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Mehr Liebe wagen!

 

Der belgischer Sexualforscher Bo Coolsaet warnt, dass wir die Innigkeit verlernen. Dabei brauchen wir sie – gerade in der Politik

Ulla Kimmig
© Ulla Kimmig (http://www.ullakimmig.de)

Eigentlich wollten wir mit Bo Coolsaet über die Liebe reden. Über die schlimme Entwicklung, genauer gesagt, dass es immer weniger Liebe gibt auf der Welt. Was daran liegt, dass immer weniger Menschen zur Liebe fähig sind.

Dies jedenfalls behauptet der Sexualwissenschaftler in einem neuen Buch, das in seiner Heimat Belgien gerade die Bestsellerlisten stürmt. Über den Niedergang der Liebe also wollen wir reden. Und was passiert? Wir sitzen kaum eine halbe Stunde zusammen, da sprechen wir über Karl-Theodor zu Guttenberg und Muammar Gadhafi – und zwar absolut folgerichtig. Es ist erstaunlich: Die Liebe und die Politik und der Liebesmangel und die Sehnsucht, all das lässt sich bei ernsthafter Betrachtung kein bisschen trennen!

Aber der Reihe nach. Wer ist eigentlich dieser Bo Coolsaet?

Es ist zunächst einmal ein Glück, dass sein hellweißer Lockenschopf in der Nachmittagssonne strahlt wie ein Leuchtturm, sonst würde man die Einfahrt zu seinem Anwesen in der Nähe von Antwerpen glatt verpassen. Mit schwungvollen, frohgemuten Ganzkörperbewegungen winkt er das Auto von der ländlichen Baumallee hinein in den heckengesäumten Weg, der zu seiner „Eulenburg“ führt. Prachtvoll hat der Professor den alten Bauernhof zu einer Landvilla im Atriumstil renoviert.

Der Pinsel der Liebe

Hier lebt der Mediziner, Heilkundler und Sexualtherapeut von internationalem Ruf, wenn er nicht gerade Vorträge in New York hält, arabische Ölscheichs mit Erektionsproblemen visitiert, in Neuguinea Phallus-Skulpturen von Eingeborenen erwirbt oder in der Urologie der Klinik von Antwerpen seine regulären Patienten betreut. Auf mittlerweile drei Bücher gründet sich die Prominenz des 71jährigen Flamen, sein populärwissenschaftlicher Erstling „Der Pinsel der Liebe – Leben und Werk des Penis“ von 1998 wurde in 17 Sprachen übersetzt, „HOMage“ von 2007 widmete sich dem männlichen Altern. Coolsaets neues Buch gibt es bisher nur auf Flämisch, sein Titel „De Alchemie van Liefde & Lusten“ erschließt aber auch dem Ausländer auf Anhieb – ganz zu schweigen von dem barocken Design mit dem Goldschnitt, die es zu einem geradezu erotisierenden Handschmeichler machen. 5000 Belgier erlagen schon am ersten Erscheinungstag der Versuchung des neuen Coolsaet und griffen zu.

„Welcome, welcome!“ ruft unser Einstein der Lust und schließt den Gast so stürmisch in die Arme, dass man denkt, holla, wenn das aber mal kein Liebesüberschuss ist!

Stimmt, sagt Bo Coolsaet und lacht, als wir drinnen vorm knisternden Kamin Platz genommen haben. Er sei in der glücklichen Lage, es wirklich zu kennen, das große „Liebes-Gefühl“, sagt er, während er eine Packung kubanischer Zigaretten öffnet. Seinen Eltern habe er das zu verdanken, erzählt er mit seligem Lächeln. Die beiden hätten sich wahrhaft und tief geliebt, und diese Liebe hätten sie an ihre Kinder weitergegeben. Andere, immer mehr Menschen, erlebten dies leider nicht, sagt der Experte.

Die Menschheit liebt also wirklich immer weniger, Herr Professor?

Coolsaet nickt ein stummes, schweres Nicken und schnalzt bedauernd mit der Zunge.

„Ja.“

Warum die Liebe stirbt

Die Beeinträchtigung der Liebesfähigkeit beginne schon im Mutterleib, erklärt er. Forschungen auf dem Felde der so genannten Epigenetik hätten gezeigt, dass Umwelteinflüsse während der Zellteilung Einfluss auf die Aktivität des Erbgutes und damit auf die Prägung von Menschen haben können. „Durchleidet die Mutter während der Schwangerschaft Stress oder Beziehungsprobleme, kann sich dies genetisch auf die Liebesfähigkeit des Kindes auswirken.“

Als zweiter Faktor beeinflusse in der frühen Kindheit das emotionale Klima innerhalb der Familie die „Wärme des Menschen“, wie Coolsaet die Empfänglichkeit für Empfindsamkeit nennt. Sind die Eltern durch ihre Jobs genervt oder von wirtschaftlichen Sorgen geplagt, sei gut möglich, dass sich das Kühle im Miteinander auf die Persönlichkeit des Kindes übertrage. Schließlich, ab etwa drei Jahren, müsse eine starke Vaterfigur dafür sorgen, dass das Kind von der einseitigen Bindung an die Mutter gelöst werde. Unterbleibe diese Entkopplung, so wie es bei der steigenden Zahl der Alleinerziehenden der Fall sei, könne dies später im Leben der Kinder zu Bindungsproblemen führen.

Er habe so viele Patienten behandelt, berichtet Coolsaet, die schlicht nicht wussten, was Liebe ist, wie sich dieses „Feeling“ anfühlt, weil sie einfach nie mit Liebe in Berührung gekommen seien.

Stress, Leistungsdruck und Familienzerfall lassen also die Liebe sterben – die Liebe in ihrer reinsten bio-chemischen Form?

Noch ein Nicken. Noch ein bedauerndes Schnalzen.

„Die gute Nachricht lautet allerdings: Es gibt immer Hoffnung, dass Menschen auch später im Leben geöffnet werden können und lernen zu lieben.“ Coolsaet ist überhaupt kein religiöser Mensch, beteuert er, aber das, was Liebe eigentlich ist, kann er nach vielen Jahren der Forschung nur mit einem überirdischen Begriff beschreiben. „Sakrale Fusion“ lautet seine Definition. Sie komme zustande, wenn zwei Menschen einander erlauben, gegenseitig in ihre Gefühle einzudringen, sagt der Professor und malt zwei Kreise auf ein Blatt Papier, die eine Schnittmenge bilden. „Dadurch entsteht eine neue, dritte Identität, eine Wir-Identität.“

Guttenberg und Ghadafi – zwei ganz wichtige Fälle

So. Und genau hier kommen, nun wohl ein bisschen weniger überraschens, Karl-Theodor zu Guttenberg und Oberst Gadhafi ins Spiel. Ebenso nämlich wie sich die Menschen eine Wir-Identität im Privaten und Intimen wünschen, wünschen sie sich auch eine Gefühlsidentität mit ihren Führern, erklärt Coolsaet und tippt auf die Kreiszeichnung. Der charismatische KT zu Guttenberg bot dem Volk eine breite emotionale Schnittmenge. Colonel Gadhafi eher nicht. Deswegen wollte das Volk die Beziehung mit dem Letzteren auflösen. Und den Ersteren – emotional betrachtet, jedenfalls – umarmt halten.

Als Referenz für die Richtigkeit dieser These kann der Chef-Poet der Bild-Zeitung, Franz Josef Wagner, dienen. Wohl keiner hat so stellvertretend für die Massen der Innigkeit der Deutschen mit dem Burgherrn gehuldigt. Guttenbergs Besuch samt Ehefrau in Afghanistan, der sei doch nichts anderes eine „Liebeserklärung“ gewesen, schrieb Wagner: „Wir sind eine Familie, wir gehören zusammen. Herz zeigen, Gefühle zeigen. All diese menschlichen Dinge geschehen so selten in der Politik.“ Mit anderen Worten: Das mit uns ging so tief rein, das darf nie… Noch mal Wagner: „ 420.609 Facebook-Fans wünschen sich Guttenberg zurück. Was für eine Lovestory. Deutschland ist verliebt.“ Ganz genau. Uns seit wann durchforsten Verknallte ihre Doktorarbeiten? Ja und, ach, wer vergibt nicht Lügen, die im Grunde doch der Liebesmehrung dienen sollten?

Sexologisch betrachtet, sagt Coolsaet, sind nun die scheiternden Despotien im arabischen Raum Opfer des genauen Guttenberggegenteilseins.  „Die Leute dort vermissen Politiker mit Wärme, die sie mögen können, die ein Wir-Gefühl erzeugen.“ Menschen eben, die selbst zur Liebe fähig seien. „Gadhafi zu erklären, was Liebe ist“, sagt Coolsaet und lacht ein barockes Lachen, „wäre ziemlich schwierig!“ In der Tat, denkt man, während der Professor Champagner eingießt, da füllt sich der Begriff vom demokratischen Frühling mit ganz neuer Bedeutung.

Wie hegt man sie, wie pflegt man sie?

Doch Obacht!, mahnt Coolsaet. Wie in der echten Liebe auch lohne bei der Volk-Politiker-Bindung genaues Hinsehen. Er streckt die Hände auseinander. Fusionen können verschwinden, wenn die Basis nicht stimmt! Die Enttäuschung, siehe Jugendliebe, stelle sich umso sicherer ein, je oberflächlich-verklärter das Volk für die Führer schwärme. „Hatte diese Hetzjagd auf Guttenberg in Teilen der Presse nicht etwas von enttäuschter Schwärmerei?“, fragt Coolsaet nicht unkeck. „Vielleicht wäre es besser gewesen, den Mann nicht so zu idealisieren, für die Deutschen und für ihn.“

Wie pflegt man sie denn fachgerecht, wie lässt man sie gedeihen, die Liebe zwischen Volk und Herrschern? Da ist der Professor überfragt. In seinem Buch empfiehlt er Paaren, gemeinsam zu kochen. Das verbinde Gespräch, Gefühl und Genuss. 32 Jahre lang, immerhin, ging das bei Professor Coolsaet gut. Dann trennte er sich von seiner großen Liebe. Aber in der Küche steht schon Leenje, die neue Dame an seiner Seite. Heute Abend kochen sie, morgen fliegen sie nach Birma, zum Wandern. „Man braucht“, sagt Bo Coolsaet und lacht wie ein kleiner Junge, „natürlich auch Glück!“

Foto: Ulla Kimmig