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Die Legende von Lissabon

 

Da wäre sie also, die Lösung der Iren-Krise. Bis zum 15. Oktober wollen die 27 Staatschefs der Europäischen Union den Iren Zeit geben, über die Gründe und Folgen des Neins zu Lissabon nachzudenken. Dann soll der Dubliner Ministerpräsident Brian Cowen einen „Bericht“ vorlegen. Über den soll dann noch einmal beraten werden. Einstweilen jedenfalls sollen die übrigen Staaten den Reformvertrag weiter ratifizieren. Soweit die Schlussfolgerungen des Brüsseler „Krisen“-EU-Gipfels.

Die unausgesprochene Hoffnung bei all dem lautet, dass sich die EU-Rebellen schon wieder einfangen lassen. Jeder, so ist hinter vorgehaltener Hand auf den Fluren des Brüsseler Ratsgebäudes zu hören, dürfe sich schließlich mal einen Fehltritt leisten. Hauptsache, er kommt irgendwann wieder zur Vernunft.

Zum Lissabon-Vertrag, das machte Bundeskanzlerin Angela Merkel klar, gebe es keine Alternative. „Lissabon ist besser geeignet, den Sorgen der Menschen über Europa Rechnung zu tragen“, sagte sie. Und meinte die legendäre Brüsseler Bürokratie sowie das gefühlte Demokratiedefizit der Union. Die Europäische Union, so die leidenschaftliche Überzeugung der Kanzlerin, werde mit Lissabon „demokratischer, effizienter und transparenter“, gerade von Europaskeptikern müsse er dem bisherigen, sperrigen Nizza-Vertrag vorgezogen werden. „Der Lissabonner Vertrag ist einfach viel näher am Bürger“, so die Kanzlerin.

Dann aber sagte Merkel etwas, das über den Krisentag hinaus nachdenklich werden lässt. Nachdenklich darüber, ob die Effizienz Europas tatsächlich von seinen Rechtsgrundlagen abhängt. Oder ob es nicht vielmehr auf die Entschlossenheit seiner Staatschefs ankäme, den Kontinent zu bewegen.

Sie stimme, sagte die Kanzlerin, dem französischen Präsidenten Sarkozy darin zu, dass es ohne den Lissabon-Vertrag keine Erweiterung der Europäischen Union geben könne. Weder die Türkei, noch Kroatien, das auf einen Beitritt 2010 hofft, könnten ohne die neuen Spielregeln dem Club beitreten.

„Ich stimme dem [Sarkozys Statement] zu, weil der Vertrag von Nizza die Union in der Tat auf eine Mitgliedschaft von 27 Mitgliedern beschränkt.“

Das ist schlicht falsch. Der Vertrag von Nizza, also die jetzt gültige Rechtsgrundlage für die Europäische Union, lässt Erweiterungen durchaus zu. Dazu müssten zwar entsprechende Erweiterungsverträge von sämtlichen 27 Mitgliedsstaaten abgesegnet sowie die Stimm- und Abgeordnetengewichte in Rat und im Parlament angepasst werden.
Das alles wäre mühsam, sicher. Aber weder rechtlich verboten noch unmöglich. Rumänien und Bulgarien sind schließlich 2007 auch auf Nizza-Grundlage in die vergrößerte Union aufgenommen worden, als 26. und 27. Mitglied.

Im Irish Independent sagte der polnische Ministerpräsident Donald Tusk: „The Irish vote should in no way be related to the enlargement. Enlargement is definitely not impossible without the Lisbon Treaty. Some leaders state this as condition but we don’t see it that way.“ Ihm pflichtet der britische Schatten-Europaminister Mark Francois bei. Es sei, sagt er, „völlig klar“, dass die Erweiterung auch ohne Lissabon-Vertrag weitergehen könne.

Manch einem Beobachter in Brüssel drängt sich der Eindruck auf, dass die Diskussionen um eine neue Bedienungsanleitung für Europa bisweilen als willkommene Entschuldigung dienen, nicht mehr politische Energie in diejenigen Projekte zu stecken, die Europa auch ohne Lissabon-Vertrag weiterbringen könnten.

Der Vergleich mag ungewöhnlich scheinen, aber warum klagt eigentlich die Nato nicht über Effizienzprobleme? Sie besteht aus fast so vielen Mitglieder wie die EU (26), und um Beschlüsse zu fassen, ist auch in ihren Gremien Einstimmigkeit erforderlich. Sicher, die Verteidigungsallianz plagt sich mit vielen Problemen, aber mit mangelnder Entschlossenheit nicht gerade. Liegt das womöglich daran, dass es in dieser Staatenfamilien ein starke Führungsmacht, die USA, gibt, die offensiv versucht, die Richtung vorzugeben? Und wenn ja, könnte die EU von dieser Methode nicht vielleicht etwas lernen?

Für eine kohärente Energieaußenpolitik gegenüber Russland beispielsweise braucht es keinen neuen EU-Vertrag. Es wäre bloß der gemeinsame europäische Wille nötig, sich von Gasprom nicht durch 27 dividieren zu lassen. Sprich, auch Durchsetzungsvermögen gegenüber den Kreml-Chefs und nationalen Energieriesen.

Für die Umsteuerung der EU-Subventionsfluten wäre kein neuer Vertrag nötig. Sondern bloß die handlungsleitende Erkenntnis, dass es Wahnsinn ist, die Landwirte Europas jedes Jahr mit 40 Milliarden Euro zu unterstützen, während in Europas Universitäten Geld für Professoren, Bibliotheken und Computer fehlt.

Um gemeinsam Druck auf Iran auszuüben, die Urananreicherung für Waffen sein zu lassen, benötigt Europa keinen Vertrag.

Auch für eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik braucht es kein weiteres Papierwerk. Sondern vielmehr die Führungsstärke, den Europäern zu erklären, dass wir alle an den Verteidigungsausgaben sparen können, wenn die Länder ihre Rüstungsbeschaffung koordinieren würden, um die überflüssige Dopplung von Fähigkeiten zu vermeiden.

Vielleicht sollten die europäischen Staatschefs aus dem Debakel von Irland diese Lektion lernen:

Fragt nicht, was der Vertrag für euch tun kann. Fragt, was ihr (auch ohne Vertrag) für Europa tun könnt!

Überzeugt durch Performance, nicht durch Prozessdebatten. Dann klappt’s vielleicht auch mit den Referenden.