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Wie unsere Kinder uns erziehen

 

Der Blogbetreiber gibt in aller Bescheidenheit zur Kenntnis, dass ihm morgen in München ein Anerkennunsgpreis im Rahmen des Medienpreises der ELKB (Evangelisch-Lutherische Kirche Bayern) verliehen wird.
Der preisgekrönte Text ist im Magazin der ZEIT (Nr.40 vom 27.09.2007, S.27) erschienen und wird im folgenden dokumentiert, obwohl er nicht recht zu den üblicher Weise hier verhandelten Themen passt.

Wie unsere Kinder uns erziehen

Von Jörg Lau

Vor Kurzem fand ich zu Hause auf meinem Schreibtisch ein allerliebstes rosa Herz, verziert mit bunten Blumen. Auf der Rückseite stand geschrieben: Lieber Papa. Wen du mir nicht 1 Kegs apgipst. Dan Ferschteke ich. Deine Unter Hosen. Deine Anna. Anna hat natürlich ihren Keks bekommen, obwohl ich mir geschworen hatte, die leckeren Cookies für mich zu behalten. Wie hat sie bloß von meinem Süßigkeitendepot Wind bekommen? Woher weiß sie das mit den Unterhosen?

Und was mache ich jetzt?

Erziehungsberechtigte sind auch Gegenstand von Erziehung, und zwar von Anfang an. Im Rückblick auf ein Jahrzehnt als Vater scheint mir, dass die pädagogischen Bemühungen meiner Kinder mindestens so viel bewirkt haben wie meine eigenen. Womöglich sogar mehr.

Kinder verfügen ziemlich früh über ein ganzes Arsenal von Kniffen, mit denen sie uns steuern. Es wird ständig ausgebaut und verfeinert. Es reicht vom ersten Abwenden und Brei-Ausspucken über die knallharte Drohung (Ich mal dir keine Bilder mehr!) bis zur schamlosen Schmeichelei (Du bist der beste Papa der Welt!). Auch moralische Appelle sind ein Standardmittel: Es ist ungerecht, dass du immer mit den anderen zuerst liest. Und sogar korrumpierende Angebote erweisen sich oft als wirkungsvoll: Ich mache vier Wochen lang Küchendienst!

Bestimmt. Richtig kniffelig wird es, wenn rationale Argumente hinzukommen und man dauernd bei Selbstwidersprüchen ertappt wird: Warum dürfen wir eigentlich nicht Fernsehen, wenn du selbst jeden Abend glotzt? Und natürlich lernen Kinder auch das lebenswichtige Ausspielen verschiedener Autoritäten gegeneinander: Aber Mama (Oma, die Lehrerin, mein Trainer, Lisas Vater) hat gesagt…

Meine erste Umerziehung datiert schon aus den frühesten Tagen meines Vaterseins. Ein Geständnis vorweg: Ich bin einer dieser Väter, die gleich nach der Geburt ihres ersten Kindes mehr gearbeitet haben als zuvor. Es ist mir peinlich. Aber leugnen lässt es sich nicht, dass ich damals so viele Aufträge angenommen habe wie noch nie zuvor. (Ich war freier Autor.) Dieses Verhalten gilt heute als Inbegriff fehlgeleiteter Männlichkeit, die zu überwinden ist.

Ich finde das etwas ungnädig. Ich war in Panik. Sich in die Arbeit zu stürzen war ein Versuch, mit dem größten Kontrollverlust meines Lebens klarzukommen. In die Vorfreude auf unser erstes Kind hatte sich eine Heidenangst eingeschlichen, dass mein Leben, wie ich es kannte, von einem auf den anderen Tag vorbei sein würde. Heute weiß ich, das war berechtigt. Genau so kam es nämlich.

Frauen wird solche Angst (zu Recht) zugestanden. Bei Männern führen die gleichen Symptome zu moralisierender Kritik. Männer sollen sich schämen für ihren wiegenflüchtigen Arbeitseifer, lautet die Botschaft.

Aber Beschämung hat noch aus keinem Mann einen besseren Vater gemacht.

Es gibt eine wunderbare Szene im Film Lost in Translation, in der Scarlett Johannson und Bill Murray auf dem Bett liegen und sich unterhalten. Sie in einer Ehe-Sinnkrise stellt ihm die bange Frage, ob seine Ehe mit den Jahren einfacher geworden sei. Nein ja Der furchtbarste Tag ist der Tag, an dem das erste Kind geboren wird.

Nichts ist wie früher. Dein bisheriges Leben ist vorbei.

Unwiederbringlich. Aber dann lernen sie Laufen und Sprechen, und du willst bei ihnen sein. Und mit der Zeit erweisen sie sich als die erfreulichsten Menschen, die dir je im Leben begegnen werden.

Nachdem ich mir durch manisches Artikelschreiben bewiesen hatte, dass mein neues Leben mich nicht völlig überwältigen würde, ließ die Panik nach, und ich konnte mich besser meiner Tochter zuwenden. Sie war in der Tat das Erfreulichste, was mir je zugestoßen war. Die Furcht, der Situation nicht gewachsen zu sein, ließ nach.

Mehr noch: Mit meinem alten Leben waren auch meine Arbeitsstörungen verschwunden. Meine Tochter hatte mich durch ihre schlichte, fordernde Präsenz von meinen Schreibhemmungen befreit: Du schreibst diesen Artikel entweder jetzt, während ich schlafe oder du wirst ihn nie schreiben, denn wenn ich wach bin, brauche ich dich ganz. Ein Buch, zwei weitere Töchter und tiefe, tiefe Müdigkeit waren in den kommenden Jahren die Folge dieser neuen produktiven Balance. (Meine Frau hat währenddessen drei Bücher geschrieben nur dass hier kein falscher Eindruck entsteht.) Der befürchtete Kontrollverlust hatte sich als Freiheitsgewinn entpuppt.

Es war nicht das letzte Mal, dass eine meiner Töchter mich mit Erfolg umsteuerte. Der jüngste Fall ist die Sache mit den Zwerghasen: Jahrelang habe ich Haustierwünsche erfolgreich abgewehrt mit dem schlagenden Argument meiner Tierhaarallergie. Trotzdem stehen wir jetzt unabweisbar vor der Anschaffung dreier supersüßer Kaninchen. Wie konnte das passieren? Das Tierhaarargument wurde mir mit dem Hinweis auf unseren Garten aus der Hand geschlagen, in dem man einen Stall einrichten könne. Doch so richtig gepackt haben sie mich erst mit ihrer demonstrativen neuen Verantwortlichkeit. Den Hasen standen nämlich mehr noch als meine Allergie meine Zweifel entgegen, ob die Mädchen (9, 8 und 6 Jahre alt) schon in der Lage sein würden, Verantwortung für lebendige Wesen zu übernehmen. (Denn ich werde den Stall ganz bestimmt nicht sauber machen.) Sie haben es gemerkt, und schließlich wurde ich mit ostentativem Verantwortungsbewusstsein schachmatt gesetzt. Sie wollen die Tiere jetzt nicht mehr nur, weil sie so süß sind, sondern weil sie sich artgerecht um sie kümmern möchten. (Papa, wusstest du schon, dass Kaninchen gar nicht gerne auf den Arm genommen werden? Und dass sie ganz viel Rückzugsraum brauchen?) Und was um Himmels willen könnte ich wohl dagegen haben, dass meine Kinder durch die Tierchen lernen, Verantwortung zu übernehmen?

Wir notorisch verunsicherten Eltern bekommen oft nicht mit, dass in Wahrheit wir selbst erzogen werden, während wir in einem der Tausenden Erziehungsberater nach Tipps und Tricks suchen, um unsere Kinder das machen zu lassen, was wir gerne hätten. Die Ratgeberliteratur schildert Erziehungsprobleme naturgemäß aus der Elternperspektive aus der Perspektive der Machbarkeit guter Erziehung von oben nach unten (was auch immer gerade als solche gilt). Sie macht es damit oft nur noch schlimmer, wenn es mal nicht so gut läuft.

Es gibt kaum ein wohlmeinendes Elternbuch, das einen nicht mit dem Gefühl von Inkompetenz und Reue zurücklässt. Der dänische Pädagoge Jesper Juul eine rühmliche Ausnahme, weil er Eltern und Kinder für grundsätzlich kompetent hält beschreibt das diffuse Schuldgefühl moderner Eltern so: Es ist weder das Gefühl, etwas Bestimmtes falsch gemacht zu haben, noch ist es ein grundsätzliches Schuldbewusstsein.

Es hat keinen konkreten Anlass, sondern entspringt einer allgemeinen Vorstellung, dass man insgesamt anders sein sollte, als man ist. Man hätte sein Leben besser im Griff und mehr Zeit haben sollen, als die Kinder klein waren, man hätte versuchen sollen, die Scheidung zu vermeiden, man hätte weniger arbeiten sollen, man hätte, hätte, hätte Dieses diffuse Schuldgefühl ist ganz oberflächlich. Es macht einen weder besser noch klüger, und es bringt auch den Kindern nichts.

Eine Möglichkeit, mit diesem diffusen Schuldgefühl umzugehen, ist die Flucht nach vorn in den neuen Mut zur Erziehung. Es ist Mode geworden, gegen Kuschelpädagogik zu wettern und sich für Grenzen, Konsequenzen, Benimm und Disziplin stark zu machen. Die allwissende, nie zu verwirrende Super-Nanny und der prinzipienstarke Internatsrektor vom Typ eines Dr. Bueb sind die dazu passenden pädagogischen Machtfantasien. Aber am Ende kommt man mit der bei Fantasie-Autoritäten geliehenen Klarheit nicht weit. Die Kinder merken es, wenn man ihnen etwas vorspielt. Sie unterscheiden instinktiv zwischen dem, was wir vertreten, weil es angeblich vernünftig ist oder weil man es halt so macht, und dem, was wir wirklich von ihnen wollen.

An meinen Dr.-Bueb-Tagen erreiche ich regelmäßig den Punkt, an dem mir meine eigene Erzieherei selbst auf den Geist geht. Ich höre mir zu, wie ich solche Sätze sage: Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst auf deine Zahnspange achten, setz dich bitte ordentlich hin, schmatzt du in der Schule auch so?, bitte trink die Milch aus (sie ist gut für deine Knochen), warum spielst du nicht mit der schönen Ritterburg (die wir dir zu Weihnachten geschenkt haben)?, wenn du keinen Mittagsschlaf machst, können wir nachher nicht ins Kino, iss wenigstens das Fleisch

Iss wenigstens das Fleisch? Das bist doch nicht du, der da redet, denke ich in helleren Momenten. Ich habe dieses Zeug irgendwo aufgeschnappt und gebe es unter Druck gedankenlos wie eine Maschine weiter. Ich höre mich solche Sätze ausstoßen und kann mich selbst nicht mehr leiden. Kein Wunder, dass solches Erziehen meist ohne Ergebnisse bleibt. Das ist wahrscheinlich sogar ein gutes Zeichen: Die Kinder merken auch, dass du es nicht bist, der da spricht, und dass du auch nicht wirklich zu ihnen sprichst. Es spricht der Erziehungsberechtigte, der sich seiner Erziehungskompetenz versichern will. Also machen sie die Schotten dicht, eigentlich eine gesunde Reaktion. Mehr noch: eine Erziehungskonkurrenz, die mich wiederum zu anderem Verhalten zwingt. Und mir Erkenntnisgewinn verschafft.

Kompensatorisches Pseudoerziehen ist eine besondere Versuchung für berufstätige Eltern, die ihre Abwesenheit ausgleichen wollen, deretwegen sie Schuldgefühle hegen. Wir glauben, wir müssten besonders deutlich Grenzen setzen, wenn wir anwesend sind. Auf der anderen Seite lockt aus dem gleichen Grund die Versuchung allzu großer Nachgiebigkeit: Auf eine authentische Weise Nein zu sagen ist besonders schwer für berufstätige Eltern, die in dem Gefühl leben, durch ihre Entscheidung für den Beruf schon zu viel Nein in die Familie zu bringen. Man neigt dazu, dies durch ein allzu schnelles Ja zu überkompensieren. Es ist schwer, sich abzugrenzen, weil man glaubt, das sowieso schon zu viel zu tun. Wer sich selbst nicht abgrenzen kann, kann auch seinen Kindern nicht glaubwürdig Grenzen setzen. Er springt allzu leicht aus dem falschen Ja ins falsche Nein und zurück.

Kinder fordern uns heraus, unsere Grenzen zu markieren und zu sagen, wo wir stehen. Man kann auch sagen: Kinder erziehen uns dazu, ehrlich und authentisch zu reagieren, statt uns hinter Pseudoautoritäten, Sachzwängen und Spruchweisheiten zu verstecken. Genauso wichtig wie das Ja zum Kind ist darum so paradox es klingen mag das selbstbewusste und liebevolle Nein.

Eine der größten Herausforderungen mit Kindern liegt darin: Man muss lernen, sich dazu zu bekennen, dass man dieses will und jenes nicht.

Als meine Frau nach einer längeren Pause wieder voll in den Beruf einstieg und manchmal abends oder an Wochenenden vermisst wurde, kamen oft jammernd vorgebrachte Fragen: Warum muss Mama arbeiten? Ich habe das erst mit allen möglichen Hilfskonstruktionen zu erklären versucht: Weil wir das Haus bezahlen müssen, weil der Chef sonst sauer ist, weil es nun mal ihr Beruf ist (so wie du in den Kindergarten musst).

Es hat alles nichts geholfen. Irgendwann nahm ich mir ein Herz und sagte: Weil sie wirklich gut in ihrem Beruf ist und es ihr Freude macht. Die Trauer über die Abwesenheit der Mutter war damit zwar nicht weg, aber die Sache war verständlich geworden. Zu wissen, dass Mama weg ist, weil sie etwas tut, das ihr wichtig ist, hat meine Tochter beruhigt.

Es ist richtig, dass die Eltern Grenzen setzen müssen. Aber genauso wichtig ist es, dass sie von Anfang an und dann immer mehr auch die Grenzen der Kinder akzeptieren. Das geht auf Kosten der Harmonie, die wir alle in der Familie suchen. Aber in der Familie, ich lerne das immer noch, geht es viel weniger um Harmonie, als einem vorgemacht wird. Viel wichtiger ist eine grundsätzliche Lebensfreude, ohne die es weder Bindung noch die Fähigkeit zur Freiheit geben kann. Und die schließt das Neinsagen und das Aushalten des Neins der anderen ein.

Eltern müssen das ihren Kindern gegenüber lernen, auch auf Kosten der guten Stimmung. Nur dann werden die Kinder auch lernen, mit gutem Gewissen Nein zu sagen und eigenständige Menschen werden. Nur wenn wir erleben, schreibt Jesper Juul, dass wir auch Nein sagen dürfen und dass unser Nein respektiert wird, können wir aus ganzem Herzen Ja zueinander sagen.

Wie schwer es ist, das Nein der Kinder zu akzeptieren, habe ich erst kürzlich erlebt, als meine Töchter mir vorführen wollten, dass sie allein Pfannkuchen backen können. Ich durfte zwar zugucken, aber nichts sagen. (Gar nichts, verstehst du. Keine Tipps. Dann kriegst du auch einen ab.) Es war ziemlich schwer, die Klappe zu halten, als sie etwa zehn Eier mit einer Prise Mehl und Bergen von Zucker verrührten.

Ich habe mich nur mit Not beherrscht. Die Pfannkuchen trieften vor Fett und waren extrem süß.

Aber irgendwie haben sie doch besonders köstlich geschmeckt.