Ein Blairdoyer
Es sieht fast so aus, als könne es Europa gar nicht erwarten, sich der Welt schon wieder als kleinlicher Kontinent darzubieten. Endlich scheint der Lissabon-Reformvertrag Wirklichkeit zu werden, da zuckt die EU davor zurück, den neu entstehenden Posten des permanenten Ratspräsidenten mit eben dem Mann zu besetzen, der dafür das wahrlich passende Gewicht besäße.
Kein anderer Name wird auf Brüssels Abendsalons derzeit mit so viel leidenschaftlicher Verachtung ausgespuckt wie Tony Blair. Er, der Irakkriegstreiber, er, der Euro-Verhinderer, er, der Schengen-Insulaner soll künftig Europas Geschäfte führen und die EU in der Welt repräsentieren?
Die britische Regierung möchte genau das, die Franzosen möchten es ebenfalls, und die Italiener können es sich auch vorstellen. Andere westeuropäischen Staaten werfen Brüssel-affinere Namen ins Rennen. Der Luxemburger Ministerpräsident Jean Claude Juncker gilt als aussichtsreichster Gegenkandidat. Ebenfalls genannt wird sein niederländischer Amtskollege Jan Peter Balkenende. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn gab unlängst, stellvertretend für viele kleine Staaten die Widerstandsparole aus: „Tony Blair hat weder in Fragen der Europäischen Union noch in den großen Fragen der Weltpolitik das erforderliche Format. Er hat öfter gespalten als zusammengeführt.“
Bundeskanzlerin Angela Merkel schweigt zu all dem noch. Aber sie wird bald ihre Herrenwahl treffen müssen. Denn schon zum 1. Januar könnte der Europäische Präsident inthronisiert werden. Die Stimme der Deutschen dürfte den Ausschlag geben. Hoffen wir, dass Merkel Fragen von Format und Weltpolitik weitsichtiger einzuschätzen weiß als der Außenminister eines, zugestanden, landschaftlich reizvollen Großherzogtums.
Der Blairsche Makel, keine Frage, ist ein Krieg, der ohne völkerrechtliches Mandat eröffnet wurde und Tausende Menschen des Leben kostete. Das macht schon Blairs aktuelle Arbeit als UN-Sondervermittler für den Nahen Osten problembeladen. Aber eine Wahrheit über diesen Krieg ist offenbar zu simpel, um mitgedacht zu werden. Nicht die Soldaten der westlichen Koalition haben in den zurückliegenden Albtraumjahren so schrecklich viele Zivilisten getötet, sondern radikalislamische Terroristen.
In Wahrheit geht es den Blair-Gegnern darum, dass Europa von einem Eurokraten vertreten werden soll. Warum sonst hielt niemand dem gerade neu gewählten Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso entgegen, dass er ebenfalls den Irakkrieg unterstützte? Oder dem neuen Präsidenten des Europaparlaments, dem Polen Jerzy Buzek, der ebenfalls dafür war, europäische Soldaten zu schicken?
Apropos, New Europe. Nur Blairs Großbritannien und Irland gewährten nach der Osterweiterung Tschechen, Polen und Balten von Anfang an das Unionsprinzip der „offenen Tür“. Die alten Kerneuropäer hingegen sperrten mit Ausnahmeregeln jahrelang ihre Arbeitsmärkte vor den gefürchteten „Billigkräften“. Wer hat nun mehr für das Zusammenwachsen des wiedervereinten Europas getan?
Sicher, Blair hat während seiner Regierungszeit viele Hoffnungen enttäuscht, weil er im Königreich nicht den Euro einführte. Aber welche fiskalische Solidarität hat Luxemburg der EU damit erwiesen, dass es hartnäckig an seinem Sonderstatus als Steueroase festhielt? Es brauchte erst die Weltwirtschaftskrise, damit Jean Claude Juncker sein Parlament zähneknirschend auf neue, nun ernsthaft gemeinschaftliche Zeiten einstimmte.
Ja, aber, fragen die Briten-Gegner, welche Brüsselbilanz hat Blair denn aufzuweisen? Seine halbjährige Ratspräsidentschaft 2005 blieb als chaotisch in Erinnerung, Blair, heißt es, sei mit wichtigen Dossiers schlicht nicht vertraut gewesen. Doch welche EU-Ratspräsidentschaft wäre, erstens, je wirklich so geordnet verlaufen wie anfangs geplant? Und zweitens werden auch nach dem Lissabon-Vertrag die rotierenden Vorsitze in den expertenbesetzten Ratsarbeitsgruppen weiter laufen.
Dass Blair kein Intimus des Brüsseler Behörden-Apparates ist, wird ihm im Ausland mehr Achtung denn Skepsis eintragen, denn in China, Amerika und Indien achtet man die EU nicht wegen, sondern trotz ihres Institutionendschungels. Aber natürlich, man kann auch einen Herrn Balkenende nach Russland schicken, um Aug’ in Aug’ mit den Kremlherrn über Nachbarschaftspolitik zu sprechen, oder einen Herrn Juncker nach Amerika, um globale Finanzmarktregeln zu einzufordern…
Nein, der neue EU-Präsident darf und soll kein Prozesssteuerer sein. Sein Handwerkszeug muss das Fernglas sein, nicht die Lupe. Dass Tony Blair all das plus die Leidenschaft für Ergebnisse besitzt, hat er nicht nur in Nordirland bewiesen, wo er ehemalige Terroristen zu Gewaltverzicht und Gewaltenteilung bewegte. Er hat auch eine tot geglaubte Labour Party zu neuem Leben erweckt und Großbritannien ein lang vermisstes Wir-Gefühl gestiftet. Sollte im kommenden Frühjahr, wie die Umfragen es vorhersagen, der Tory David Cameron neuer Premierminister werden, würden die Europäer froh sein, Tony Blair in Brüssel zu haben. Denn Cameron will sein Land aus der europäischen Integration heraussteuern. Blair wäre der Kitt, der ein völliges Abdriften der Insel vermeiden könnte.
Die neue interdependente Welt, die Barack Obama jetzt ausruft, hat Blair übrigens schon 2001 entdeckt. Die Welt brauche eine „neue Dimension internationaler Beziehungen“, „sie muss neu geordnet werden“, forderte er wenige Wochen nach der Zeitenwende des 11. September.
Es sind genau diese Ambitionen, die Europa braucht, um seinen Blick nach einem Vierteljahrhundert Vertragsdebatten von selbst sich ab- und breiteren Horizonten zuzuwenden.