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Zukunftsneid. Warum glaubt niemand mehr an den Fortschritt?

 

 Mein Beitrag aus dem aktuellen Heft des Merkur:

Wenn ich die Selbstauskunft der britischen Zeitschrift The Economist lese, packt mich jedes Mal der Neid: »Diese Zeitung«, steht da, wird seit dem Jahr 1843 veröffentlicht, »um teilzunehmen an dem harten Wettstreit zwischen der Intelligenz, die vorwärts drängt, und einer unwerten, ängstlichen Ignoranz, die unseren Fortschritt verhindert«. Das altliberale Bekenntnis des Economist mit seiner in 165 Jahren ungebrochen kämpferischen Fortschrittsidee, die sich in großer Selbstverständlichkeit gegen »ängstliche Ignoranz« stellt, macht mich eifersüchtig.

Warum es solche progressiv-liberale Selbstgewissheit hierzulande – jedenfalls als bedeutsame politische Strömung – nie gegeben hat und vielleicht auch niemals geben kann, muss an dieser Stelle nicht erklärt werden. Nur so viel: Im selben Jahr 1843, in dem der schottische Hutmacher und spätere Parlamentsabgeordnete James Wilson den Economist gründete, um Freihandel und gesellschaftlichen Liberalismus zu propagieren, reiste Heinrich Heine durchs winterliche Deutschland, dessen Rückständigkeit er im darauffolgenden Jahr sein sarkastisches Denkmal setzte. Der erste Economist und Deutschland. Ein Wintermärchen sind Gründungsdokumente zweier Gestalten des Liberalismus: offener Kampf für den Fortschritt dort, elegisch-bittere Klage über seine Verhinderung hier.

Wer in den ängstlichen und am Ende zunehmend verbitterten siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts aufgewachsen ist, für den wird das Wort »Fortschritt« wohl für immer einen verbotenen und leicht frivolen Klang behalten. Merkwürdig ist das allerdings: Denn man legte damals ja eigentlich großen Wert darauf, als »progressiv« zu gelten. Doch zu den »Progressiven« zu gehören bedeutete, auf den Fortschritt in Wissenschaft und Technik herabzuschauen und sich über den »Fortschrittsglauben« der Zeit zu mokieren.

Das war nicht immer so gewesen. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten glaubte man eine Weile lang an die Unteilbarkeit der Moderne als ästhetisches, gesellschaftliches und technisch-industrielles Projekt. Irgendwo in der Mitte der siebziger Jahre war dieser Glaube abhanden gekommen. Das war mehr als eine Zeitgeistwendung. Denn auf eine unheimliche Weise haben wir diese siebziger Jahre nie mehr verlassen. Die verschiedenen Stränge der Moderne konnten, einmal aufgedröselt, nicht wieder zusammengeführt werden. Und was als Fortschrittsskepsis einer kleinen Avantgarde begann, ist zum gesellschaftlichen Mainstream geworden. Es geht dabei nicht nur um deutsche Mentalitätsgeschichte, auch wenn sich in dem Land, das mit der Geschichtsphilosophie auch den Kulturpessimismus hervorgebracht hat, die Dinge zweifellos besonders verdichten.

Denn in den siebziger Jahren fand überall in der westlichen Welt parallel eine folgenreiche Entwicklung statt – die Entkopplung des Wohlstands vom Wohlbefinden. Der amerikanische Publizist Gregg Easterbrook nennt dies »das Fortschrittsparadox«: Die Menschen fühlen sich schlechter, obwohl sie ein besseres Leben führen.(1) Mit dem Wohlstand nimmt der Pessimismus zu.

Wir haben von allem immer mehr in unserem Leben, mit einer Ausnahme: Glück. In den westlichen Industrieländern hat sich der materielle Lebensstandard in den letzten fünf Jahrzehnten, gemessen an den inflationsbereinigten Einkommen, verdoppelt bis verdreifacht. Und nicht nur die gesteigerte Kaufkraft spricht für eine allgemeine Verbesserung der Lebensbedingungen. Auch der Gesundheitszustand, die Lebenserwartung, die Bildungschancen, die soziale und physische Mobilität sowie die Sicherheit des durchschnittlichen Menschen der westlichen Welt sind auf einem historischen Höchststand. Zwischen den Geschlechtern geht es gerechter zu als je zuvor. Die überwältigende Mehrheit in den westlichen Ländern kann bis ins hohe Alter ein selbstbestimmtes Leben führen. Und so weiter, und so fort. Doch warum übersetzt sich all dies nicht in das Gefühl des Fortschritts? Im Gegenteil: Das Goldene Zeitalter, von dem frühere Generationen träumten, ist hier und jetzt. Doch in den letzten fünf Jahrzehnten hat der Anteil der Bevölkerung, der sich als glücklich beschreibt, nicht weiter zugenommen. Im Gegenzug werden immer mehr Depressionserkrankungen und stressinduzierte Krankheiten verzeichnet.

Easterbrook führt eine Reihe brauchbarer Theorien an, um das Fortschrittsparadox aufzulösen. Da wäre zunächst die »Revolution der befriedigten Erwartungen«: Die meisten Menschen beurteilen ihre Lage nicht nach dem Stand der Dinge, sondern auf der Grundlage ihrer Hoffnungen oder Ängste. Das mag erklären, warum bei vielen Meinungsumfragen heute die Mehrheit der Aussage zustimmt, die Eltern hätten es »zu ihrer Zeit besser gehabt« und die eigenen Kinder würden wohl in einer noch schlechteren Gesellschaft aufwachsen müssen. Die Nachkriegsgesellschaften des Westens waren guten Mutes, dass die Kinder es einmal besser haben würden. Und sie hatten recht: Die Kinder haben es tatsächlich besser. Nicht zuletzt dies freilich macht sie verzagt. Sie haben im Vergleich zu ihren Eltern (nicht zuletzt durch deren Vorarbeit) so vieles erreicht, dass es ihnen schwerfällt, zu erwarten, die Zukunft könnte abermals mehr bringen.

Dies führt zur zweiten Erklärung des Fortschrittsparadoxes: »Zusammenbruchsangst«. Die Kinder der Aufsteiger, die es unbedingt einmal besser haben sollten, haben gelernt, sich vor dem Mehr zu fürchten, das ihren Eltern ungebrochen erstrebenswert schien. Der Verdacht, dass sich ihr hoher Lebensstandard und die große persönliche Freiheit auf Dauer nicht aufrechterhalten lassen, sitzt tief in den Köpfen und Herzen der Bewohner des Westens. Wir fürchten globale Erwärmung, Terrorismus, entfesselte Gentechnik, neue Seuchen, den Aufstieg Chinas und die Dekadenz der eigenen Gesellschaft. »Nachhaltigkeit« ist das dunkle Wort, in dem sich die Ängste vor dem Kollaps verdichten. Es ist auch das Codewort für die Gegenstrategie. Ein beflügelndes Wort der Hoffnung und des Aufbruchs ist es nicht.

Ein Hauptfaktor des Unbehagens im fortschrittlichen Alltag ist die Selbstwertobsession. Eine Kultur wie unsere, deren Programm es ist, den Selbstwert der Menschen zu heben, macht sie gerade dadurch anfälliger für Depressionen. Selbsthilfeliteratur und eine ganze Industrie von Therapeuten predigen das vollkommen unrealistische Ideal eines Lebens in permanenter ausgeglichener Zustimmung zu sich selbst. Die Menschen werden angehalten, alles und jedes in Bezug zu ihrem Selbstwert zu setzen. Eine Gehaltserhöhung, ein Misserfolg, ein Liebesunglück, eine Ablehnung, ja auch das neue Auto – alles muss im Hinblick auf die Selbstachtung beobachtet, bewertet, eingeordnet werden: Was macht das mit mir, was sagt das über mich? Und wer dabei nicht dauernd zufrieden strahlt, hat nicht einfach einen schlechten Tag erwischt. Er hat ein Selbstwertproblem und wird ermuntert, sich zu fragen, ob etwas grundlegend mit seinem Leben falsch läuft.

Es gibt noch eine Reihe weiterer Vermutungen, wie sich die schlechte Laune im Schlaraffenland erklären lässt. Erstens scheint es eine evolutionäre Selektion zugunsten des Negativismus zu geben. Die Genügsamen und Selbstzufriedenen bringen es meist nicht weit. Das Glück ist mit den Unzufriedenen, die allerdings mit Gereiztheit und Gestresstheit für ihre Erfolge bezahlen müssen. Aus dem gleichen Grund scheint uns eine alte Konditionierung zu treiben, den Überfluss zu leugnen, in dem wir im Vergleich zu unseren Vorfahren leben. Statt uns an ihnen zu messen, vergleichen wir uns mit den Nachbarn, die an uns vorbeizuziehen drohen. Vergleichsstress ist einer der wichtigsten Gründe für die Entkopplung von Wohlstand und Wohlergehen. Bei steigenden Einkommen tritt bei jeder Anschaffung tendenziell der Vergleichsgesichtspunkt in den Vordergrund. Die Leute fragen sich immer weniger, ob ihr Haus ihren Bedürfnissen entspricht. Es kommt jetzt mehr darauf an, ob es schöner als das der Nachbarn ist. Dieses Spiel hat notwendigerweise viele Verlierer. Der erste BMW in einer Straße zieht noch alle Augen auf sich. Der zehnte fühlt sich für seinen Besitzer schon so alltäglich an wie ein VW Käfer in den sechziger Jahren.

Vergleichsstress ist auch einer der Hauptgründe für die ostdeutsche Misere. Er vergällt selbst noch denen die eigenen Erfolge, die nicht als Arbeitslose durch das Selbstachtungsraster gefallen sind. Die Lebensumstände der meisten Menschen in Ostdeutschland haben sich nach der Wiedervereinigung objektiv verbessert. Aber weil man sich nun nicht mehr mit Polen und Russen, sondern mit den Westdeutschen vergleicht, hält sich der Gewinn an subjektivem Wohlbefinden in engen Grenzen. Mancher sieht sich dann gar, obwohl er besser dasteht als zuvor, als Verlierer.

Aber auch ganz ohne frustrierende Vergleiche mit dem Nachbarn stellt sich bei steigendem Wohlstand recht bald ein Grenznutzen ein. Der Aufstieg von der Armut in die Mittelschicht erhöht das Glücksgefühl erheblich. Ist das Niveau einer hinreichend abgesicherten Mittelschichtsexistenz einmal erreicht, bringen weitere Zuwächse nur unmerklich mehr Lebenszufriedenheit. Fazit: Geldmangel verursacht Unglück, immer mehr Geld bedeutet aber, wer hätte es gedacht, nicht automatisch immer mehr Glück. (Allerdings: Wenn man schon unglücklich sein muss, dann wohl doch lieber mit Geld – im Taxi weint es sich einfach besser als in einer vollen U-Bahn.)

Es gibt einen eigenen Forschungszweig in den Humanwissenschaften, der sich am Fortschrittsparadox abarbeitet: Die Glücksforschung wendet viel Scharfsinn auf, um zu erklären, warum viele Menschen nicht so glücklich sind, wie sie womöglich sein könnten, und viele andere geradezu unverschämt grundlos glücklich. Doch nicht genug damit, sie will uns auch Tipps geben, wie wir glücklichere Menschen werden können, möglichst alle auf einem gleichmäßig hohen Niveau. Ihre Rezepte sind von einnehmender Schlichtheit: mehr Zeit mit der Familie oder Freunden verbringen, weniger Fernsehen, Dankbarkeit für die Segnungen des Alltagslebens entwickeln, (sich selbst) vergeben lernen, Freunden etwas Gutes tun. Verheiratete, heißt es, seien durchschnittlich glücklicher als Singles, was nicht zuletzt ihrem aktiveren Sexleben zuzuschreiben sei. Religiosität ist eine ziemlich wirkungsvolle Zutat fürs Wohlbefinden. Kinder tragen nach Erkenntnissen der Glücksforschung leider nur in den ersten zwei Jahren (und dann erst wieder nach Verlassen des elterlichen Hauses) wesentlich zum Glück bei.

Alles hochinteressant! Aber man fragt sich doch, was man mit diesen Erkenntnissen praktisch anfangen soll. Man sollte ja wohl nicht heiraten oder einen Glauben annehmen, nur um sich endlich besser zu fühlen. Und wer nimmt die Kinder in den sechzehn langen Jahren, in denen sie nur magere Glückseffekte produzieren?

Die Glücksforschung träumt davon, die Lücke zwischen Wohlstand und Wohlgefühl zu schließen. Vielleicht sollte man sich lieber fragen, ob das Glück wirklich immer eine so gute Sache ist. Die Datenbestände der Glücksforscher bergen da so manchen Grund zur Skepsis. Denn nirgendwo auf der Welt – dies hat der World Values Survey ergeben, der weltweit die Lebenszufriedenheit durch umfangreiche Befragungen erfasst – haben sich so viele Menschen für »glücklich« erklärt wie in Nigeria.

Wer jemals im angeblich »glücklichsten Land der Welt« war, wird Schwierigkeiten haben, an diese Pointe zu glauben. Teile der Hauptstadt Lagos sind in den Händen mordgieriger Banden. Die Regierung zählt zu den korruptesten weltweit. Nichts funktioniert. Der Staat kann niemanden vor Gewalt, Armut und Umweltzerstörung schützen. Die Stammesgesellschaft bleibt darum der Referenzpunkt im Leben der meisten. Sechs Prozent der Bevölkerung sind an Aids erkrankt, jedes zehnte Baby stirbt vor seinem ersten Geburtstag. Die Einheimischen kommentieren denn auch den nigerianischen Sieg bei der Glücksweltmeisterschaft voller Sarkasmus. Reuben Abati, Kommentator der führenden nigerianischen Tageszeitung Guardian, schreibt: »Leichen liegen bei uns an den Straßenrändern und verwesen vor sich hin, während nebenan ein Imbissstand seine Geschäfte macht. Wir müssen wirklich ein sehr glückliches Land sein, dass uns dieser Geruch nicht zur Verzweiflung bringt.« Abati sieht in seinen unerschütterlich glücklichen Landsleuten das eigentliche Problem. Das Geheimnis ihres Glücks sei womöglich »die Gelassenheit, die sich einstellt, wenn ein Menschenleben nichts mehr zählt«.

Ein Land voller subjektiv glücklicher Menschen muss keineswegs eine lebenswerte Umgebung sein, wie die enorm hohen Auswanderungszahlen Nigerias zeigen. Kann es nicht sogar sein, dass eine hedonistische Kultur wie die nigerianische, die jedermann ermutigt, sich vom allgemeinen Zerfall die Laune nicht vermiesen zu lassen, gerade durch ihre Orientierung auf das Instantglück allgemeines Unglück produziert? Anders gesagt: Kann es sein, dass Glück manchmal schlecht für uns ist?

Ein gutes Leben ohne Glück ist schwer vorstellbar. Aber offenbar sind subjektives Wohlbefinden und gutes Leben auch nicht einfach ein und dieselbe Sache – ja sie können sogar bittere Feinde sein. Umgekehrt muss man vielleicht auch die schlechte Laune als Ressource wiederentdecken. Ein italienischer Freund, der lange Jahre in Deutschland verbracht hatte, hat es einmal so gesagt: »Wenn ihr Deutschen nicht so abgrundtiefe Pessimisten wärt, hättet ihr nicht so viele gute Ingenieure. Was glaubt ihr, warum die italienische Technik so schlecht funktioniert? Weil wir in unserem Optimismus annehmen, dass die Sache schon irgendwie hinhauen wird.«

Glückliche Leute sind nicht nur durch einen Hang zu Schlamperei und Selbstzufriedenheit gefährdet, sie neigen auch zu Vorurteilen, wie man aus Untersuchungen amerikanischer Psychologen weiß: Je zufriedener die Probanden mit ihrem Leben waren, umso höher ihre Neigung, einen Verdächtigen eines Verbrechens für schuldig zu halten, bloß weil er einer Minderheit zugehört. Glück kann denkfaul und bigott machen. Ambrose Bierce, der große Spötter, definierte »Glück« als »jene angenehme Empfindung, die sich beim Betrachten des Elendes anderer einstellt«. Nun, so zynisch muss man nicht sein. Aber wenn heute die »glückliche Gesellschaft« zum Ziel der Politik erklärt wird, gibt es allemal Grund zur Skepsis. Staatliche Herstellung von Glück – wer so etwas fordert wie der britische Ökonom Richard Layard, überfordert die Politik und unterfordert die Menschen.(2)

Leider ist irgendwie der Sinn dafür verlorengegangen, welch ein Privileg es ist, in einer Gesellschaft zu leben, die das Unglücklichsein nicht stigmatisiert wie die totalitären Regime des letzten Jahrhunderts, in denen alle (Volks-)Genossen als Zeichen ihres Einverstandenseins stets gute Miene zu machen hatten. Statt über die Entkopplung von Wohlstand und Wohlgefühl zu klagen, sollte man vielmehr eine Gesellschaft preisen, in der so viele Menschen wie nie zuvor ihr – im historischen Vergleich recht behagliches – Unglück pflegen können.

Die ersehnte »glückliche Gesellschaft« muss keineswegs eine gute Gesellschaft sein. Eine freie Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie ihren Mitgliedern die Verfolgung des Glücks zwar ermöglicht, sie aber nicht dazu nötigt. Das Glück ist eine zu flüchtige und scheue Sache, als dass es zum Staatsziel taugen würde. Wer kennt nicht das merkwürdige Gefühl beim Blick aus dem Zugfenster auf eine verschlafene Ortschaft in der Heide, wo sich die Fachwerkhäuser gemütlich um den Kirchturm schmiegen: »Ach ja, hier wohnt das Glück!« Und wer kennt nicht die Panik, die einen überfällt, wenn der Zug dann auf einmal ebendort zum Halten kommt?

Die Fixierung auf das Glück und die Diskreditierung des Neuen scheinen zusammenzuhängen. Das Neue und der Fortschritt werden bei uns vor allem unter dem Begriff des Risikos beobachtet und debattiert. Hier gibt es allerdings bemerkenswerte neue Wendungen. Man kann sie etwa an der jüngsten Neuauflage der Kernenergiedebatte erkennen. Die Verwendung des Risikobegriffs ist im Wandel. Ulrich Beck, der Theoretiker der »Risikogesellschaft«, fasste in der Zeit vom 3. Juli 2008 die Lage folgendermaßen zusammen: »Beginnt hier eine Realsatire, ergötzlich und schreckensvoll? Ihr neospenglerisches Motiv lautet: Klimakatastrophe und Ölkrise killen Atomkraftrisiko. Die ums Grüne bemühte CDU-Kanzlerin und Physikerin Angela Merkel hat plötzlich etwas überraschend Missionarisches. Sie will die Paranoia der Deutschen im Umgang mit der Tschernobyl-Energie überwinden und Atomkraft, umgetauft in >Öko-Energie<, auf dem sich im Zeitalter des Klimawandels und der Ölnot radikal verändernden Macht-Schachbrett der Energiepolitik neu ins Spiel bringen . . . Die unkalkulierbaren Gefahren, die vom Klimawandel ausgehen, sollen mit den unkalkulierbaren Gefahren, die mit neuen Kernkraftwerken verbunden sind, >bekämpft< werden. Bei vielen Entscheidungen über Großrisiken geht es nicht um die Wahl zwischen sicheren und riskanten Alternativen, sondern um die Wahl zwischen verschieden riskanten Alternativen, oft um die Wahl zwischen verschiedenen Alternativen, deren Risiken qualitativ unterschiedliche Dimensionen betreffen und kaum vergleichbar sind.«

Beck gesteht zu, dass heutige globale Risiken sich der Kalkulation nach wissenschaftlichen Methoden entziehen und darum »der kulturelle Glaube an die Wirklichkeit oder Unwirklichkeit des jeweiligen Weltrisikos« entscheidend sei. Wir haben es mit einem »Zusammenstoß der Risikokulturen« zu tun: »So wird die Tschernobyl-Erfahrung in Deutschland anders bewertet als in Frankreich oder Großbritannien, in Spanien oder Italien.« Das ist noch zu kurz gegriffen: Es sind nämlich längst nicht mehr nur unsere unmittelbaren Nachbarn, deren Blick auf Technologie und Wissenschaft den unsrigen beeinflusst. Die Globalisierung in ihrer heutigen Phase – gekennzeichnet durch den Aufstieg der nichtwestlichen Mächte der vormals »Dritten Welt« wie China, Indien und Brasilien – relativiert nämlich nicht nur die Macht des Westens, sondern auch seine Risikokultur. Eine kulturelle Verschiebung hin zu mehr Risikotoleranz ist schon auf dem Weg.

Eine erstaunliche Wende. Wer in den letzten Jahrzehnten »Risiko« sagte, wollte warnen und zur Beschränkung aufrufen. Nun geht es um das Gegenteil: Die Bereitschaft zum Risiko wird manchmal geradezu zur Bürgerpflicht erhoben. Wie vorher die Warner, sprechen heute die Propagandisten des neuen Wagemuts die Sprache der moralischen Erziehung. Das Wort »Risiko« ist ein zentraler Begriff der gesellschaftlichen Selbstverständigung hierzulande. Der Risikobegriff markiert eine Schnittstelle zwischen Technik, Politik und Gesellschaft. An seinem veränderten Gebrauch lässt sich der Beginn eines Mentalitätswandels ablesen.

Während der siebziger und achtziger Jahre wurde in den westlichen Ländern über Ressourcenknappheit, Großunfälle und Umweltschäden gestritten. In Deutschland erwuchs aus der erregten Debatte eine Theorie, die das Gefahrenpotential der modernen Gesellschaft als ihr definierendes Moment zu begreifen suchte. Als im Jahr 1986 die Welt auf Tschernobyl und die Challenger-Katastrophe starrte, brachte der damals wenig bekannte Soziologe Ulrich Beck das Gefühl allgemeiner Bedrohung durch technischen Fortschritt auf den Begriff: »Risikogesellschaft«.(3) Beck beschrieb Risiken als »Ausdruck hochentwickelter Produktivkräfte«. Den Ursprung der Gefahren ortete er nicht mehr im Äußeren, im Nichtmenschlichen, »sondern in der historisch gewonnenen Fähigkeit der Menschen« zur Veränderung und Vernichtung der Reproduktionsbedingungen allen Lebens auf der Erde. Das hieß aber: »Die Quelle der Gefahren ist nicht Ignoranz, sondern Wissen, nicht fehlende, sondern perfektionierte Naturbeherrschung.«

Für Beck hatte die entfesselte Technik in der Risikogesellschaft »die Zerstörungskraft des Krieges absorbiert, generalisiert und normalisiert«. Das war eine sehr finstere Sicht der Dinge. Beck machte unübersehbar (ohne dies zu konzedieren) Anleihen bei Heideggers Technikphilosophie, die keinen Fortschritt, sondern nur die »Vernutzung« der Welt durch das technische »Gestell« zu sehen vermochte. Die Technik führt auch in Becks Sicht einen steten Krieg gegen Gesellschaft und Natur. Heute erscheint diese Bildsprache fast als frivol. Doch angesichts der vielen Toten in Tschernobyl fand man sie seinerzeit nicht übertrieben.

In dieser Risikogesellschaft hatten Wissenschaft und Technik den letzten Rest Unschuld eingebüßt, Beck konstatierte das »Versagen der wissenschaftlich-technischen Rationalität«. Seine Anklage kam in Form eines Double-bind. Wer den technischen Fortschritt propagierte, sollte fortan die Beweislast der Unschädlichkeit tragen. Das Problem war: Wie sollte der Beweis möglich sein, wenn die wissenschaftlichen Verfahren samt ihres »Wahrheitsmonopols« selbst den Schaden verursacht hatten?

Wer der Wissenschaft misstraute, durfte sich in der Risikogesellschaft a priori im Recht fühlen – Beck gab der politischen Angstkultur der Alternativbewegung die sozialwissenschaftlichen Weihen. Mit Blick auf aktuelle Bedrohungen reaktivierte er in der Sprache der Soziologie auch ein Element des Antirationalismus aus der deutschen Ideengeschichte. Wo das Wissen selbst gefährlich geworden war, musste Furcht zur Tugend werden. Hatte schon Martin Heidegger in Sein und Zeit behauptet, dass »In-der-Welt-Sein wesenhaft Sorge ist«, so entdeckte sein Schüler Günther Anders, Vordenker der Anti-Atom-Bewegung, im Schatten der Bombe die Angst als Organ der Wahrheit: »Wir haben unsere Angst zu erweitern«, schrieb er 1959 in seinen Thesen zum Atomzeitalter, »habe keine Angst vor der Angst, habe Mut zur Angst. Auch den Mut, Angst zu machen. Ängstige deinen Nachbarn wie dich selbst.«

Dieses Gebot wurde in Deutschland bereitwillig befolgt. Weite Bereiche des gesellschaftlichen Lebens – von der Großtechnologie zur Babymilch, vom Sexualverhalten zu den elektromagnetischen Feldern der Handys – wurden unter dem Risikoaspekt wahrgenommen. Heute aber wird die Risikogesellschaft sich selbst verdächtig. Die Katalysatoren dieses Prozesses sind die wirtschaftliche Krise, der Klimawandel und die absehbare Energieknappheit. Mancher nutzt die Gelegenheit, sich alter Feinde zu entledigen: Wir können uns Bedenkenträgerei nicht mehr leisten! Weg mit den lästigen Ökohysterikern! Dass wir auch ihrer Beharrlichkeit den hohen Standard der Reaktorsicherheit oder die dioxinlose Müllverbrennung verdanken, passt nicht mehr ins Bild. Beck diagnostiziert eine »Regression in die konventionelle Fortschrittspolitik der fünfziger und sechziger Jahre«. Er hat nicht völlig unrecht damit.

Aber es ist doch nicht die ganze Geschichte. Denn es gibt auch gute Gründe zur Kritik der Risikoaversion. Mag sein, dass interessierte Lobbyisten für riskante Technologien eine Chance für angstgetriebene Bedenkenlosigkeit wittern. Doch auch in wissenschaftlichen Debatten wird um einen pragmatischeren Risikobegriff gestritten. Ulrich Beck selber fordert heute einen »neuen Pakt der Unsicherheit«, in dem Konsense über akzeptable Risiken gefunden werden sollen. Und die Ökonomen erholen sich vom großen Rückschlag für die Risikotoleranz der Wirtschaftsbürger – dem Crash der New Economy. Sie versuchen, »dem Risikobegriff etwas Konstruktives abzugewinnen«. Die Autoren eines neueren Werks mit dem Titel Risikoökonomie, Birger Priddat und Felix Lowinski, wollen »dem herrschenden Risiko-Trübsinn« eine »größere Fehlerfreundlichkeit« entgegensetzen.

Der Bielefelder Soziologe Klaus Peter Japp gibt zu bedenken, dass ein »Risikoausschaltungsprogramm alle Sorten von kontraproduktiven Effekten generieren« würde. Eine »generalisierte Innovationsblockade wäre äußerst riskant. Denn woher soll die Gesellschaft dann noch die für die Bekämpfung von Krankheiten, Hunger, Armut und Katastrophen nötigen Innovationen beziehen, die sie vorher nicht kennen kann?« Die »relative Verantwortungslosigkeit« der Wissenschaft sei »die Grundlage ihres Erfolgs, und niemand sollte sich anheischig machen, verantwortungsethisch begründete Kriterien zu kennen, mit denen in der Gegenwart bereits zwischen >schlechten Risiken< und >guten Innovationen< unterschieden werden könnte«.(4)

Einen Schritt weiter noch geht der britische Soziologe Frank Furedi von der University of Kent. In einem furiosen Pamphlet rechnet er mit der »Kultur der Angst« ab. Die Unterscheidung von »guten« und »schlechten« Risiken sei durch die negative Besetzung des Begriffs nahezu unmöglich geworden. Ein Risiko einzugehen gelte heute schon per se als unverantwortlich.

Wenn aber das Risiko als etwas angesehen werde, »das aus eigenem Recht existiert und nur in minimaler Weise von menschlicher Intervention abhängt, dann ist es am vernünftigsten, es von vornherein zu vermeiden. Wie einst die griechischen Götter, so existieren heute die Risiken in einer eigenen Welt.«(5)

Diese Risikomythologie möchte Furedi entzaubern. Vergeblich sei aber der Versuch, unaufgeklärten Laienmeinungen über vermeintliche Risiken die rationale Expertensicht über wirkliche Risiken gegenüberzustellen. Dieses Spiel ist sehr oft, allerdings ohne ermutigende Ergebnisse, gespielt worden. Immer wieder hat man die Irrationalität der Gefahrenwahrnehmung des gewöhnlichen Verbrauchers herausgestellt, der sich partout vor den falschen Dingen fürchtet, ohne damit ein Umdenken zu bewirken. Der Rationalismus der Experten mit ihren Wahrscheinlichkeitstabellen geht ebenso an der Sache vorbei wie die Nobilitierung der Angst zum höheren Erkenntnisorgan durch die Alarmisten. Wer die Bereitschaft zur Risikoabwägung befördern will, muss erst verstehen, warum bestimmte Gefahren akzeptabel erscheinen und andere als zu riskant abgelehnt werden. Furedi fragt: »Wie sucht sich eine Gesellschaft ihre Probleme aus?«

Diese Frage treibt auch den Soziologen Ortwin Renn von der Akademie für Technikfolgenabschätzung in Stuttgart um. Renn hat in dem Papier Risiken und ihre Rolle in der Gesellschaft für die EU-Kommission eine ganze Mythologie der Risikowahrnehmung ausgearbeitet.(6) Wie sehr bestimmte Risiken die Menschen beunruhigen, hängt nicht nur von objektivierbaren Größen wie Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenspotential ab, sondern auch von anderen Charakteristiken: Ungewissheit, Ubiquität, Dauerhaftigkeit, Spätfolgen, Verletzung des Rechtsempfindens und Mobilisierungspotential. Mit diesen Kriterien fasst Renn Risikotypen zusammen. Er hat ihnen Namen aus der griechischen Sagenwelt gegeben: Damokles, Zyklop, Pythia, Pandora, Cassandra, Medusa.

Das Risiko vom Typ Damoklesschwert zeichnet sich durch geringe Eintrittswahrscheinlichkeit und wenig Ungewissheit bei großem Schadenspotential aus. Kernkraftwerke sind das beste Beispiel. Bei allem Wissen über die Funktion der Sicherheitssysteme und die Wahrscheinlichkeiten: Allein das Ausmaß der möglichen Zerstörung erregt Furcht und Schrecken. Die Cassandrakategorie, benannt nach der berühmten Schwarzseherin, kombiniert ein großes Schadenspotential mit hoher Eintrittsaussicht. Weil zwischen Ursache und Wirkung jedoch ein langer Zeitraum liegt, sind viele Menschen persönlich nicht beunruhigt und bleiben schwer mobilisierbar. Beispiel: die globale Klimaveränderung. Im Gegenzug dazu bietet der Typ Medusa – nach der Gorgonenkönigin, deren Anblick alle Menschen zu Stein erstarren ließ – eher geringe Eintrittswahrscheinlichkeit und niedriges Schadenspotential, allerdings bei Allgegenwart der Gefahrenquelle. Elektromagnetische Felder sind ein Beispiel: Experten versichern mehrheitlich deren Unschädlichkeit, die Menschen sind wegen der Kombination aus Unsichtbarkeit und Ubiquität trotzdem hochbesorgt und mobilisiert.

Diese Typologie lässt sich noch erweitern. Ulrich Beck spricht gar vom »Kampf der Risikoreligionen«, um zu erklären, warum in bestimmten Kulturen gefürchtet wird, was man anderswo achselzuckend hinnimmt: Risiken sind Glaubensfragen. Wenn die Politik Risiken erfolgreich managen will, darf sie diese Dimension nicht ignorieren. Ortwin Renn beschreibt das Dilemma der Politik so: Folgt sie beim Risikomanagement den Prioritäten von Laien, nimmt sie womöglich mehr Leiden in Kauf als nötig. Folgt sie bloß dem Rat der Experten, riskiert sie den Verlust öffentlicher Unterstützung. Renns Untersuchung der Einstellungen zur grünen Gentechnik ergibt: Die Ablehnung hat wenig mit dem Glauben zu tun, man werde nach dem Genuss einer modifizierten Tomate tot umfallen. Das Nein der Gegner speist sich aus der Furcht vor unabsehbaren Späteffekten, Zweifeln am gesellschaftlichen Nutzen, Angst vor der Irreversibilität der Veränderungen, Aversion gegen menschliche Hybris und dem allgemeinen Verdacht gegen Konzerninteressen. Aufklärungskampagnen über die Unschädlichkeit solcher Produkte laufen also ins Leere, wenn den Institutionen, die ihre Entwicklung vorantreiben, nicht vertraut wird. Wo Vertrauen fehlt, so Renn, fordert der Verbraucher »Nullrisiko«.

Schwer zu glauben, dass dieses Vertrauen wachsen wird, wenn hierzulande genmanipulierter Mais auf unmarkierten Feldern ausprobiert wird. Damit will die Industrie ihre radikalen Gegner daran hindern, die Versuchsfelder zu verwüsten. Sie hat wohl keine andere Wahl. Dennoch haben wir es hier mit zwei Typen von Risikoscheu zu tun, die sich wechselseitig steigern: Der Gentechlobby ist das offene Experiment vor aller Augen zu riskant, die Gegner erklären schon jeden kontrollierten Versuch zum Beginn der Katastrophe. Die Feldverwüster und die heimlichtuerische Industrie stützen sich gegenseitig in diesem Bund der Risikoverweigerer. Was tun? Mit drohendem Unterton mehr Risikofreude einzufordern ist so sinnlos wie ein Befehl zum Lachen. Eine neue »Kultur der Unsicherheit« (Beck) braucht nicht bedenkenlose, sondern »risikomündige« (Renn) Akteure.

Risikomündigkeit – die Fähigkeit und Bereitschaft, Gefahren abzuwägen und aus gescheiterten Kalkülen zu lernen, kann sich ohne transparente Verfahren und weitgehende Partizipation nicht bilden. Das Unbehagen am Risiko lässt sich durch Standortappelle nicht abschaffen, höchstens steigern. Die Sehnsucht nach dem Nullrisiko verstellt Optionen, von denen wir gar nicht wissen können, ob wir sie nicht doch noch brauchen. Es geht beim Abschied von der Kultur der Angst aber auch um unser Selbstbild. Um die Frage, wie wir gerne leben und wie wir uns sehen wollen. Der Bewohner der Risikogesellschaft wurde stetig ermutigt, angesichts des drohenden Verhängnisses präventiv geduckt umherzulaufen – gewissermaßen wie ein Opfer auf Abruf. Wer aber möchte sich auf Dauer schon gerne so sehen?

Nirgendwo habe ich die Last der deutschen Risikoreligion so bedrückend empfunden wie bei einem Besuch im westchinesischen Chongqing, einer der großen Boomregionen des Landes. Die »regierungsunmittelbare Stadt« Chongqing rühmt sich, mit ihren über dreißig Millionen Einwohnern auf einem Verwaltungsgebiet so groß wie Österreich die größte Metropole der Welt zu sein. Auf dem reißenden Jangtse fahren abends grell erleuchtete Vergnügungsdampfer auf und ab. Die Stadt mit ihrer immer noch wachsenden, an Manhattan erinnernden Skyline ist sich dann selbst das Spektakel. Eines der markantesten Hochhäuser ist eine ziemlich dreiste Kopie des Chrysler Building. Es wirkt merkwürdig beruhigend für das irritierte westliche Auge, das sonst nicht viele Orientierungspunkte in diesem unglaublichen Moloch findet. An dem kopierten Chrysler Building findet man Halt. Man beruhigt sich: So lange sie uns noch nachahmen, wird der Aufstieg der Nichtwestler schon nicht so schlimm werden. Aber in Wahrheit ist diese Stadt, in der kaum ein Gebäude noch aus der Zeit vor 1980 stammt, keine Kopie westlicher Vorbilder mehr. Sie sieht mit ihren stets regennassen Leuchtreklamen in den Hochhausschluchten so aus, als käme sie aus der Zukunft. Sie erinnert unheimlich an das imaginäre Los Angeles des Jahres 2019 aus Ridley Scotts Science-fiction-Film Blade Runner.

Schwitzend und ein warmes Dai-Lang-Shian-Bier in der Hand, mit Blick auf die vergnügungslustigen Einheimischen, während das Ausflugsschiff mit voller Kraft gegen die schlammigen Fluten des Yangtse arbeitet, erwischt man sich bei schwarzen Gedanken: »Wartet nur! Erst wenn der letzte Baum gefällt, der letzte Fluss vergiftet und der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man sauren Regen nicht trinken kann.« Aber das könnte auch einfach ein Anfall von Zukunftsneid sein: Eifersucht auf den unbändigen Optimismus der Chinesen und ihre beneidenswerte Gewissheit, dass das Neue für sie auch das Gute sein wird.

Anmerkungen