Lesezeichen
 

Das Ende der Ausreden

Wenn der Lissabon-Vertrag in Kraft tritt, womit beschäftigt sich die EU dann eigentlich?`

Dazu heute – ausnahmsweise – ein Audio-Kommentar (zu hören gewesen am vergangenen Samstag im Deutschlandfunk)

 

Koalition der Unwilligen

Ein Pakt zwischen London und Prag soll den Lissabon-Vertrag zu Fall bringen. Ein vordemokratischer Plan

Da dachten Europas Regierungen, mit den Iren seien die letzten Rebellen gegen den Lissabon-Vertrag niedergerungen. Morgen, am 2. Oktober, wird auf der Insel ein zweites Mal über die Europäische Verfassung (die nicht mehr so heißen darf, seit Franzosen und Holländer sie 2005 abgelehnt haben) abgestimmt. Und diesmal sieht es – Wirtschaftskrise sei dank – so aus, als sagten die Inselbewohner Ja. Endlich, nach fast acht Jahren Juristen- und Regierungskonferenzen, schien der Vertrag damit besiegelt. Bis zur vergangenen Woche. Da schließen plötzlich zwei Emporkömmlinge einen Gegen-Pakt.

Der Brite David Cameron, der im Falle von Neuwahlen im Mai der nächste Tory-Ministerpräsident werden könnte, bot dem tschechischen Präsidenten Vaclav Klaus in einem handgeschriebenen Brief eine Koalition der Unwilligen gegen die Euro-Zentralisten an. Wenn er, Klaus, die Unterschrift zum Lissabon-Vertrag in Tschechien noch ein paar Monate hinauszögere, dann werde er, Cameron, das Machwerk dem britischen Volk alsbald zum Fraße, pardon, zur Abstimmung vorlegen. Damit wäre das Reformwerk endgültig erledigt.

Dass Klaus auf genau diese Verschleppungs-Vernichtungs-Verabredung gewartet hat, ist kein Geheimnis. Seit Monaten lässt der glühende Regulierungsfeind mit Hilfe von Parteifreunden eine Klage nach der anderen gegen den Vertrag ins tschechische Verfassungsgericht schleudern, um die Ratifizierungsurkunde nicht unterzeichnen zu müssen. Bisher hofften Brüsseler Beobachter, der selbsternannte „EU-Dissident“ werde nicht die Kaltblütigkeit besitzen, Lissabon tatsächlich zu verhindern. Sie scheinen sich geirrt zu haben.

Es gibt gute Gründe, nicht nur die Art und Weise, wie der Lissabon-Vertrag zustande kam, zu kritisieren. Die neue Bedienungsanleitung für die Europäische Union ist keine Schraubendrehung der Integration. Sie ist ein qualitativer Schritt. Die EU-Staaten erhalten die Macht, per Mehrheitsentscheidung Gesetze für andere EU-Staaten zu erlassen, die in die Grundrechte von Bürgern eingreifen. Ein Zuwachs an Demokratie ist das nicht. Es ist ein Zuwachs an „Staatokratie“ und damit an Effizienz des 27er-Blocks. Das kann man wollen. Aber man muss es wissen. Die meisten Europäer wissen es nicht, denn das Zusammenwachsen Europas gilt so sehr als Naturgesetz, dass keine ernstzunehmende Partei, kein Wahlkampf und auch zu wenige Medien es sich anzutasten trauen. Diese mangelnde Kritik war und ist ein Fehler. Aber der macht die Klaus-Cameron-Intrige nicht richtig.

Es ist kein Zufall, dass jetzt ausgerechnet ein Brite und ein Tscheche wie zwei einsame Kampfpiloten das aufsteigende Raumschiff EU stoppen wollen. Großbritannien regierte noch zu Anfang des letzten Jahrhunderts das größte Imperium, das sich je über die Welt erstreckte. Einer historisch derart kraftvollen Nation erscheint der Gedanke, Souveränität in einen supranationalen Pool von Brüsseler Bürokraten zu kippen, bis heute schlichtweg als unnatürlich. Vaclav Klaus hingegen fühlte sich den Großteil seines Lebens als Opfer eines „evil empire“. Warum, fragte der Tscheche unlängst bei einem Besuch in Brüssel recht unverblümt, solle sich seine gerade erst befreite Nation als nächstes einer EUdSSR unterwerfen?

Mögen die Motive der beiden auch nobel sein, ihre Methode ist es nicht. Sie unterstellen der EU, sich undemokratisch zu gebaren. Aber was tun sie? Sie schwören sich einen Blutsbund wie zwei mittelalterliche Fürsten. Der Prinz von Westminster verbringt dem Herrn des Hradschin geheime Botschaft, die Brieftaube macht unterwegs (welch Zufall!) Pause in einer Zeitungsredaktion, und, hach, die Kunde macht die Runde. Und diese Herren wollen anderen vorwerfen, sie betrieben Hinterzimmerpolitik?

Der Lissabon-Vertrag wird den Europäern übergestülpt? Ja, mag sein. Aber was Klaus & Cameron sich erlauben, entlarvt eine geradezu vordemokratische Abgehobenheit. Cameron erdreistet sich, die Geschicke eines Kontinents zu wenden, ohne überhaupt in ein Kabinett gewählt zu sein. Und Klaus nutzt eben diese Anmaßung in der höchstpersönlichen Absicht, einen Beschluss sowohl der Prager Abgeordneten wie auch des Verfassungsgerichtes zunichte zu machen.

Der Lissabon-Vertrag enthält viel Falsches? Ja, mag auch sein. Aber 26 Regierungen und Parlamente (einschließlich des britischen Unterhauses) haben ihm zugestimmt, und auf dem Respekt vor diesen souveränen Institutionen ruhte bisher keine Kleinigkeit: Die Herrschaft des Rechts.

Wenn die Iren dem Vertrag zustimmen, müsste David Cameron die bereits hinterlegte britische Ratifizierungsurkunde zurückziehen, um eine Volksabstimmung lostreten zu können. Der Schaden, den er damit für Europa anrichtete, wäre größer als der, den ein Lissabon-Vertrag je bringen könnte. Es wäre der Bruch eines Siegels, auf das sich 26 Nationen verlassen haben. Warum sollten, wenn Cameron diese Präzedenz setzt, die europäischen Regierungen einander in Zukunft denn noch vertrauen? Die Europäische Union mag viele Webfehler haben. Die Rechtssicherheit, die bisher zwischen ihren Mitgliedern herrschte, ist keiner davon. Der Pakt des Briten und des Tschechen ist teuflischer als alles, was sie der EU vorwerfen.

 

Ach so, ein Spitzenposten

Gute Nachrichten aus Brüssel: Es gibt ein politisches Postenrennen, das noch langweiliger ist als der Wahlkampf in Deutschland. Es ist der um den Spitzenposten Europas. Der wurde am 16. September zu Straßburg wiederbesetzt. Manche Beobachter mögen von der „Wahl“ José Manuel Barrosos sprechen. Das ist leider übertrieben.

Barroso war der einzige Kandidat für die Präsidentschaft der Europäischen Kommission, den die Regierungen der 27 EU-Staaten aufzubieten hatten. Einstimmig war er während eines EU-Gipfels im Juni als ihr Kandidat nominiert worden. Richtig zufrieden war in den vergangenen fünf Jahren zwar niemand mit dem Portugiesen. Doch um das Amt des Brüsseler Kommissionschefs einen politischen Wettbewerb auszutragen, das war die Angelegenheit trotzdem keinem wert. Das hätte ja auch nach Streit aussehen können. Und damit kann dieses Europa leider ganz schlecht umgehen.

So bestätigte das Europäische Parlament in Straßburg mit 382 zu 219 Stimmen (bei 117 Enthaltungen) den 53jährigen Konservativen. Zähneknirschend sah der Vorsitzende der Europäischen Sozialdemokraten, der Deutsche Martin Schulz, zu, wie dem neuen und alten Kommissionschef die Glückwunschblumensträuße aufs blaue Pult gelegt wurden. „Die Zustimmung meiner Fraktion haben Sie nicht!“, hatte Schulz Barroso bei einer Aussprache am Vortrag noch entgegen gerufen. Die Sozialdemokraten und die Grünen halten Barroso „für den Vertreter einer Ideologie, die erst zu dieser (Wirtschafts-)Krise geführt hat“, so der grüne Fraktionschef Daniel Cohn-Bendit. „Sie wollen jeden Kommunalfriedhof in Europa privatisieren!“, herrschte Schulz Barroso an. Als Kommissionspräsident habe er „Europa Schaden zugefügt.“

Vielleicht wollte Schulz tief im Inneren einen Teil seines Zorns all den sozialdemokratischen Regierungschefs entgegenschleudern, die die Kandidatur Barrosos unterstützt hatten. Ihre Zustimmung zu Barroso hatte schließlich verhindert, dass es Gegenkandidaten gab. Da konnte Schulz im Parlamentsrund und in Pressekonferenzen noch so wüten und toben – letztlich war der fehlende Kampfeswille seine eigenen Parteigenossen in den Staatskanzleien Portugals, Spaniens oder Großbritanniens, verantwortlich dafür, dass die „Wahl“ zum Abnickungsritual verkam.

Nicht einmal Barrosos eigene konservative Parteifamilie war zufrieden mit der Leistung „ihres“ Kommissionschefs. Als viel zu zögerlich galt ihnen der Mann, als Behördenchef ohne Alpha-Elemente, als ideen- und konzeptlos in Zeiten der größten Wirtschaftskrise, die Europa je gesehen hat. „Es gibt, das sage ich ganz offen, keine Euphorie vorhanden. Bei der Finanzmarktregulierung hat die Kommission total versagt und damit die Krise verschärft“, richtete der Chef der CDU-Landesgruppe im EP, Werner Langen, kurz vor Barrosos Bestätigung.

Ein Mann, von dem niemand begeistert ist, wird auf den wichtigsten Posten gehoben, den Europa zu bieten hat. Was läuft da schief?

Etwas Grundlegendes: EU-Angelegenheiten werden von der nationalen Politik nicht als echte Politik betrachtet. Sie spielen im Wahlkampf keine Rolle (warum haben Merkel und Steinmeier eigentlich nicht um verschiedene Kandidaten gerungen?). Sie werden als verwalterisch betrachtet (supranationale Harmonisierung als Ziel, internationale Harmonie als Mittel). Die „Elite“ in Brüssel soll sie regeln (sie weiß schließlich am besten, was sie braucht).

Merke: Ebenso wenig wie sie dem Wähler die Wahl zwischen verschiedenen Integrationspolitiken zutrauen, trauen sich Europas Regierungsparteien die echte Wahl eines Integrationschefs zu.

Das Resultat ist eine allenfalls lauwarme Europadebatte in der Öffentlichkeit und das Gefühl vieler Bürger, Brüssel Angelegenheiten würden über ihre Köpfe hinweg entschieden. Im Fall von Barroso ist dieser Eindruck nicht einmal falsch. Die Scheu vorm politischen Wettkampf ist deshalb schädlich für die EU. Nach Innen, aber auch nach außen. Eine gesunde Demokratie sieht anders aus.

 

Brandstifter und Kremlmänner

Liebe Leser,

angesichts der massiven Empörung über den vorausgegangenen Blogeintrag hier ein paar klärende Worte.

Mit der Verurteilung Russlands ist noch nichts über das Verhalten des georgischen Präsidenten Michael Saakaschwili gesagt. Das Vorgehen seiner Streitkräfte in Tschinwali erscheint in der Tat kriegsrechtswidrig, wenn nicht kriminell. Es ist sogar wahrscheinlich, dass sich sich die georgische Regierung damit als Nato-Kandidat unmöglich gemacht hat. Sowohl die Nato wie auch Menschenrechtsorganisationen werden den Kriegsablauf hoffentlich bald so präzise wie möglich rekonstruieren. Dann sollte auch Herr Saakaschwili zur Verantwortung gezogen werden.

Dies ändert jedoch nichts daran, dass das Verhalten Russlands vor und nach den georgischen Angriffen auf Tschinwali auf eine lange geplante Invasion Georgien hindeutet. Dafür spricht zum einen das Verteilen von russischen Pässen an Südosseten wie auch die ständigen Provokationen durch russische Kampfflugzeuge und „Friedenstruppen“. Und zum

Ja, Saakaschwili ist ein Heißsporn, der sich zu einem Krieg hat provozieren lassen. Aber das Feuer, die er entfacht hat, wirft vor allem ein alarmierendes Licht auf die politische Natur der Kreml-Führung. Das Bild, das sie derzeit abgibt, ist meines Erachtens wesentlich erschreckender als die Fahrlässigkeit des Brandstifters in Tiflis.

Die weitaus größere Bedrohung für den Frieden an den Rändern Europas geht von einem Russland aus, das erklärtermaßen „seine“ Bürger“ im Ausland zurück in seine Grenzen führen will – und zwar durch Ausweitung seiner Grenzen.

Wer diese Gefahr noch immer nicht sieht, oder sie mit Verweisen auf den Irak-Krieg zu relativieren sucht, unterschätzt meines Erachtens eklatant die strategische Bedrohung für die Wahlfreiheit der Nachbarvölker, die von einem nationalistisch wiedererwachten Russland ausgeht.