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Finnen von Sinnen?

Nein. Mit Rassismus hat der Wahlerfolg der EU-Skeptiker im Norden wenig zu tun

Das Missverständnis beginnt schon beim Namen. Die „Wahren Finnen“, die bei den Parlamentswahlen am Wochenende beachtliche 19 Prozent der Stimmen holten, heißen im wahren Finnischen mitnichten so. Das perus im Parteiname Perussuomalaiset bedeutet soviel wie bodenständig, erdverbunden, basisnah. Die „Basisfinnen“ also werden aller Voraussicht nach der neuen finnischen Regierung angehören. Der Spiegel zeigt eine erschreckend braun gefärbte Europakarte mit Ländern, in denen jetzt „Rechtspopulisten“ in den Parlamenten sitzen. Was Le Pen in Frankreich, so die Insinuation, ist Timo Soini, der Chef der Basisfinnen, im hohen Norden. Rassistische EU-Feinde überall.

Ach, wenn die Welt so einfach wäre. Es stimmt ja, die Basisfinnen ziehen rechte, man darf sogar unterstellen, hier und da rassistische Wähler an. Aber Finnland besteht nicht plötzlich zu 19 Prozent aus Rassisten. Zumal die waschechten Rassisten, die es gibt, ganz andere Parteien wählen. Mit der niederen Ansprache des Protolappen, kurzum, ist der Erfolg der Basisfinnen nicht zu erklären. Er muss andere Gründe haben.

Einer davon besteht darin, dass es eben nicht einfach „rechts“ ist, gegen Euro-Hilfszahlungen an Griechenland und Portugal zu sein. Die Sozialdemokraten in Finnland (und Deutschland!) sind es ebenfalls – jedenfalls in der bisherigen Form ohne Bankenbeteiligung. Es ist auch nicht rechts, sich darüber zu erregen, dass das Parlament bei den Zahlungen zu wenig mitzureden hat. Das tun die Grünen in Deutschland auch. Ebenso wenig rechts ist es, darauf zu beharren, dass die Volkswirtschaften im Euro-Raum ihres eigenen Glückes Schmied sind und nicht auf die Solidarität anderer bauen dürfen. Darauf haben sich sämtliche Regierungen der Europäischen Union geeinigt, nachzulesen in Artikel 125 des Lissabon-Vertrages.

Die 19 Prozent, die gestern in Helsinki auf den Bildschirmen aufleuchteten, stehen also für ein neues, lagerübergreifende politisches Motiv. Sie stehen für einen Unmut, für ein Rest-Unverständnis, das die Menschen bei allem guten Willen für die europäische Integration mit der Art und Weise befällt, wie diese EU funktioniert. Oder fehlfunkioniert. Es sind 19 Prozent, die nicht glauben wollen, dass die gegenwärtige Art von Europapolitik „alternativlos“ ist. Solche Skepsis ist nicht demokratiefeindlich. Im Gegenteil. Von Zweifeln wie diesen leben europäische Demokratien.

Dass sich der kritische Unmut nun ausgerechnet im politisch sonst so stillen und konsensorientierten Finnland Bahn bricht, hat zum einen mit Timo Soinis Person zu tun. Selbst seine schärfsten Gegner gestehen ihm zu, ein sympathischer, einnehmender und durchaus liberaler Kerl zu sein. Zum anderen hat es mit der tiefen protestantischen Grundierung des Landes zu tun. Die Finnen sind ein recht legalistisches Volk. „Wenn es Regeln gibt, dann müssen diese Regeln eingehalten werden“, sagte mir der bisherige Außenminister Alexander Stubb, „wir sind, was das angeht, ein Mini-Deutschland. Sehr streng.“

Die protestantische Grundierung beschränkt sich nicht nur auf die Gesetzestreue, sie umfasst auch den Arbeitsethos. Finnland steckte selbst einmal in einer Lage wie Griechenland. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1990/91 verlor Finnland schlagartig seinen wichtigsten Handelspartner für Rohwaren. Das Bruttosozialprodukts sankte um 10 Prozent ab, die Banken wackelten, die Arbeitslosigkeit schoss auf 20 Prozent. Was taten die Finnen? Freilich, sie erhielten auch Hilfen vom IWF. Aber parallel dazu werteten sie die Finnmark ab, kürzten ihren Sozialsektor dramatisch zusammen und schworen das Land auf einen radikalen Strukurwandel ein. Sie investieren Geld in den High-Tech-Sektor, die IT-Branche und Bildung. In Finnland arbeiten heute pro Kopf mehr Menschen in der Forschung als in jedem anderen OECD-Land.

Warum, fragen sich jetzt mehr als 19 Prozent aller Finnen, sollen andere Länder so etwas nicht auch hingekommen? Nun, könnte man antworten, akut muss man diesen Ländern, Griechenland und Portugal, eben helfen, überhaupt noch irgendwas hinbekommen zu können.

Aber was, wenn sie es trotz all der Milliarden nicht schaffen?

Tja.

Dieser Zweifelsbereich bleibt die Erfolgszone der Timo Soinis.

 

Unser Geld!

Die „Basisfinnen“ wollen sämtliche EU-Hilfszahlungen stoppen. Bei den Wahlen im Norden werden sie dafür wohl kräftig belohnt

Helsinki

Angesichts der Sondersitzung des Kabinetts, aus der der Außenminister gerade kommt, nimmt Alexander Stubb recht gefasst in seinen Dienstwagen Platz. Der drahtige 43jährige, der im Privatleben gern Ironman-Wettkämpfe absolviert, legt sein I-Pad beiseite und greift nach einer Packung Menthol-Bonbons. Nein, wimmelt er ab, über konkrete Summen für Portugal sei nicht geredet worden, dafür sei es zu früh. Fest steht für ihn, den nordischen Politstar und größten EU-Fan Finnlands, im Moment nur, „dass wir die europäische Wirtschaft retten müssen.“

Dass nach Griechenland und Irland jetzt ein drittes Land unter den Euro-Rettungsschirm schlüpft, verpasst dem Wahlkampf, der gerade in Finnland tobt, einen heißen Endspurt. Ausnahmsweise nämlich ist diese finnische Wahl am 17. April einmal spannend. Sie wird beherrscht von einer Grundsatzfrage, die sich über Finnland hinaus stellt und die immer weniger Menschen mit solcher Großzügigkeit beantworten wie Außenminister Stubb. Sie lautet, wie viel Solidarität sich der Euro-Bund leisten kann.

Weniger EU, mehr Christentum

Gar keine mehr!, fordert eine aufstrebende, bekennend populistische Partei am anderen Ende des politischen Spektrums. Die so genannten „Basisfinnen“ rufen dazu auf, die Wahlen zu einem Referendum gegen Stützungskredite für pleitegehende Euro-Staaten zu machen. In Umfragen liegen die aus der Finnischen Bauernpartei hervorgegangenen Protestler mittlerweile zwischen 15 und 18 Prozent, empor geschnellt von gerade einmal 4 Prozent bei Wahlen 2007. Ihr finnischer Name Perussoumalaiset wird oft ungenau mit „Wahre Finnen“ übersetzt; perus bedeutet eher soviel wie bodenständig. Neben weniger EU fordern die wahrlich finnischen Finnen unter anderem weniger Einwanderung, mehr Christentum und einen Stopp öffentlicher Fördergelder für Moderne Kunst.

Trotz offenkundiger Appelle an den rechten bis rassistischen Gesellschaftsrand ist der Chef der Partei, Timo Soini, zum populärsten Politiker des Landes aufgestiegen. Der 49jährige stammt aus demselben Wahlkreis im wohlhabenden Helsinkier Speckgürtel wie der bürgerliche Außenminister – bloß dass Soini seinen Erfolg darauf stützt, sich als das genaue Gegenteil des adretten Stubb in Szene zu setzen. Er bekennt eine Schwäche für Bier und Wurst, durchzieht seine Reden mit süffisanten Witzen und zoomt EU-Politik in einfachen Hauptsätzen auf Wohnzimmer-Niveau herunter. In einer dem letzten TV-Duelle vor der Wahl erklärte Soini, der von den Staatschefs vereinbarte „Mammut-Mechanismus“ könne nicht funktionieren, die Bail-out-Zahlungen wüchsen der EU über den Kopf. „Wir werden das alle auf unserer Stromrechnung sehen.“

Vermeintliche Alternativen zu vermeintlicher Alternativlosigkeit zu präsentieren, ist der eine Grund für die Beliebtheit der Basisfinnen. Ein anderer ist schlicht der Spaß-Faktor, den sie bringen. In einem Land, in dem der Konsens heilig ist und Polit-Talks traditionell so zuhörerfreundlich verlaufen wie Dermatologen-Kongresse, erhalten die Basisfinnen vor allem Zuspruch aus dem Pool der bisher Desinteressierten. Und diese Gruppe ist groß. Ein Drittel aller Finnen konnten in einer aktuellen Umfrage nicht sagen, welche Parteien gerade die Regierung stellen (es sind das Zentrum, die Nationale Sammlungspartei, die Schwedische Volkspartei und die Grünen).

Timo Soini, ein finnischer Peter Gauweiler 

Die Basisfinnen stechen aus der Eintönigkeit heraus durch zum Beispiel Pertti Virtanen, Songwriter mit Baskenmütze und Dali-Bart, der als Psycho-Trainer das finnische Ski-Springer-Team betreute, bevor er ins Parlament einzog. Oder durch Tony Halme, einem bekannten Profi-Wrestler, der mit rassistischen Anwandlungen Anstoß erregte, bis er vergangenes Jahr an den Folgen einer selbst zugefügten Schussverletzung starb. Und natürlich durch Timo Soini, den Parteichef selbst. Sogar Soinis Gegner bescheinigen ihm, kein Rassist zu sein, sondern ein ausgesprochen netter Kerl. „Er zieht natürlich rechte Wählergruppen an“, sagt der ehemalige Außenminister Erkki Tuomioja von den oppositionellen Sozialdemokraten, der im Nieselregen in der Helsinkier Haupteinkaufstraße versucht, Wähler zu werben, „aber man kann ihn nicht als finnischen Le Pen dämonisieren. Das ist er nicht.“

Ein finnischer Peter Gauweiler vielleicht eher. An einem Dienstabend füllt Soini einen Hörsaal im Hereuka-Wissenschaftspark in Vantaa mit 150 Menschen. Aus allen Alterschichten stammen die Neugierigen, das Garderobenspektrum reicht vom Jogginganzug bis zum Dreiteiler. Der durchschnittliche Basisfinnen-Wähler, sagen Untersuchungen, verdient zwischen 50.000 und 70.000 Euro jährlich, fährt am liebsten Mercedes und ärgert sich über steigende Steuern. Betont lässig schlurft Soini ins Foyer. Über seinem stolzen Bauch spannt sich das gestreifte Tuch eines Marimekko-Hemdes (das finnische Label schlechthin), unter dem Kragen baumelt ein Goldkettchen, das Kinn darüber ist eher grobmotorisch rasiert.

Wer versucht, klare Antworten von Soini zu bekommen, dem wird seine Schwäche (oder Stärke?) schnell deutlich. Der Mann ist wesentlich besser darin ist, zu sagen, was er nicht will, als darin, was er will.

Herr Soini, was machen Sie, wenn Sie in der Regierung sind? Die Kreditzahlungen zurücknehmen? „Wir sind in einer rechtswidrigen Situation“, antwortet er. „Der EU-Vertrag verbietet, dass Euro-Länder einander helfen.“

Die anderen Parteien sagen aber, sie werden Sie nur in der Regierung akzeptieren, wenn sie dem Euro-Reformpaket zustimmen.

„Ja, aber wenn wir ein gutes Resultat bekommen, ändern sich die politischen Muster. In Deutschland gibt es doch auch immer größere Zweifel und sogar Verfassungsklagen gegen den Mechanismus.“

Zweifel darf man aber vor allem daran haben, ob die Rigorosität von Soini und seinen Basisfinnen eine Regierungsbeteiligung überlebt. Wahrscheinlich, sagen Beobachter, werde am Ende ein Arrangement stehen, wie es die finnischen Grünen in der Atomfrage eingegangen seien. Offiziell sind sie für einen Ausstieg. Gleichwohl gehören sie mit diesem Sondervotum einer Regierung an, die einen Ausbau beschlossen hat. So könnten auch die Basisfinnen halten: Im Programm Nein sagen zu EU-Hilfen, in der Praxis Ja.

Wir gewinnen Geld, kontert Minister Stubb

Außenminister Stubb schließt deshalb keineswegs aus, eine Koalitionsregierung mit den Basisfinnen zu bilden. „Timo Soini und ich gute Freunde“, erzählt er erstaunlicherweise, „wir haben großen Respekt vor einander.“ Auch mit den Basisfinnen im Kabinett, versichert Stubb, werde sich Finnland „auf keinen Fall“ in eine nordische Slowakei verwandeln, die die Rettungszahlungen für Euro-Partner verweigere. Da solle sich der Rest Europas ganz sicher sein. „Das Schöne ist doch: Regierungsbeteiligung schafft Verantwortung. Verantwortung schafft rationales Denken. Und rationales Denken schafft gute Ergebnisse.“

Im Falle der griechischen Hilfsdarlehen hießen die, dass Finnland bisher schon 10 Millionen Euro Zinszahlungen aus Athen bekommen habe. „Wir haben also gar nichts verloren!“ Sei dieser Gedanke, fragt Stubb mit leichter Besorgnis, eigentlich so schon in Deutschland angekommen?

 

Mehr Liebe wagen!

Der belgischer Sexualforscher Bo Coolsaet warnt, dass wir die Innigkeit verlernen. Dabei brauchen wir sie – gerade in der Politik

Ulla Kimmig
© Ulla Kimmig (http://www.ullakimmig.de)

Eigentlich wollten wir mit Bo Coolsaet über die Liebe reden. Über die schlimme Entwicklung, genauer gesagt, dass es immer weniger Liebe gibt auf der Welt. Was daran liegt, dass immer weniger Menschen zur Liebe fähig sind.

Dies jedenfalls behauptet der Sexualwissenschaftler in einem neuen Buch, das in seiner Heimat Belgien gerade die Bestsellerlisten stürmt. Über den Niedergang der Liebe also wollen wir reden. Und was passiert? Wir sitzen kaum eine halbe Stunde zusammen, da sprechen wir über Karl-Theodor zu Guttenberg und Muammar Gadhafi – und zwar absolut folgerichtig. Es ist erstaunlich: Die Liebe und die Politik und der Liebesmangel und die Sehnsucht, all das lässt sich bei ernsthafter Betrachtung kein bisschen trennen!

Aber der Reihe nach. Wer ist eigentlich dieser Bo Coolsaet?

Es ist zunächst einmal ein Glück, dass sein hellweißer Lockenschopf in der Nachmittagssonne strahlt wie ein Leuchtturm, sonst würde man die Einfahrt zu seinem Anwesen in der Nähe von Antwerpen glatt verpassen. Mit schwungvollen, frohgemuten Ganzkörperbewegungen winkt er das Auto von der ländlichen Baumallee hinein in den heckengesäumten Weg, der zu seiner „Eulenburg“ führt. Prachtvoll hat der Professor den alten Bauernhof zu einer Landvilla im Atriumstil renoviert.

Der Pinsel der Liebe

Hier lebt der Mediziner, Heilkundler und Sexualtherapeut von internationalem Ruf, wenn er nicht gerade Vorträge in New York hält, arabische Ölscheichs mit Erektionsproblemen visitiert, in Neuguinea Phallus-Skulpturen von Eingeborenen erwirbt oder in der Urologie der Klinik von Antwerpen seine regulären Patienten betreut. Auf mittlerweile drei Bücher gründet sich die Prominenz des 71jährigen Flamen, sein populärwissenschaftlicher Erstling „Der Pinsel der Liebe – Leben und Werk des Penis“ von 1998 wurde in 17 Sprachen übersetzt, „HOMage“ von 2007 widmete sich dem männlichen Altern. Coolsaets neues Buch gibt es bisher nur auf Flämisch, sein Titel „De Alchemie van Liefde & Lusten“ erschließt aber auch dem Ausländer auf Anhieb – ganz zu schweigen von dem barocken Design mit dem Goldschnitt, die es zu einem geradezu erotisierenden Handschmeichler machen. 5000 Belgier erlagen schon am ersten Erscheinungstag der Versuchung des neuen Coolsaet und griffen zu.

„Welcome, welcome!“ ruft unser Einstein der Lust und schließt den Gast so stürmisch in die Arme, dass man denkt, holla, wenn das aber mal kein Liebesüberschuss ist!

Stimmt, sagt Bo Coolsaet und lacht, als wir drinnen vorm knisternden Kamin Platz genommen haben. Er sei in der glücklichen Lage, es wirklich zu kennen, das große „Liebes-Gefühl“, sagt er, während er eine Packung kubanischer Zigaretten öffnet. Seinen Eltern habe er das zu verdanken, erzählt er mit seligem Lächeln. Die beiden hätten sich wahrhaft und tief geliebt, und diese Liebe hätten sie an ihre Kinder weitergegeben. Andere, immer mehr Menschen, erlebten dies leider nicht, sagt der Experte.

Die Menschheit liebt also wirklich immer weniger, Herr Professor?

Coolsaet nickt ein stummes, schweres Nicken und schnalzt bedauernd mit der Zunge.

„Ja.“

Warum die Liebe stirbt

Die Beeinträchtigung der Liebesfähigkeit beginne schon im Mutterleib, erklärt er. Forschungen auf dem Felde der so genannten Epigenetik hätten gezeigt, dass Umwelteinflüsse während der Zellteilung Einfluss auf die Aktivität des Erbgutes und damit auf die Prägung von Menschen haben können. „Durchleidet die Mutter während der Schwangerschaft Stress oder Beziehungsprobleme, kann sich dies genetisch auf die Liebesfähigkeit des Kindes auswirken.“

Als zweiter Faktor beeinflusse in der frühen Kindheit das emotionale Klima innerhalb der Familie die „Wärme des Menschen“, wie Coolsaet die Empfänglichkeit für Empfindsamkeit nennt. Sind die Eltern durch ihre Jobs genervt oder von wirtschaftlichen Sorgen geplagt, sei gut möglich, dass sich das Kühle im Miteinander auf die Persönlichkeit des Kindes übertrage. Schließlich, ab etwa drei Jahren, müsse eine starke Vaterfigur dafür sorgen, dass das Kind von der einseitigen Bindung an die Mutter gelöst werde. Unterbleibe diese Entkopplung, so wie es bei der steigenden Zahl der Alleinerziehenden der Fall sei, könne dies später im Leben der Kinder zu Bindungsproblemen führen.

Er habe so viele Patienten behandelt, berichtet Coolsaet, die schlicht nicht wussten, was Liebe ist, wie sich dieses „Feeling“ anfühlt, weil sie einfach nie mit Liebe in Berührung gekommen seien.

Stress, Leistungsdruck und Familienzerfall lassen also die Liebe sterben – die Liebe in ihrer reinsten bio-chemischen Form?

Noch ein Nicken. Noch ein bedauerndes Schnalzen.

„Die gute Nachricht lautet allerdings: Es gibt immer Hoffnung, dass Menschen auch später im Leben geöffnet werden können und lernen zu lieben.“ Coolsaet ist überhaupt kein religiöser Mensch, beteuert er, aber das, was Liebe eigentlich ist, kann er nach vielen Jahren der Forschung nur mit einem überirdischen Begriff beschreiben. „Sakrale Fusion“ lautet seine Definition. Sie komme zustande, wenn zwei Menschen einander erlauben, gegenseitig in ihre Gefühle einzudringen, sagt der Professor und malt zwei Kreise auf ein Blatt Papier, die eine Schnittmenge bilden. „Dadurch entsteht eine neue, dritte Identität, eine Wir-Identität.“

Guttenberg und Ghadafi – zwei ganz wichtige Fälle

So. Und genau hier kommen, nun wohl ein bisschen weniger überraschens, Karl-Theodor zu Guttenberg und Oberst Gadhafi ins Spiel. Ebenso nämlich wie sich die Menschen eine Wir-Identität im Privaten und Intimen wünschen, wünschen sie sich auch eine Gefühlsidentität mit ihren Führern, erklärt Coolsaet und tippt auf die Kreiszeichnung. Der charismatische KT zu Guttenberg bot dem Volk eine breite emotionale Schnittmenge. Colonel Gadhafi eher nicht. Deswegen wollte das Volk die Beziehung mit dem Letzteren auflösen. Und den Ersteren – emotional betrachtet, jedenfalls – umarmt halten.

Als Referenz für die Richtigkeit dieser These kann der Chef-Poet der Bild-Zeitung, Franz Josef Wagner, dienen. Wohl keiner hat so stellvertretend für die Massen der Innigkeit der Deutschen mit dem Burgherrn gehuldigt. Guttenbergs Besuch samt Ehefrau in Afghanistan, der sei doch nichts anderes eine „Liebeserklärung“ gewesen, schrieb Wagner: „Wir sind eine Familie, wir gehören zusammen. Herz zeigen, Gefühle zeigen. All diese menschlichen Dinge geschehen so selten in der Politik.“ Mit anderen Worten: Das mit uns ging so tief rein, das darf nie… Noch mal Wagner: „ 420.609 Facebook-Fans wünschen sich Guttenberg zurück. Was für eine Lovestory. Deutschland ist verliebt.“ Ganz genau. Uns seit wann durchforsten Verknallte ihre Doktorarbeiten? Ja und, ach, wer vergibt nicht Lügen, die im Grunde doch der Liebesmehrung dienen sollten?

Sexologisch betrachtet, sagt Coolsaet, sind nun die scheiternden Despotien im arabischen Raum Opfer des genauen Guttenberggegenteilseins.  „Die Leute dort vermissen Politiker mit Wärme, die sie mögen können, die ein Wir-Gefühl erzeugen.“ Menschen eben, die selbst zur Liebe fähig seien. „Gadhafi zu erklären, was Liebe ist“, sagt Coolsaet und lacht ein barockes Lachen, „wäre ziemlich schwierig!“ In der Tat, denkt man, während der Professor Champagner eingießt, da füllt sich der Begriff vom demokratischen Frühling mit ganz neuer Bedeutung.

Wie hegt man sie, wie pflegt man sie?

Doch Obacht!, mahnt Coolsaet. Wie in der echten Liebe auch lohne bei der Volk-Politiker-Bindung genaues Hinsehen. Er streckt die Hände auseinander. Fusionen können verschwinden, wenn die Basis nicht stimmt! Die Enttäuschung, siehe Jugendliebe, stelle sich umso sicherer ein, je oberflächlich-verklärter das Volk für die Führer schwärme. „Hatte diese Hetzjagd auf Guttenberg in Teilen der Presse nicht etwas von enttäuschter Schwärmerei?“, fragt Coolsaet nicht unkeck. „Vielleicht wäre es besser gewesen, den Mann nicht so zu idealisieren, für die Deutschen und für ihn.“

Wie pflegt man sie denn fachgerecht, wie lässt man sie gedeihen, die Liebe zwischen Volk und Herrschern? Da ist der Professor überfragt. In seinem Buch empfiehlt er Paaren, gemeinsam zu kochen. Das verbinde Gespräch, Gefühl und Genuss. 32 Jahre lang, immerhin, ging das bei Professor Coolsaet gut. Dann trennte er sich von seiner großen Liebe. Aber in der Küche steht schon Leenje, die neue Dame an seiner Seite. Heute Abend kochen sie, morgen fliegen sie nach Birma, zum Wandern. „Man braucht“, sagt Bo Coolsaet und lacht wie ein kleiner Junge, „natürlich auch Glück!“

Foto: Ulla Kimmig

 

Wutbelgier

In Belgien findet derzeit – freilich nicht zum ersten Mal – ein interessantes Experiment statt. Wie lange kann ein Land ohne Regierung auskommen? Bisher sind es summa summarum 200 Tage. Solange bemühen sich flämische und wallonische Parteien in Belgien schon vergeblich, ein Kabinettsteam zu bilden.

Die Gründe dafür zu erhellen, wäre ein müßiges Unterfangen. Belgische Koalitionspolitik ist die Fortsetzung des Dadaismus mit anderen Mitteln; jeder Durchdringungsversuch endet ohne Erkenntnisgewinn im engeren Sinne. Dies ist höchstwahrscheinlich ein Grund dafür, dass es ein Internet-Video des Flamen Kris Janssens seit Anfang Januar zu beachtlicher Prominenz im Königreich gebracht hat.

In einem vier Minuten langen Ausbruch (mit deutschen Untertiteln hier erhältlich) empört sich der junge Mann beeindruckend treffsicher über die Lage der Nation, insbesondere über die jüngste Ankündigung eines ranghohen Politikers, es sei jetzt an der Zeit, „ruhig“ darüber nachzudenken, wie man die „Regierungsbildung am besten anfange“.

Janssens, ein junger Journalist, ist zum landesweit bekannten Youtube-Sinnbild des Wutbelgiers geworden. „Haben diese Menschen gar kein Schamgefühl?“, fragt er mit großen Augen. „Wenn deine Dusche kaputt ist und du rufst einen Klempner, und nach 200 Tagen, für die du ihn bezahlt hast, sagt er, es sei jetzt an der Zeit ruhig darüber nachzudenken, wie man am besten anfange, ja, dann gehört der doch vor Gericht!“ Youtube starten und angucken. So haben Sie Belgien noch nie verstanden.

Das Ausbleiben einer Regierung macht sich im Alltagsleben (jedenfalls in dem des Korrespondenten) übrigens kaum bemerkbar. Belgien ist eben vor allem eine gesunde Multi-Level-Bürokratie. Und doch, Tausende von Belgiern fühlen sich offenbar schlicht verhöhnt von gewählten Politikern, die die Politik verweigern. Vor wenigen Tagen zog es, ganz wie Janssens es sich wünschte, mehrere Zehntausend auf die Straße, weil sie ganz einfach Sehnsucht haben nach denen da oben.

Solche Proteste gehen zu Herzen. Die Politiker sollten die Erinnerung an sie speichern und pflegen. Seht mal, können sie vielleicht irgendwann sagen, so sehr habt ihr uns gewollt, damals.

 

Geert Wilders, Retter des Abendlands

Der niederländische Populist sieht sich als geistiges Oberhaupt einer globalen Allianz gegen den Islam. Am Wochenende tritt er in Berlin auf. Ein Reisebericht

Berlin/New York/Rotterdam

Den Ort, an dem Geert Wilders in Berlin auftritt, wollen seine Gastgeber lieber nicht preisgeben. Nur gut 500 Interessenten, die sich für den Auftritt des niederländischen Islamkritikers am 2. Oktober zuvor übers Internet beworben haben, sollen ihn erfahren. „Viele werden wahrscheinlich gar nicht kommen können“, bedauert René Stadtkewitz. Sicherheitsgründe, sagt er, muss man verstehen. Wilders, stets umgeben von Leibwächtern, will einen Vortrag auf Deutsch halten und seinen Film „Fitna“ vorführen, einen blutigen Extremistenschocker, der direkte Verbindungen zwischen Koran-Suren und Terrorismus herstellt. Unter anderem deswegen steht Wilders in Holland wegen Anstachelung zum Hass vor Gericht. Unter anderem deswegen ist seine Partij voor de Vrijheid (PVV) bei den Wahlen im Juni aber auch mit 24 von 150 Sitzen zur drittstärksten Kraft im Haager Parlament aufgestiegen. Nach langen Verhandlungen haben Rechtsliberale und Christdemokraten diese Woche beschlossen, ihre Regierung von Wilders dulden zu lassen.  

René Stadtkewitz sitzt, in Schlips und Kragen, vor einer Teestube am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg. Gerade hat eine holländische Filmcrew Aufnahmen von ihm im Kopftuch-Kietz geschossen. Der Mann wirkt siegesgewiss für einen, dessen politische Karriere vor wenigen Tagen beendet erschien. Am 7. September schloss die Berliner CDU den Stadtverordneten aus Pankow aus ihrer Fraktion aus. Landeschef Frank Henkel hatte ihn aufgefordert, die Einladung an Wilders zurückzuziehen. Stadtkewitz weigerte sich und rief stattdessen seine eigene Partei aus. sagte er dort in Anspielung auf Thilo Sarrazin. Deshalb müsse nicht nur die Einladung an Wilders bestehen bleiben. Deshalb müsse auch eine neue Partei her. „Die Freiheit“ haben Stadtekewitz und seine Mitstreiter, ein ebenfalls ehemaliger CDU-Politiker und ein Ex-Mitglied der Piratenpartei, sie getauft. Freiheit, weil sie es leid sind, „tatenlos mitanzusehen, wie einige durchs Land gejagt werden, nur weil sie den Finger in die Wunde legen.“ Der „Ansturm“, den er und seine Mitstreiter seither erleben, sei kaum zu bewältigen, sagt Stadtkewitz.

Hat das Phänomen Wilders also auch anderswo Erfolgschancen? Wird Islamkritik so schick, dass sie mit eigenen Parteien in die bürgerliche Mitte einbrechen kann? Entsteht gar in Deutschland der erste Ableger einer sich internationalisierenden, entgrenzenden Partij voor de Frijheid?

Ein Händler in Sachen Legitimität

Genau das hat Geert Wilders im Sinn. Der blondierte Hitzkopf will Höheres bewirken mit seiner Prominenz. Einem Reporter der Zeitung „De Telegraaf“ gab der 46jährige im Juli zu verstehen, dass er sich als spirituelles Oberhaupt einer Koalition betrachtet, die weit über die Niederlande hinaus geht. Ende November, wenn das Gerichtsverfahren gegen ihn beendet sei, kündigte er an, wolle er eine „Geert Wilders Freiheits-Allianz“ ins Leben rufen. Er wolle sich dabei zunächst auf fünf Länder konzentrieren, die Vereinigten Staaten, Kanada, Großbritannien, Frankreich und Deutschland. „Alle diese Länder will ich in den kommenden Monaten besuchen und Reden halten.“

Dort wird er das sagen, womit er in Holland schon gesellschaftsfähig geworden ist. Dass der Koran ebenso verboten werden müsse wie Hitlers „Mein Kampf“. Dass es keinen Unterschied gebe zwischen Islam und Islamismus, weil der Islam eine umfassende Gesellschaftsordnung predige. Um die Islamisierung des Westens zu stoppen, müsse nun „mehr auf internationaler Ebene passieren.“ Nach seinem festen Tritt in Holland muss Wilders nach horizontaler Anerkennung nicht lange suchen. Allzu gerne lehnen sich Anti-Islamisten aus aller Welt an die Lichtfigur an. In den Niederlanden war Wilders ein „Händler in Sachen Angst“, wie der Schriftsteller Geert Mak es formuliert. Jetzt, nach der Wählerweihe, wird er jenseits von Polderland ein Händler der Legitimität. 

Wie wirkungsvoll er seinen Helden-Status strahlen lässt, ließ sich am 11. September in New York besichtigen. Hier, am Ground Zero, startete Wilders seine Fünf-Länder-Tournee. Fast ein Jahrzehnt nach den Anschlägen auf Amerika versammelten sie sich am Park Place im Manhattan; die Ungeduldigen, die Unverstandenen, die Zornigen und die politischen Inkorrekten, die wähnen, den Mut zur Wahrheit besitzen und als Einzige die Schicksalsfrage unserer Zeit auszusprechen. „Tea Party Patriots“, Feuerwehrleute, Irakkriegsveteranen, Zionisten, selbsternannte Freidenker und britische Rechtsradikale – all jene, die im Gegensatz zum politischen Establishment und den verhassten Mainstream-Medien glauben, nichts als die Wahrheit zu sagen.

Ihre Wahrheit lautet, dass es, Schluss mit dem Appeasement!, sehr wohl einen Zusammenhang gibt zwischen dem Islam und der Verachtung der westlichen Lebensweise. Eben weil der Islam, so sehen sie, keine Religion wie jede andere ist, sondern weil er eine Ideologie mit sich herumschleift. „Weil der Koran voll von Anstachelung zur Gewalt ist“, so Wilders, fielen die Twin Towers, werden Frauen verstümmelt, müssen Mohammed-Karikaturisten um ihr Leben fürchten und gibt es diese furchtbaren Probleme mit Migrantengangs in Europas Großstädten. Ganz einfach.

„Wilders for President!“

„So weit dürfen wir es bei uns nicht kommen lassen“, findet Bob Schmidt. Der 56 Jahre alte New Yorker hat sich mit seinem Schild „Wilders for President!“ in die erste Reihe vor dem Rednerpult gedrängt. „Die meisten hier kennen Wilders nicht“, sagt Schmidt, „aber sie werden ihn kennen lernen.“ Schmidt hat Wilders Karriere über das Internet verfolgt, und er ist beeindruckt von dem Mann, den keine Morddrohung schreckt. Er dreht sein Plakat herum. Auf die Rückseite hat er geschrieben, was wohl die meisten der Versammelten für sich in Anspruch nehmen: „Das Wort Rassist zieht nicht mehr!“

Dieser 11. September 2010 also war der Startschuss, um ein bisher vor allem virtuelle Netz der Islamkritiker in die Echt-Welt zu ziehen. Eingeladen nach New York hatte Wilders eine Web-Sammelbewegung namens SIOA, Stop Islamization of America. Ihre Homepage ist gut vernetzt ist mit SIOE (Stop Islamization of Europe), welche ihrerseits übersichtlich verlinkt auf die Seiten von Stop Islamization of Deutschland, Österreich, Frankreich, Schweden, Belgien und der Färöer-Inseln. Es gibt sie überall, die Wilderisten.

Ihre bisherige Haupterrungenschaft ist es, eine regelrechte Suböffentlichkeit zum traditionellen Mediendiskurs geschaffen zu haben. In Deutschland etwa ist es vor allem die Plattform „Politically Incorrect“ des ehemaligen Sportlehrers Stefan Herre, die Nachrichten, Filme und Termine „gegen die Islamisierung Europas“ bündelt. Die Gesamtzahl der Seitenaufrufe liegt laut Eigenzählung bei knapp 108 Millionen, etwa 75 000 User tummeln sich demnach jeden Tag auf der Seite, die sich selbst als „größten Blog Europas“ bezeichnet. Mitte Juli empfing Geert Wilders Herre zusammen mit René Stadtekewitz in seinem Büro in Den Haag.  „Wilders unterstrich in dem Gespräch die Bedeutung Deutschlands für die Geert Wilders Allianz für die Freiheit“, berichtete „Politically Incorrect“ nach dem Besuch. Jetzt also Berlin.

 „Das Thema Internationalisierung haben wir noch gar nicht im Blick“, wiegelt René Stadtkewitz ab. „Und wir werden auch bestimmt nicht mit Geert-Wilders-Fanschals dastehen, wenn er spricht. Wir wollen mit ihm reden. Kritisch reden.“

Eine neue Avantgarde der Aufklärung?

Man muss den Anspruch dieser neuen Bewegung, recht eigentlich eine Avantgarde der Aufklärung zu sein, ernst nehmen, wenn man sie durchdringen und ihr begegnen will. Sie mitsamt den Le Pens und Haiders dieser Welt als Rechts-Populisten abzuhaken, greift zu kurz. Natürlich zieht der Schlachtruf „Islam = Böses“, siehe die Sarrazin-Debatte, Dumpfheit und Ressentiment an. Aber Wilders und Stadtkewitz versichern, Rassisten weder zu sein noch sie in ihrer Bewegung zu dulden. „Wir sind keine Freunde jener Parteien und Politiker quer durch Europa, die mit uns Kontakt aufnehmen wollen“, beteuert Wilders.

Das mag aufrichtig gemeint sein, aber es bleibt ein bestenfalls naiver Anspruch, angesichts des ganz eigenen Extremismus, den diese neue Internationale produziert. Vielleicht nennt man ihn besten einen Absolutismus des Verdachts. Die Wilderisten verurteilen den Islam in der Tat völlig unabhängig davon, von welcher Rasse er – um in ihrem Bilde zu bleiben – Besitz ergriffen hat. Sie halten nicht den Menschen für unveränderlich, sondern eine angeblich im Mittelalter zurückgebliebene Weltanschauung. Sie werfen dem New Yorker Moscheegründer seinen Glauben genauso vor wie dem indonesischen Imam und dem türkischen Gemüsehändler. Sie würden, kurzum, am liebsten eine Religion einstampfen, der weltweit etwa 1,5 Milliarden Menschen angehören – und in der durchaus gerade ein Kampf der Reformer gegen die Traditionalisten tobt. Aber Modernisierungsmöglichkeiten passen nicht ins Weltbild der Islamgegner. Die Fähigkeit zur Selbstkritik sprechen sie dem Islam schlicht ab. Sie betrachten ihn eher als ansteckende Krankheit.

Die Religion verachten ohne die Gläubigen zu verachten?

In einem Interview mit dem australischen Nachrichtensender SBS sagte Geert Wilders, er lehne Immigration aus sämtlichen muslimischen Ländern ab, also aus allen Staaten, die mehrheitlich von Muslimen bewohnt seien.

Rückfrage des Moderators: Auch die von Christen aus dem Libanon oder Juden aus Ägypten?

Antwort Wilders: Auch die, denn die Fakten bewiesen nun einmal, dass dort, wo die islamische Kultur dominiere, die Freiheit unterentwickelt sei. „Der Islam“, doziert Wilders, „ist eine gewalttätige Ideologie wie der Kommunismus und der Faschismus. Deswegen sollten wir ihn auch so behandeln. Sonst wird er uns eines Tages auffressen.“

Die Religion zu verachten ohne die Gläubigen zu verachten, das soll gehen? Aber natürlich, antwortet René Stadtkewitz. Schließlich gebe es doch auch Muslime, die den Islam für seine „ideologischen Kompetenten“ kritisierten. Die meisten der Leute, die ihn kontaktieren, um Landesverbände in Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein oder NRW zu gründen, seien CDU-Anhänger, berichtet er. „Es sind aber auch viele SPDler dabei, und eine Menge von der FDP. Das sollen alles Rechtsradikale sein?“

Aber was für eine Politik will „Die Freiheit“ denn entwickeln? Eine neue Einwanderungspolitik, so viel ist zu erfahren, stellt sich der Gründer vor, wohl auch ein Burka-Verbot – aber worum es ihm eigentlich gehe, sagt Stadtkewitz, sei die Frage: „Wollen wir in 20, 30 Jahren immer noch dieselben Debatten über Integration führen, weil wir uns weiter in die Taschen lügen, oder müssen wir jetzt nicht endlich einmal etwas dagegen unternehmen, dass der Islam von Fanatikern dominiert wird?“ Eben diese Entwicklung, erzählt Stadtkewitz, habe er bei vielen Gesprächen ausgemacht, die er in den Teestuben von Moabit, Neukölln und Kreuzberg gesucht habe. „Gerade die jüngeren Migranten waren kaum zu Gesprächen bereit, sie waren einfach nur aggressiv. Für viele Jugendliche ist es ein Nationalitätenersatz, Moslem zu sein. Das kommt vom Einfluss falscher Imame. Unsere Gesellschaft ist anscheinend zu dumm, das zu erkennen.“

„Wie soll man sich denn als liberale Muslima Gehör verschaffen?“

Vielleicht ist sie nicht zu dumm, vielleicht pflegt sie einfach zu gern ein falsches Feindbild, und vielleicht ist es genau diese Lust, die viele Islamkritiker erhitzt, so wie es in ganz ähnlichen Milieus früher einmal der Anti-Kommunismus getan hat. Fatima Lamkharat glaubt, dass es so ist. Sie ist gläubige Muslima und Sozialarbeiterin in Rotterdam-Nord, einer Gegend, in der bis 90 Prozent der unter 24jährigen aus Migrantenfamilien stammen. Dort und in ihrem Nebenjob als Kommunalpolitikerin spürt die Sozialdemokratin die Wirkungen der „anti-islamischen Welle“, die Wilders auslöst.

Dabei stimmen ihre Erfahrungen zunächst einmal mit denen von Stadtkewitz überein. Gerade jüngere Muslime seien geprägt von radikalem religiösem Gedankengut, das sie zum Teil aus den Moscheen, zum Teil aus dem Internet bezögen. „Viele sind so engstirnig, dass sie mich fragen, ob es richtiger sei, mit weißen oder mit schwarzen Socken zu beten. Und vielen schützen den Koran als Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung von Frauen vor.“ Doch Lamkharat findet andere Gründe für diese Flucht ins Anderssein. „Das Gefühl, dazuzugehören, ist einfach wichtig für die jungen Leute. Genau das verweigern ihnen Wilders und seine Anhänger. Sie stoßen die Muslime immer wieder in genau die Ecke, aus der sie herauskommen wollen.“

Lamkharat selbst sei einmal von einem holländischen Fernsehsender angerufen worden, erzählt sie. Es ging um einen Auftritt in einer Talkshow. „Als der Redakteur mich fragte, ob ich ein Kopftuch trage und ich nein sagte, sagte er, sorry, aber dann könne er mich für die Runde nicht gebrauchen.“ Lamkharat zuckt mit den Schultern. „Wie soll man sich da Gehör verschaffen als liberale Muslima?“

„Raus! Raus! Raus!“, brüllt die Menge

In New York tritt Geert Wilders auf die Lastwagenbühne vorm Ground Zero. Er sieht vergnügt aus, lächelt, genießt den Moment, in dem die Kameras der Welt auf ihn gerichtet sind. „New York“, sagt er, „ist auf holländischer Toleranz gegründet“, doch diese Toleranz gehe jetzt zu weit. „Der Westen“, sagt er unter Jubel der Menge und, „hat niemals den Islam verletzt, bevor der Islam uns verletzt hat. Das muss aufhören!“

Wie furchtbar Recht der Aufwiegler mit diesem Satz hat, bekommt Wilders nicht mit. Kurz vor seinem Auftritt hat sich ein Moslem mit Strickkappe und Bart unter sein Publikum getraut. Er will, dass die Leute nicht über, sondern mit dem Islam reden. Rufe dringen durchs Gewühl. „Raus mit ihm! Raus mit ihm!“ Immer mehr stimmen ein. „U-S-A, U-S-A“, brüllen die Sprechchöre. Dann: „Raus! Raus! Raus!“ Irgendwann gibt der junge Mann auf. Unter Hasstiraden und Flüchen bahnt er sich seinen Weg hinaus in eine Seitenstraße. Die Hand, in der er eben noch den Koran trug, hat er jetzt zur Faust gereckt. Dass in Berlin ein Aktionsbündnis gegen Rechtspopulismus zur Wilders-Gegendemo aufgerufen hat, erscheint einem in solchen Momenten dann doch beruhigend.

 

Brüssels doppelte Moral

Warum die EU-Kommission es sich mit ihrer Kritik an Frankreich zu leicht macht

Es ist Europa in seiner besten Form, könnte man meinen, was sich in Brüssel gerade abspielt. Endlich einmal traut sich eine EU-Kommissarin aus der Deckung und sagt ihre Meinung, benimmt sich nicht wie eine graue Beamtin, sondern wie eine Politikerin. Eine „Schande“, polterte die Justizkommissarin Viviane Reding, sei ein Runderlass der französischen Regierung, in dem es pauschal heiße, Roma seien aus dem Land auszuweisen. Sie hätte nicht erwartet, sagte die Luxemburgerin, dergleichen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal erleben zu müssen.

Frankreichs Staatschef Nicolas Sarkozy sei infolge dieser „Beleidigung“ beim gestrigen EU-Gipfel im Brüsseler Ratsgebäude regelrecht an die Decke gefahren, berichten Diplomaten. Die Frage, was Sarkozy dem EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso während des  Mittagessens der 27 Staatschefs gesagt habe, beantwortet ein EU-Offizieller damit, dass er seine Arme wild um sich wirft und erregtes französisches Kauderwelsch zum Besten gibt. Noch auf dem Flur vor dem Sitzungssitz sei das Geschrei des Staatspräsidenten zu hören gewesen.

Natürlich ist es eine Schande, wenn eine Regierung, noch dazu, wenn sie bei jeder Gelegenheit behauptet, ihr Land sei die Heimat der Menschenrechte, nicht einzelne Menschen für Kriminalität verantwortlich macht, sondern eine ganze Gruppe. Insofern ist Redings Vergleich mit dem Rassismus der Nationalsozialisten nicht einmal abwegig (er ist freilich insofern, als Ausweisungen nach Rumänien keine Deportationen in Todeslager sind). Dennoch, was sich in Brüssel gerade zeigt, ist keineswegs ein Ausweis eines irgendwie neuen politischen Verantwortungsbewusstseins der Kommission. Die Wahrheit ist profaner. EU-Kommissare, zeigt der Fall Reding-Sarkozy, sind mitnichten frei von jenem Populismus, den sie manchen Staatschefs vorwerfen.

Seit 2006 verschleppt Frankreich die Umsetzung einer EU-Richtlinie, die individuelle Anhörungen garantiert, bevor EU-Bürger aus anderen EU-Staaten ausgewiesen werden. Auf dieses Versäumnis hätte die EU-Kommission schon längst mit einem Vertragsverletzungsverfahren reagieren müssen, nicht erst seit gestern. Was den Roma geschieht, ist ohne Zweifel unmoralisch. Ein Verstoß gegen geltendes Recht sind die Massenabschiebungen hingegen nicht zwangsläufig. Mitarbeiter der EU-Kommission geben zu, dass ihnen kein konkreter Beweis für einen Rechtsbruch Frankreichs vorliegt. Daran trägt Brüssel eine Mitschuld, denn es hat seine Aufsichtspflicht schleifen lassen.

Frau Reding täte gut daran, sich nun wieder klarer zu machen, dass sie nicht die Moral- sondern die Justizkommissarin ist. Ihre Aufgabe ist es, unabhängig von politischen Stimmungswellen die Einhaltung europäischer Gesetze und Rechtsstandards zu überwachen. 

Das gilt im Fall der Roma nicht nur für Frankreich, sondern in noch viel stärkerem Maße für Staaten wie Rumänien, Ungarn, Bulgarien oder die Tschechische Republik. Aus all diesen Ländern berichten Menschenrechtsorganisationen immer wieder schwere Fälle von Diskriminierung und Bildungshindernisse gegen Roma. So werden dort zum Beispiel Kinder von Roma immer noch automatisch in Sonderschulen für Lernbehinderte gesteckt, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese Segregation schon 2007 für rechtswidrig befunden hat.

In Tschechien und Ungarn habe es zuletzt 2008 Fälle von Zwangssterilisierungen von Roma-Frauen gegeben, dokumentiert das Europäische Zentrum für die Rechte der Roma in Budapest. Laut Angaben derselben Organisation nehmen es die Regierungen der südosteuropäischen Staaten auch nicht so genau mit der Strafverfolgung, wenn Roma-Camps mit Molotowcocktails angegriffen werden.

 All das, könnte man meinen, ist eine ziemliche Schande für Europa. Doch EU-Kommissare sind eben auch nur Politiker. Frau Reding jedenfalls fällt es offenbar leichter, Rassismus zu verurteilen als systematisch gegen dessen Ursachen anzugehen. Wenn sie und die EU-Kommission glaubwürdig bleiben möchten, muss sie das eine tun ohne das andere zu unterlassen.

 

Wer braucht Belgien?

Nach dem Wahlsieg der Separatisten: Könnten Flamen und Wallonen nicht auch getrennt überleben?

Viele Missverständnisse über Belgien beginnen mit der Annahme, es sei ein Land. Das ist eine Beschönigung. Belgien ist, um es unromantisch aber korrekt auszudrücken, die staatgewordene Konkursmasse der europäischen Imperialzeit, entstanden 1831 infolge einer Absprache zwischen den Rivalen Frankreich, Preußen und Großbritannien. Das strategisch begehrte Gebiet an der Nahtstelle des romanischen und germanischen Sprach- und Kulturraumes sollte keiner der eifernden Großmächte allein zufallen. Die Herrscherhäuser beschlossen deshalb, ein Kunst-Königreich als Pufferzone einzurichten.

Das mag gut gemeint gewesen sein; doch schon bald nachdem der sächsische Prinz Leopold I. zum Monarchen bestellt worden war, zeigte sich, dass das Nationalgefühl der Belgier zu schwinden begann. Keine 189 Jahre später, bei den Wahlen am vergangenen Sonntag, wurde die „Neue Flämische Allianz“ (N-VA) stärkste politische Kraft im Brüsseler Parlament. Die N-VA besteht nicht etwa aus fremdenfeindlichen, nationalistischen Hitzköpfen wie der berüchtigte Vlams Belang. Ihr Chef, der beleibt-selbstironische Historiker Bart De Wever, sagt bloß: „Lasst Belgien ruhig verdampfen.“

Je länger man darüber nachdenkt, desto berechtigter erscheint der Gedanke: Ja, warum eigentlich nicht?

Die Tschechoslowakei hat sich 1992 sanft in zwei geteilt. Vermisst sie jemand? Luxemburg ist winzig, Estland, Lettland und Litauen genauso. Geht es ihnen deswegen schlecht? Weshalb, kurzum, sollten sich nicht auch Flamen und Wallonen aus einer überkommenen historischen Zwangsehe befreien?

Weil, sagt der zweite Wahlsieger des vergangenen Sonntags, der Sozialdemokrat Elio Di Rupo, Belgien auf „Solidarität“ gebaut sei. So freilich nennt der Wallone, der nun Ministerpräsident werden könnte, ohne rot zu werden die mehreren Milliarden Euro, die jedes Jahr als Transfer vom reicheren flämischen Norden in den ärmeren französisch-sprachigen Süden fließen. Die Arbeitslosigkeit in der Wallonie liegt mit rund 14 Prozent fast doppelt so hoch wie der belgische Durchschnitt. Anfang der 1960er Jahre wurden in den Zechen zwischen Ardennen und Maas noch einundzwanzig Millionen Tonnen Kohle pro Jahr gefördert. Heute sind es keine zwei Millionen Tonnen mehr, und wer durch die verarmten Arbeiterquartiere von Lüttich oder Charleroi streift, kann kaum glauben, dass er sich in Westeuropa befindet. Und er wird, anders als in Flandern, kaum auf Leute treffen, die neben der französischen noch andere Sprachen pflegen. Statt auf mutigen Strukturwandel und Weltoffenheit zu setzen, so sehen es viele Flamen, klammerten sich Di Rupo und die seinen unbeirrt an die Segnungen der Umverteilungspolitik.

Ein Witz, der dieser Tage in Belgien kursiert, illustriert das sozio-ökonomische Schisma zwischen Nord und Süd recht trefflich. An einer wallonischen Fabrikwand hängt ein Schild mit der Aufschrift On ne parle pas flamand (Wir sprechen kein Flämisch). An einer flämischen Fabrikwand das Schild On ne parle pas – au travail (Wir sprechen nicht – wir arbeiten).

Viele der Flamen, die die N-VA gewählten haben, glaubt der Brüsseler Politikprofessor Dave Sinardet, hätten dies nicht getan, weil sie allen Ernstes eine Teilung des Landes wollten. „Sie ärgern sich bloß über die Blockade der Wallonen, wenn es um Reformen geht. Es reicht ihnen allmählich.“ Tatsächlich fordert auch N-VA-Chef Bart De Wever keine sofortige Scheidung. Er spricht erst einmal von einer „Konföderation“.

Viel weniger Belgien, das weiß er, wäre auch kaum möglich. Denn es gibt da ein drittes Gebilde, das die vagabundierenden Regionen beieinanderhält wie ein Atomkern. Brüssel. Im Fall einer Spaltung Belgiens müsste die Hauptstadt entweder dem Norden oder dem Süden zugeschlagen werden – oder einen autonomen Status erhalten, ähnlich wie Washington D.C. Doch nie und nimmer würden Flamen oder Wallonen auf das pulsierendere Verwaltungszentrum Europas verzichten, das hunderttausenden Pendlern Arbeit beschert. „Brüssel abzulösen wäre so, als würden die Saudi-Arabier sagen, wir planen eine Zukunft ohne Öl“, sagt Kurt de Boeuf, ein langjähriger Mitarbeiter des ehemaligen belgischen Ministerpräsidenten Guy Verhofstad. Der Flame glaubt ohnehin: „Die Wallonie kann sich erholen. Das Investment-Level nähert sich dem von Flandern an. Außerdem, Flandern altert, und in der Wallonie gibt es viele junge Leute. Irgendwann werden wir einen Rententransfer von Süd nach Nord brauchen.“

Bis es soweit ist, glaubt der Politikprofessor Sinardet, wird Belgien überleben. „Um Solidarität zu üben, muss man schließlich kein Sozialist mehr sein. Wir sehen doch gerade, dass Lastenteilung ein sehr europäischer Gedanke wird.“ Das freilich ist die hoffnungsvolle Sicht der Dinge. In vielen Staatskanzleien, gerade im Norden Europas, sieht man das ganz anders. Eine Transferunion nach belgischem Modell, das wäre der reinste europäische Albtraum – zur Nachahmung keinesfalls zu empfehlen.

 

Zur Sache, bitte

Wo blieb die Ehrlichkeit in München?

Karl-Theodor zu Guttenberg traf einen tieferen Nerv als er wollte. „Wir reden zu viel und wir erreichen zu wenig“, sagte derVerteidigungsminister heute morgen vor der Münchner Sicherheitskonferenz. Eigentlich hatte er mit der Bemerkung nur die Reform der Nato gemeint. Doch der Befund gilt über einzelne Themen der Tagung hinaus. In München wurde mehr gebetet als bewegt. Die Konferenz, in anderen Jahren sehr wohl ein Klartext-Forum, geriet in wesentlichen Teilen zur Drum-herum-rede-Runde.

Weder im Atom-Streit mit Iran noch bei der neuen Weltbewegung Global Zero gab es mehr als rhetorisches Geruckel zu besichtigen. Im Falle des Iran mag man den Mangel an Ehrlichkeit noch der Teheraner Seite ankreiden; sein Außenminister gab schlicht keine belastbaren Signale von sich, die den Schluss erlauben könnten, Iran meine es ernst mit der Auslagerung der Urananreicherung.

Die Idee der weltweiten nuklearen Totalabrüstung derweil ist im Begriff  zum Opfer westlicher Denkfaulheit zu werden. Global Zero, das zeigte München, droht sich von einer ambitionierten Initiative zum Sekularreligions-Ersatz der Klimadebatte zu entwickeln. Das ist mindestens schade, denn die Bedrohlichkeit von sich verchaotisierenden nuklearen Abschreckungsmechaniken rund im die Welt steht außer Frage. Doch wenn die Reduzierungs-Bekenntnisse so leer bleiben wie bisher, werden sie bestenfalls in einem Nuklear-Kopenhagen enden.

Drei Jahre ist es her, dass Henry Kissinger und andere Elder Statesmen den Anstoß gaben, „das nukleare Feuer zu bändigen, bevor es uns verzehrt.“ Seitdem haben sich zwar immer mehr Staatschefs und Prominente von Hollywood bis Peking zu dem Ziel bekannt – doch mit eben so beeindruckender Beharrlichkeit weigert sich die vielleicht größte Friedensbewegung aller Zeiten, ihre Ambitionen zu rationalisieren und operationalisieren.

Ein Klang von Stings „Russians“-Song lag in der Luft, als in München auch der russische Außenminister Sergej Iwanow (5200 Sprengköpfe) versicherte, er wolle die Overkill-Potenziale vom Planeten zu verbannen. „Glaube ich wirklich an Global Zero?“, kam er schnell zum Kern der Sache. „Nicht in meiner Lebensspanne. Aber ist das ein Grund, uns nicht zu bewegen?“ John Kerry, Senator der anderen Nukleargroßmacht (5400 Sprengköpfe) sah das ebenso, gleichfalls Frank-Walter Steinmeier (0 Sprengköpfe). Bloß, wie lässt sich ein Spiel stoppen, deren Attraktivität andere Player entweder weiterhin anhängen oder die sie gerade erst entdecken?

Iran entzieht sich ganz offenbar der gewünschten Dynamik, sich von westlicher Abrüstung „nach unten mitreißen“ zu lassen. Das Regime schraubt, glaubt man jüngsten Medienberichten, vielmehr an moderner Sprengkopftechnik. Aus nämlichem Grund wird erstens Israel keine der Bomben, die es offiziell nicht besitzt, nicht aufgeben. Zweitens wird das sunnitische Saudi-Arabien (vielleicht auch Kuwait) einem nuklearen Shiiten-Hegemon eigene Raketen entgegensetzen wollen. Der Markt für den entsprechenden Einkaufszug steht offen; Atomphysiker aus Russland, Raketentechnik aus Nord-Korea, Zentrifugen aus Pakistan.

Apropos Pakistan: Der islamisische Staat (60 Sprengköpfe) setzt den regionalen Rüstungswettlauf mit Indien (50 – 60 Sprengköpfe, alle Schätzungen IISS) unbeeindruckt vom globalen Zero Talk fort. Beide Seiten sagen, sie würde ja gerne abrüsten – sofern die andere Seite anfange. Ägypten, um auf den Nahen Osten zurückzukommen, sagt derweil, es würde seine Atomwaffen-Absichten jederzeit begraben. Sobald Israel abrüste.

Global Zero würde also vor allem eins erfordern: Diplomatische Kärrnerarbeit in jedem einzelnen Schauplatz, wo Arsenale entweder wachsen oder zum betonierten regionalstrategischen Kalkül gehören.

Der Schlüssel zum einem glaubwürdigen Anfang liegt in Iran. Rüstet er auf, rüstet die Region auf. Rüstet die Region auf, ist das historisch-politische Momentum, das sich für die Totalabrüstung bietet, verloren. „Die Straße zu Global Zero führt nicht durch ein nukleares Teheran“, formulierte es John Kerry vorsichtig in München. Schon wahr. Aber welche Straße führt zu einem nicht-nuklearen Teheran? Vielleicht, hoffentlich, sind wir nächstes Jahr ein paar Meter weiter.

 

„Wer das Gesetz bricht, muss sich dafür verantworten“

Es wäre die Gelegenheit gewesen, den Atomstreit zu entschärfen. Als der iranische Außenminister Manuschehr Mottaki gestern das Podium der Münchner Sicherheitskonferenz betrat, hoffte der Saal, er würde den neuesten, hoffnungsvollen Vorschlag seines Präsidenten erläutern. Ahmadinedschad hatte angekündigt, Iran könne Uran künftig im Ausland anreichern lassen. Damit würde die Gefahr, dass das Land mit Hilfe eigener Zentrifugenanlagen Atomwaffen entwickelt, deutlich schwinden. Doch statt die Chance zur Annäherung zu nutzen, stieß Mottaki dem Münchner Publikum vor den Kopf.

Im Gespräch mit dem schwedischen Außenminister Carl Bildt behauptete er, nicht Iran habe ein Problem mit der Demokratie, sondern Europa. Wer der mitternächtlichen Diskussion im Königssaal des Hotels Bayerischer Hof lauschte, konnte nicht anders als Mitleid zu entwickeln für all jene Politiker, die seit Jahren mit einer Figur wie Mottaki verhandeln müssen. Die Runde führte emblematisch vor Augen, worin das anhaltende Problem mit der islamischen Republik liegt. Die Beziehungen zwischen dem Westen und Iran bestehen darin, dass der Westen Fragen stellt und Iran sie nicht beantwortet.

Die Hauptfrage, die Mottaki unbeantwortet ließ, stellte Carl Bildt gleich mehrmals. „Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat Iran aufgefordert, die Urananreicherung auszusetzen. Warum kommen Sie dieser Forderung nicht nach?“

Nicht-Antwort Mottaki: „Ich arbeite seit 26 Jahren als Diplomat.“ Mit Carl Bildt, „meinem guten Freund, habe ich immer klar und offen geredet.“ Es müsse gleiches Recht für alle gelten. Iran habe nun einmal, wie alle anderen Nationen auch, das Recht auf friedliche Nutzung der Kernenergie.

Neuer Versuch Carl Bildt: „Sie betreiben ein Anreicherungsprogramm, ohne ein Energieprogramm zu betreiben. Wozu brauchen Sie Uran, wenn Sie gar keinen Kernreaktor besitzen? Das wirft Verdachtsmomente auf.“

Nicht-Antwort Mottaki: „Wir brauchen Kernforschung und Isotope für medizinische Zwecke.“

Gänzlich zur Farce geriet die Veranstaltung, als Carl Bildt und andere Mottaki auf die Menschenrechtsverletzungen in Iran ansprachen. „Wir können diese Frage nicht vermeiden“, sagte Bildt (der, nebenbei bemerkt erneut bewies, dass er eine glänzende Wahl für das Amt des Europäischen Außenministers gewesen wäre. Hart in der Sache, freundlich im Ton, konfrontierte er den Iraner mit den entscheidenden Sorgen des Westens und erntete mehrmals Beifall für seine klare, unirritierte Art.) Der Schwede warnte Mottaki vor den Konsequenzen, die es mit sich brächte, wenn die iranische Justiz in den nächsten Tagen tatsächlich neun Oppositionelle hinrichten würde. Sie waren wegen der Unruhen nach der Präsidentenwahl am 12. Juni zum Tode verurteilt worden.

Darauf entgegnete Mottaki, es habe sich um „freie und faire Wahlen“ gehandelt. Wer Iran wirklich kenne, wisse: „Alles, was die Regierung tut, entspricht dem Willen des Volkes.“ Die iranische Führung, ließ der Außenminister durchblicken, sei demokratisch besser legitimiert als beispielsweise das Europäische Parlament. „In einigen EU-Staaten haben sich nur 25 Prozent der Menschen an dessen Wahl beteiligt. Bei uns waren es 85 Prozent!“

Was die Todesurteile betreffe, so träfen sie keine Oppositionellen, sondern Verbrecher. „Sind Sie in Ihren Ländern“, fragte Mottaki ins Publikum, „etwa tolerant gegenüber Gewalttätern?“ Im Übrigen könnten die Verurteilten Berufung einlegen, wenn sie wollten.

Darauf platzte der Grünen-Chefin Claudia Roth, die ebenfalls an der Konferenz teilnahm, der Kragen. In einer couragierten Intervention fragte sie Mottaki, wie er die willkürlichen Verhaftungen, die Misshandlungen durch Revolutionswächter und die Knebelung von Journalisten rechtfertige, die seit dem 12. Juni in Iran geschähen.

Nicht-Antwort Mottaki: „Wir sollten uns auf gemeinsame Grundlagen verständigen. Vor dem Gesetz sind alle gleich. Wer es bricht, muss sich dafür verantworten.“

Ganz am Ende, schon nach Mitternacht, hatte Mottaki allerdings noch eine Frage an Carl Bildt. Es gebe im Nahen Osten, sagte er unter Anspielung auf Israel, nur ein Land, das Atomwaffen besitze. „Was hat der Westen eigentlich getan, um diese Waffen abzurüsten?“

Und diesmal war es Bildt, der mit einer Nicht-Antwort reagierte: „Unser Ziel bleibt eine Welt ohne Atomwaffen.“

Vielleicht wäre eine andere Entgegnung ehrlicher gewesen. Der Westen betrachtet das israelische Atomarsenal aus drei Gründen nicht als akut bedrohlich. Weil Israel, erstens, nicht, wie Iran, mit der Auslöschung anderer Staaten droht. Weil Israel, zweitens, keine islamistischen Terrorgruppen in anderen Ländern unterstützt. Und weil, drittens, im Gegensatz zu Iran, keine Zweifel daran bestehen, dass seine Regierungsvertreter für die Mehrheit des Volkes sprechen.

Der Westen, ja, verhält sich doppelmoralisch. Aber der gestrige Abend lieferte einen weiteren Beweis dafür, dass er es zu Recht tut.

Foto: Harald Dettenborn / MSC

 

Jetzt bitte nicht kleinlich!

Ein Blairdoyer

Es sieht fast so aus, als könne es Europa gar nicht erwarten, sich der Welt schon wieder als kleinlicher Kontinent darzubieten. Endlich scheint der Lissabon-Reformvertrag Wirklichkeit zu werden, da zuckt die EU davor zurück, den neu entstehenden Posten des permanenten Ratspräsidenten mit eben dem Mann zu besetzen, der dafür das wahrlich passende Gewicht besäße.

Kein anderer Name wird auf Brüssels Abendsalons derzeit mit so viel leidenschaftlicher Verachtung ausgespuckt wie Tony Blair. Er, der Irakkriegstreiber, er, der Euro-Verhinderer, er, der Schengen-Insulaner soll künftig Europas Geschäfte führen und die EU in der Welt repräsentieren?

Die britische Regierung möchte genau das, die Franzosen möchten es ebenfalls, und die Italiener können es sich auch vorstellen. Andere westeuropäischen Staaten werfen Brüssel-affinere Namen ins Rennen. Der Luxemburger Ministerpräsident Jean Claude Juncker gilt als aussichtsreichster Gegenkandidat. Ebenfalls genannt wird sein niederländischer Amtskollege Jan Peter Balkenende. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn gab unlängst, stellvertretend für viele kleine Staaten die Widerstandsparole aus: „Tony Blair hat weder in Fragen der Europäischen Union noch in den großen Fragen der Weltpolitik das erforderliche Format. Er hat öfter gespalten als zusammengeführt.“

Bundeskanzlerin Angela Merkel schweigt zu all dem noch. Aber sie wird bald ihre Herrenwahl treffen müssen. Denn schon zum 1. Januar könnte der Europäische Präsident inthronisiert werden. Die Stimme der Deutschen dürfte den Ausschlag geben. Hoffen wir, dass Merkel Fragen von Format und Weltpolitik weitsichtiger einzuschätzen weiß als der Außenminister eines, zugestanden, landschaftlich reizvollen Großherzogtums.

Der Blairsche Makel, keine Frage, ist ein Krieg, der ohne völkerrechtliches Mandat eröffnet wurde und Tausende Menschen des Leben kostete. Das macht schon Blairs aktuelle Arbeit als UN-Sondervermittler für den Nahen Osten problembeladen. Aber eine Wahrheit über diesen Krieg ist offenbar zu simpel, um mitgedacht zu werden. Nicht die Soldaten der westlichen Koalition haben in den zurückliegenden Albtraumjahren so schrecklich viele Zivilisten getötet, sondern radikalislamische Terroristen.

In Wahrheit geht es den Blair-Gegnern darum, dass Europa von einem Eurokraten vertreten werden soll. Warum sonst hielt niemand dem gerade neu gewählten Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso entgegen, dass er ebenfalls den Irakkrieg unterstützte? Oder dem neuen Präsidenten des Europaparlaments, dem Polen Jerzy Buzek, der ebenfalls dafür war, europäische Soldaten zu schicken?

Apropos, New Europe. Nur Blairs Großbritannien und Irland gewährten nach der Osterweiterung Tschechen, Polen und Balten von Anfang an das Unionsprinzip der „offenen Tür“. Die alten Kerneuropäer hingegen sperrten mit Ausnahmeregeln jahrelang ihre Arbeitsmärkte vor den gefürchteten „Billigkräften“. Wer hat nun mehr für das Zusammenwachsen des wiedervereinten Europas getan?

Sicher, Blair hat während seiner Regierungszeit viele Hoffnungen enttäuscht, weil er im Königreich nicht den Euro einführte. Aber welche fiskalische Solidarität hat Luxemburg der EU damit erwiesen, dass es hartnäckig an seinem Sonderstatus als Steueroase festhielt? Es brauchte erst die Weltwirtschaftskrise, damit Jean Claude Juncker sein Parlament zähneknirschend auf neue, nun ernsthaft gemeinschaftliche Zeiten einstimmte.

Ja, aber, fragen die Briten-Gegner, welche Brüsselbilanz hat Blair denn aufzuweisen? Seine halbjährige Ratspräsidentschaft 2005 blieb als chaotisch in Erinnerung, Blair, heißt es, sei mit wichtigen Dossiers schlicht nicht vertraut gewesen. Doch welche EU-Ratspräsidentschaft wäre, erstens, je wirklich so geordnet verlaufen wie anfangs geplant? Und zweitens werden auch nach dem Lissabon-Vertrag die rotierenden Vorsitze in den expertenbesetzten Ratsarbeitsgruppen weiter laufen.

Dass Blair kein Intimus des Brüsseler Behörden-Apparates ist, wird ihm im Ausland mehr Achtung denn Skepsis eintragen, denn in China, Amerika und Indien achtet man die EU nicht wegen, sondern trotz ihres Institutionendschungels. Aber natürlich, man kann auch einen Herrn Balkenende nach Russland schicken, um Aug’ in Aug’ mit den Kremlherrn über Nachbarschaftspolitik zu sprechen, oder einen Herrn Juncker nach Amerika, um globale Finanzmarktregeln zu einzufordern…

Nein, der neue EU-Präsident darf und soll kein Prozesssteuerer sein. Sein Handwerkszeug muss das Fernglas sein, nicht die Lupe. Dass Tony Blair all das plus die Leidenschaft für Ergebnisse besitzt, hat er nicht nur in Nordirland bewiesen, wo er ehemalige Terroristen zu Gewaltverzicht und Gewaltenteilung bewegte. Er hat auch eine tot geglaubte Labour Party zu neuem Leben erweckt und Großbritannien ein lang vermisstes Wir-Gefühl gestiftet. Sollte im kommenden Frühjahr, wie die Umfragen es vorhersagen, der Tory David Cameron neuer Premierminister werden, würden die Europäer froh sein, Tony Blair in Brüssel zu haben. Denn Cameron will sein Land aus der europäischen Integration heraussteuern. Blair wäre der Kitt, der ein völliges Abdriften der Insel vermeiden könnte.

 Die neue interdependente Welt, die Barack Obama jetzt ausruft, hat Blair übrigens schon 2001 entdeckt. Die Welt brauche eine „neue Dimension internationaler Beziehungen“, „sie muss neu geordnet werden“, forderte er wenige Wochen nach der Zeitenwende des 11. September.

Es sind genau diese Ambitionen, die Europa braucht, um seinen Blick nach einem Vierteljahrhundert Vertragsdebatten von selbst sich ab- und breiteren Horizonten zuzuwenden.