíld auszeichnet, ist ihnen, wie vielen anderen Europäern auch, gänzlich fremd.

5. Was kann und muss Nicolas Sarkozy als nächster EU-Ratspräsident nun tun?

Koordinieren, moderieren und reparieren. All das, mit anderen Worten, was der französische Präsident sich für seine Zeit in Brüssel nicht vorgenommen hatte. Am 1. Juli übernimmt Sarkozy die halbjährliche EU-Ratspräsidentschaft. Die Wunschziele, die der Hyper-Präsident bereits hat verlauten lassen, strotzen nur so vor politischem Testosteron. Eine Renaissance der Nuklearenergie wollte er Europa bescheren. Eine Kräftigung der Europäischen Verteidigung. Und eine härtere Hand gegen illegale Einwanderung. Jetzt aber braucht die EU kein napoleonisches Ego mehr, sondern einen pan-nationalen Teamplayer.
Sarkozy muss vor allem findige Juristen auftreiben, die den Iren eine gesichtswahrende Lösung anbieten könnten. Er muss die Stimmung bei den anderen Regierungen halten und nicht zuviel neuen Streit in die EU tragen. Auf dem Pflichtprogramm stehen daneben eine Haushaltsreform, eine Neuordnung der europäischen Förderpolitik sowie ein Klima- und Energiepaket. Jede Menge Stoff für jede Menge Mini-Krisen.

Zusatzfrage: Wer wird der nächste deutsche EU-Kommissar in Brüssel?

Auf der Brüsseler Nebenbühne steht derweil ein kleiner großkoalitionärer Stellvertreterkrieg an. Angela Merkel will, wie die FAZ erfahren hat, definitiv den CDU-Mann Peter Hintze, derzeit Parlamentarischer Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, als nächsten deutschen Kommissar nach Europa schicken. SPD-Chef Kurt Beck besteht derweil weiter auf seinem Kandidaten, dem Europaabgeordneten Martin Schulz. Große Chancen, im Herbst 2009 den Nachfolger des bisherigen deutschen Kommissar Günter Verheugen zu stellen, dürften die Sozialdemokraten allerdings nicht haben. 20 Jahre lang haben in der Kommission SPD-Mitglieder geherrscht, die CDU besitzt das Argument des dringenden Wechsels. Und dem SPD-Mann Schulz, da sind sich die Brüssologen einig, würde auch der Posten des Parlamentspräsidenten gut zu Gesichte stehen.

Ziemlich sicher ist allerdings, dass schon bald paneuropäische Eifersüchte um Kommissionsposten ausbrechen müssen. Denn laut dem Nizza-Vertrag muss die Kommission verkleinern werden, sobald sie 27 Mitglieder groß ist (was der Fall ist). Anders als im Lissabon-Vertrag steht dort allerdings nicht, um wieviele Kommissare sie genau gekürzt werden muss.
Vielleicht wäre es ein guter erster Schritt, die Iren zu schonen?