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Wer braucht Belgien?

 

Nach dem Wahlsieg der Separatisten: Könnten Flamen und Wallonen nicht auch getrennt überleben?

Viele Missverständnisse über Belgien beginnen mit der Annahme, es sei ein Land. Das ist eine Beschönigung. Belgien ist, um es unromantisch aber korrekt auszudrücken, die staatgewordene Konkursmasse der europäischen Imperialzeit, entstanden 1831 infolge einer Absprache zwischen den Rivalen Frankreich, Preußen und Großbritannien. Das strategisch begehrte Gebiet an der Nahtstelle des romanischen und germanischen Sprach- und Kulturraumes sollte keiner der eifernden Großmächte allein zufallen. Die Herrscherhäuser beschlossen deshalb, ein Kunst-Königreich als Pufferzone einzurichten.

Das mag gut gemeint gewesen sein; doch schon bald nachdem der sächsische Prinz Leopold I. zum Monarchen bestellt worden war, zeigte sich, dass das Nationalgefühl der Belgier zu schwinden begann. Keine 189 Jahre später, bei den Wahlen am vergangenen Sonntag, wurde die „Neue Flämische Allianz“ (N-VA) stärkste politische Kraft im Brüsseler Parlament. Die N-VA besteht nicht etwa aus fremdenfeindlichen, nationalistischen Hitzköpfen wie der berüchtigte Vlams Belang. Ihr Chef, der beleibt-selbstironische Historiker Bart De Wever, sagt bloß: „Lasst Belgien ruhig verdampfen.“

Je länger man darüber nachdenkt, desto berechtigter erscheint der Gedanke: Ja, warum eigentlich nicht?

Die Tschechoslowakei hat sich 1992 sanft in zwei geteilt. Vermisst sie jemand? Luxemburg ist winzig, Estland, Lettland und Litauen genauso. Geht es ihnen deswegen schlecht? Weshalb, kurzum, sollten sich nicht auch Flamen und Wallonen aus einer überkommenen historischen Zwangsehe befreien?

Weil, sagt der zweite Wahlsieger des vergangenen Sonntags, der Sozialdemokrat Elio Di Rupo, Belgien auf „Solidarität“ gebaut sei. So freilich nennt der Wallone, der nun Ministerpräsident werden könnte, ohne rot zu werden die mehreren Milliarden Euro, die jedes Jahr als Transfer vom reicheren flämischen Norden in den ärmeren französisch-sprachigen Süden fließen. Die Arbeitslosigkeit in der Wallonie liegt mit rund 14 Prozent fast doppelt so hoch wie der belgische Durchschnitt. Anfang der 1960er Jahre wurden in den Zechen zwischen Ardennen und Maas noch einundzwanzig Millionen Tonnen Kohle pro Jahr gefördert. Heute sind es keine zwei Millionen Tonnen mehr, und wer durch die verarmten Arbeiterquartiere von Lüttich oder Charleroi streift, kann kaum glauben, dass er sich in Westeuropa befindet. Und er wird, anders als in Flandern, kaum auf Leute treffen, die neben der französischen noch andere Sprachen pflegen. Statt auf mutigen Strukturwandel und Weltoffenheit zu setzen, so sehen es viele Flamen, klammerten sich Di Rupo und die seinen unbeirrt an die Segnungen der Umverteilungspolitik.

Ein Witz, der dieser Tage in Belgien kursiert, illustriert das sozio-ökonomische Schisma zwischen Nord und Süd recht trefflich. An einer wallonischen Fabrikwand hängt ein Schild mit der Aufschrift On ne parle pas flamand (Wir sprechen kein Flämisch). An einer flämischen Fabrikwand das Schild On ne parle pas – au travail (Wir sprechen nicht – wir arbeiten).

Viele der Flamen, die die N-VA gewählten haben, glaubt der Brüsseler Politikprofessor Dave Sinardet, hätten dies nicht getan, weil sie allen Ernstes eine Teilung des Landes wollten. „Sie ärgern sich bloß über die Blockade der Wallonen, wenn es um Reformen geht. Es reicht ihnen allmählich.“ Tatsächlich fordert auch N-VA-Chef Bart De Wever keine sofortige Scheidung. Er spricht erst einmal von einer „Konföderation“.

Viel weniger Belgien, das weiß er, wäre auch kaum möglich. Denn es gibt da ein drittes Gebilde, das die vagabundierenden Regionen beieinanderhält wie ein Atomkern. Brüssel. Im Fall einer Spaltung Belgiens müsste die Hauptstadt entweder dem Norden oder dem Süden zugeschlagen werden – oder einen autonomen Status erhalten, ähnlich wie Washington D.C. Doch nie und nimmer würden Flamen oder Wallonen auf das pulsierendere Verwaltungszentrum Europas verzichten, das hunderttausenden Pendlern Arbeit beschert. „Brüssel abzulösen wäre so, als würden die Saudi-Arabier sagen, wir planen eine Zukunft ohne Öl“, sagt Kurt de Boeuf, ein langjähriger Mitarbeiter des ehemaligen belgischen Ministerpräsidenten Guy Verhofstad. Der Flame glaubt ohnehin: „Die Wallonie kann sich erholen. Das Investment-Level nähert sich dem von Flandern an. Außerdem, Flandern altert, und in der Wallonie gibt es viele junge Leute. Irgendwann werden wir einen Rententransfer von Süd nach Nord brauchen.“

Bis es soweit ist, glaubt der Politikprofessor Sinardet, wird Belgien überleben. „Um Solidarität zu üben, muss man schließlich kein Sozialist mehr sein. Wir sehen doch gerade, dass Lastenteilung ein sehr europäischer Gedanke wird.“ Das freilich ist die hoffnungsvolle Sicht der Dinge. In vielen Staatskanzleien, gerade im Norden Europas, sieht man das ganz anders. Eine Transferunion nach belgischem Modell, das wäre der reinste europäische Albtraum – zur Nachahmung keinesfalls zu empfehlen.