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„Wertegebundene Außenpolitik ist abwegig“ (Helmut Schmidt)

Zunächst mal: Ich vermisse das hier.

Das Bloggen war jahrelang ein gutes Mittel, den Phantomschmerz des Tageszeitungsredakteurs zu betäuben, den es in ein Wochenmedium verschlagen hatte. Zunächst musste ich es fast ein bisschen undercover betreiben, weil es in unserem Hause als Ablenkung von der eigentlichen Arbeit galt (was ja auch sein kann). Inzwischen hat sich die Haltung des Hauses zum Digitalen deutlich verändert. Chefredakteure twittern und erfreuen sich ihrer Follower. ZEIT Online ist ein respektierter eigener Zweig der Publikation, Print-Redakteure machen sogar Hospitanzen bei den Onlinern und kommen beeindruckt von deren Professionalität und Arbeitsrythmus zurück, dessen Schlagzahl für Angehörige des Dead-Tree-Zweigs unseres Hauses furchterregend ist.

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Der Bundestag muss Waffengeschäfte kontrollieren können

Mein Kommentar aus der ZEIT von dieser Woche:

Es ist ein bisschen peinlich für ein Parlament, wenn die Regierung den Abgeordneten großmütig neue Kontrollmöglichkeiten anbietet. Da liegt der Gedanke nahe, dass die Volksvertreter selbst nicht genügend Druck machen. Sie sollten doch eigentlich die Regierung treiben – statt auf Entgegenkommen zu warten.

Außenminister Guido Westerwelle stellt nun in Aussicht, dass der Bundestag künftig früher über deutsche Rüstungsexporte informiert werden könne. Man könne sich auch ein parlamentarisches Gremium vorstellen, in dem – geheim – über Waffenlieferungen geredet wird.

Verkehrte Welt: Normalerweise trotzen Parlamente ihren Regierungen Mitsprache ab – besonders in der heiklen Frage, welche Waffen wohin geliefert werden dürfen. Der Bundestag begnügt sich mit einer eher kommentierenden als kontrollierenden Rolle. Solange nur an Freunde und Partner geliefert wurde, reichte das. Doch seit Jahren nehmen Deutschlands Rüstungsexporte zu, auch in Spannungsgebiete. Die Bundesrepublik ist nach Berechnungen des schwedischen Instituts SIPRI drittgrößter Waffenhändler weltweit. Die Regierung behauptet zwar, noch »restriktiv« zu handeln, in Wahrheit hat sie einen klammheimlichen Strategiewechsel vollzogen: Stabilität schaffen mit immer mehr Waffen.

Der Bundestag muss die Debatte darüber endlich an sich ziehen. Wie wichtig seine Kontrollfunktion bei Rüstungsgeschäften sein kann, zeigt gerade das Debakel um die Drohne Euro Hawk. Ohne den Bundestag wäre es längst noch nicht ans Licht gekommen. Der SPD-Verteidigungspolitiker Hans-Peter Bartels hat den Minister Thomas de Maizière mit Nachfragen so sehr unter Druck gesetzt, dass der das Scheitern eingestehen und das Projekt beenden musste.

Wenn Deutschland Waffen kauft, kann der Bundestag sehr wohl mitreden – über das Budgetrecht. Wenn Deutschland jedoch Waffen verkauft, wird das Parlament erst nachträglich informiert. Die Entscheidungen fällt der geheime Bundessicherheitsrat, ein Kabinettsausschuss.

Wie für den Import, gilt auch für den Waffenexport: Geheimniskrämerei schützt Geschäftsinteressen, nicht die nationale Sicherheit, auch wenn die Regierung das behauptet. Sie kann die nationale Sicherheit sogar gefährden. Die Öffentlichkeit erfährt immer erst nachher von Panzergeschäften mit zweifelhaften Partnern wie Saudi-Arabien, Katar oder jüngst Indonesien – allesamt Regierungen, die deutsche Waffen dereinst gegen ihre Opposition einsetzen könnten.

Der Bundestag sollte das Angebot der Regierung nutzen, auch wenn es nicht ohne Hintergedanken ist: Westerwelles Initiative dient im Kern dem Zweck, die Geheimhaltung zu retten. Die Abgeordneten sollen nur früher darüber eingeweiht werden, was weiterhin anderswo entschieden wird. Und dies fände auch wieder in einem Geheimgremium statt, ähnlich wie bei den Nachrichtendiensten.

Das wäre immerhin ein Anfang. Aber das Parlament muss sich eigentlich für drei grundlegende Änderungen einsetzen. Erstens: Für die Genehmigung von Waffenexporten sollte künftig das Außenministerium zuständig sein, statt wie bisher das Wirtschaftsministerium. Schließlich geht es hier um strategische Fragen deutscher Außenpolitik, nicht um Wirtschaftsförderung. Statistiken über die Ausfuhren müssen – zweitens – monatlich oder vierteljährlich veröffentlicht werden, statt wie bisher jährlich. Das Argument, dies sei nicht machbar, zieht nicht: Viele Nato-Partner halten es schon so. Und schließlich drittens: Das künftige Rüstungskontrollgremium braucht ein Vetorecht bei Voranfragen aus heiklen Ländern – wenn es sich bei den Interessenten nicht um Nato-Partner oder sonstige Alliierte handelt.

Die Regierung hält dagegen, zu viel Transparenz schade der nationalen Sicherheit. Zu wenig aber auch: Die Debatte über Panzerlieferungen findet ja bereits statt – wenn wieder mal ein Deal enthüllt wurde. Das umgibt alle Waffenexporte mit einer Aura von Immoralität.

Und das ist auch wieder falsch: Rüstungsexporte sind eine Form der außenpolitischen Intervention. Dabei kann man ebenso viel richtig und falsch machen wie bei jeder anderen Einmischung. Ist es richtig, dass Deutschland keine Waffen an die moderate syrische Opposition gibt – wohl aber Panzer an die Saudis, die Syriens radikale Islamisten beliefern?

Die Debatte darüber gehört ins Parlament. Sie wird umso besser, je genauer die Volksvertreter über die Kriterien der Regierung im Bilde sind. Und wer weiß, am Ende werden dadurch auch deren Entscheidungen besser.

 

Wandel braucht Stabilität. Ein Zwischenruf zur Russland-Debatte

Ilja Kalinin ist Doktorand der Politischen Wissenschaft an der Heidelberger Universität. Er schickt mir diesen Beitrag zu unserer Debatte über Werte und Interessen in der der deutschen Außenpolitik.

Sehr geehrter Herr Lau,

Sie haben bereits darauf hingewiesen, dass Interessen nicht von Werten zu trennen sind, da sich unsere Interessen dann am effektivsten durchsetzen lassen, wenn man sich mit seinen internationalen Partnern auf ein gemeinsames Wertefundament stützen kann. Ich möchte dieses Argument um eine Perspektive ergänzen, nach der Interessen immer auch „Ideen von Interessen“ sind. Was eine Gesellschaft als ihre Interessen definiert, hängt stark von der Kultur dieser Gesellschaft ab. Interessen sind somit oft keine objektiven Gegebenheiten, sondern können sich je nach Gesellschaft unterscheiden. Die exportorientierte deutsche Volkswirtschaft, mit der wir Jahrzehnte des Wohlstands, aber auch Friedens in Freiheit assoziieren, basiert unter vielem anderen auf Rechtsstaatlichkeit, Effizienz und Innovationsfähigkeit, die wiederum nicht von sich aus existieren, sondern in unterschiedlichsten Bereichen des Lebens unserer Gesellschaft hervorgebracht und gestützt werden müssen: Bildung, Religion, Politik, Wirtschaft und weitere. Diese Werte stabilisieren und konstituieren unseren liberalen Rechtsstaat. Sie geben aber auch die Optionen für die Außenpolitik vor, aus denen wir überhaupt erst wählen können. Die Wertegebundenheit unserer wirtschaftlichen Interessen beschränkt sich nicht auf den Nationalstaat, sondern sensibilisiert die an der Förderung des Außenhandels interessierte deutsche Außenpolitik auch für die Notwendigkeit der Verbreitung dieser Werte im Ausland. Das Phänomen der gesellschaftlichen „Entbettung der Wirtschaft“ gaukelt die scheinbare kulturelle Voraussetzungslosigkeit des wirtschaftlichen Erfolgs nur vor.

Der heutzutage in Deutschland vorhandene weitgehende Konsens über zentrale Werte darf jedoch nicht die parteipolitischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit um die „richtige“ Auslegung der Verfassungsnormen und der identitätsstiftenden Werte vergessen machen (Frauenrechte, Hundertfünfundsiebziger usw.). Diese legen ein Zeugnis davon ab, dass die auf dem Papier geschriebenen Normen und Werte immer erst mit Inhalten gefüllt werden müssen und einer permanenten gesellschaftlichen Aushandlung unterworfen sind. So sprach Gustav Heinemann in seiner Rede zum 25-jährigen Jubiläum des Grundgesetzes: „Diese Ordnung ist kein Heilsplan, sondern wie alles irdische Tun nur unvollkommenes Menschenwerk. Ihre Würdigung kann auch nicht verschweigen, dass außerdem zwischen Verfassungsaussage und Verfassungswirklichkeit ein Graben klafft. […] Die Einheit von Demokratie, Rechtsstaat und Sozialstaat bedarf ständiger Bemühung.“ Wenn aber selbst die im Grundgesetz niedergeschriebenen Normen und Werte eine permanente Interpretation erfordern, wie kann man dann auf internationaler Ebene von der Universalität von Werten ausgehen?

Ein Bewusstmachen der Historizität und Prozeduralität von Werten bedeutet kein kulturrelativistisches Plädoyer für eine rein pragmatische, allein an der Mehrung des wirtschaftlichen Nutzens orientierte Außenpolitik. Beide Ebenen, Interessen und Werte, sind zwei Seiten einer Medaille. Sie bedingen einander und sind stetem Wandel unterworfen. Es wäre vor diesem Hintergrund problematisch, wenn man den äußerlichen Ist-Zustand von autoritär regierten Staaten pauschal als einen von den dortigen Eliten gewünschten Endzustand stilisiert. Man läuft dadurch Gefahr, alle, auch die sinnvollen Schritte zur Stabilisierung des politischen Systems als negativ zu verurteilen. Dabei braucht jede Entwicklung zunächst einmal Stabilität. Nur auf einem stabilen Fundament kann ein stabiles Haus errichtet werden.

Neben der notwendigen Verhältnisbestimmung von Werten und Interessen gibt es zwei weitere Begriffe, deren außenpolitisch relevantes Verhältnis zueinander näher bestimmt werden sollte: Kultur und Politik. Es gibt dazu ein weises Zitat von Daniel Patrick Moynihan: „Die zentrale konservative Wahrheit lautet, dass Kultur, nicht die Politik, den Erfolg einer Gesellschaft bestimmt. Die zentrale liberale Wahrheit lautet, dass Politik eine Kultur verändern und vor sich selbst retten kann.“ Diese beiden Wahrheiten treffen wir einerseits im Böckenförde-Diktum, wonach der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, und andererseits in Kants „Volk von Teufeln“, dessen Bürger mit Hilfe der Politik in Frieden koexistieren können. Wenn man der Politik dieses domestizierende Potential zutraut, dann mag man auch zu der von Ihnen getroffenen Aussage gelangen, wonach Eliten in manchen Staaten ihre Gesellschaften schlichtweg nicht öffnen wollen. Diese Sichtweise legt also die Verantwortung allein auf die politischen Eliten und blendet aus, worauf diese Eliten ihre Macht stützen (es ist nicht überall Gewalt, Manipulation von Wahlen geht auch nicht immer und allein von den Eliten aus). Eine Außenpolitik des Drucks auf die autoritären politischen Eliten bis hin zu einer Außenpolitik des Regimewechsels ist die Folge dieser liberalen Wahrheit. Oft ist die Nachhaltigkeit einer solchen Politik zweifelhaft, da der Einfluss der Kultur auf die Politik unterschätzt wird. Wäre die politische Kultur des postkommunistischen Russlands demokratiestützend gewesen (was vor dem Hintergrund der Jahrzehnte währenden kommunistischen Diktatur ein Wunschdenken war), hätte Russland die wirtschaftliche Krise der 1990er Jahre möglicherweise ohne Hinwendung zum gewohnt autoritären Paradigma überstanden. Nach einer kurzen Phase demokratischer Euphorie Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre ging die russische Gesellschaft, einer totalen Ideologie überdrüssig, zum ebenso totalen Pragmatismus über. Eine wertebewusste westliche Außenpolitik muss diesen Wandel akzeptieren. Diese gewisse Akzeptanz der russischen Verhältnisse bedeutet aber weder Resignation noch ein Sich-abfinden. Akzeptanz hat lediglich die Funktion, die russische Wirklichkeit präzise und unvoreingenommen wahrnehmen zu können, um die dadurch gewonnenen Erkenntnisse zu Ausgangspunkten für Veränderungsprozesse werden zu lassen.

Den Demokratisierungsprozess einer Gesellschaft kann man mit der Vorbereitung von Leichtathleten zum Hochspringen vergleichen. Es bringt den Sportlern nichts, wenn der Trainer den Stab zu niedrig ansetzt. Sie werden nicht besser und lernen auch nicht, miteinander zu wetteifern. Logischerweise kann der Trainer auch nicht per Vertrag mit anderen Mannschaften garantieren, dass seine Leichtathleten eine bestimmte Leistung erbringen werden. Mit der Demokratie verhält es sich nicht anders als mit einem sportlichen Wettkampf. Dabei kann und soll der in dieser Sportart erfahrene Westen Russland ermutigen, mehr Demokratie zu wagen. Insofern war Frau Merkels Hinweis an Wladimir Putin, kritikfähiger zu sein, in der Perspektive richtig. In der Tat bildet sich in Russland nur langsam eine gesellschaftliche Nachfrage nach Beachtung von Werten der Verfassung durch die Politik heraus. Diese Nachfrage ist noch relativ gering und lokal begrenzt. Der mittlerweile in Deutschland etablierte Verfassungspatriotismus in seiner Funktion als individueller Verfassungsschutz ist dem Gros der russischen Gesellschaft noch fremd. Auch scheint die Nachhaltigkeit des gesellschaftlichen Wertewandels eher unsicher zu sein, da Russlands „Wirtschaftswunder“ einzig und allein auf Rohstoffexporten basiert. Die konkrete Unterstützung Russlands beim Aufbau eines breiten Mittelstandes wäre eine nachhaltige Investition in die russische Demokratie, die aber freilich von Russland gewollt und gefördert werden muss. Ich bin sicher, dass westliches, insbesondere deutsches, Engagement in diesem Bereich mehr als willkommen wäre und die russische Führung zu Zugeständnissen etwa im Bereich der gemeinsamen Korruptionsbekämpfung bereit wäre.

Es sollte nicht darum gehen, auf der Ebene der Eliten um Werte und Worte zu streiten. Eine ritualisierte Form der Kritik wird mit der Zeit als Instrument der Einflussnahme wirkungslos, so dass die wirklich berechtigte Kritik an tatsächlichen russischen Fehlentwicklungen im Rauschen des Kritikrituals untergeht. Die russische Autokratie hat sich seit Jahrhunderten u.a. durch den Mythos des Mongolenjochs (und der Rolle westlicher Staaten dabei) gegen externe Einmischungen immunisiert. Die orthodoxe Kirche spielt dabei keine unwesentliche Rolle, ist sie es doch gewesen, die Russland seit je her geeint hat. Westliche Kritik an einer zu konservativen Linie kann mit Leichtigkeit als Versuch einer Schwächung des gesellschaftlichen und staatlichen Zusammenhalts zurückgewiesen werden. Die Unterstützung der Bevölkerungsmehrheit ist bei einer so existentiell gestellten Frage mehr als sicher. Besser wäre es, ein gemeinsames Werteverständnis durch Kooperation auf gesellschaftlicher Ebene zu schaffen. Ein Politikwandel wäre die zwangsläufige Folge des Wertewandels. Durch Kooperation wird man die ungünstige Dialektik des gleichzeitigen Ungleichzeitigen zwischen westlichen Staaten und Russland überwinden können. Kritik an Russland sollte nicht dem Zweck der Selbstvergewisserung über eigene Werte dienen. Dazu ist Russland viel zu europäisch, da es selbst seit Jahrhunderten auf die europäischen Werte ausgerichtet ist. Eine Dogmatisierung und Verabsolutierung unserer Werteverständnisse birgt wiederum die Gefahr von Glaubenskriegen. Was uns Russland vor Augen führt, ist die Voraussetzungsfülle einer werdenden Demokratie.

 

Warum der Westen seine Werte vertreten muss

Am vergangenen Donnerstag habe ich in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik diesen Vortrag gehalten – als Antwort auf den Direktor des Thinktanks der DGAP, Professor Eberhard Sandschneider. Angeregt durch unsere ZEIT-Debatte zur Außenpolitik wird die DGAP eine Reihe über das Verhältnis zwischen Werten und Interessen in der deutschen Außenpolitik veranstalten. (Wir werden berichten.) Am Donnerstag war die Auftaktveranstaltung.

Ich muss diesen Vortrag mit einer diplomatischen und menschlichen Unmöglichkeit beginnen. Was ich jetzt gleich tun werde, ist wirklich das Letzte. Ich werde mich selbt zitieren.

Verzeihen Sie, aber hier und heute kann ich es mir nicht verkneifen.

Vor nicht ganz zwei Monaten habe ich in der ZEIT geschrieben:

Wie wenig Stabilität taugt, die auf Kosten von Freiheit und Menschenrecht geht, zeigen heute die Eruptionen in den arabischen Ländern. Die fortschreitende Implosion der Staatenwelt des Nahen Ostens stellt auch einen vermeintlichen Realismus bloß, der sich nicht traute, über die Gewaltherrscher hinauszudenken. Das einflussreiche Milieu der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik wäre eigentlich der Ort für solche Reflexionen.

 

Als Journalist hat man nicht oft einen unmittelbaren Effekt mit kritischen Äußerungen. Um so mehr freue ich mich, dass die DGAP mit Herrn Professor Sandschneider den Ball aufgenommen hat und die Debatte weiterführen möchte, sogar mit einer ganzen Reihe von Vorträgen. Statt mir die DGAP-Mitgliedschaft zu kündigen, hat man mich hier eingeladen. Das ist großzügig und zeugt von Sportsgeist.

Und damit in den Ring:

 

Lieber Herr Sandschneider – einerseits sagen Sie: Es gibt neue Wertekonflikte, die sich aus dem Aufstieg neuer Mächte ergeben – und aus deren Anspruch, ihre eigenen Werte durchzusetzen. Der Westen bestimmt nicht mehr die Regeln.

Zweitens sagen Sie aber, es gibt eigentlich keinen Konflikt zwischen unseren Werten und unseren Interessen, das wird nur künstlich von Moralisten hochgespielt, die von Außenpolitik keine Ahnung haben.

Also was denn nun?

Ich finde, die beiden anfangs zitierten Aussagen passen nicht recht zusammen. Und möchte dagegen stellen: Es gibt tatsächlich einen globalen Wettbewerb, in dem unsere Werte – die der freiheitlichen und offenen Gesellschaften, durchaus nicht mehr nur des klassischen alten „Westens“ – herausgefordert und in Frage gestellt werden. Sie können das auf die einfach Frage reduzieren: Wer kommt besser durch die Krise – die freien Gesellschaften, oder die Gelenkten, die zigfach ausdifferenzierten Formen von Tyrannei, die wir heute sehen können?

Ich sehe eigentlich nicht die von Ihnen so häufig beschworene Gefahr des Predigens und Missionierens durch den Westen – sondern eher die einer Verzagtheit – aufgrund von bererchtigten und unberechtigten Selbstzweifeln. Denn: Ob es eigentlich noch legitim ist und erfolgsversprechend, für unsere Idee der Moderne einzutreten – in der wirtschaftliche und gesellschaftlich-politische Öffnung Hand in Hand gehen –, das ist zweifelhaft geworden.

Und selbstverständlich geraten deshalb in der Außenpolitik immer wieder Werte und Interessen aneinander.

Es kann unangenehm, unbequem, teuer sein, sich der Demokratie, den Menschenrechten, dem Rechtsstaat und den Bürgerfreiheiten verpflichtet zu wissen. Es stört manchmal vielleicht die Geschäfte. Nicht so oft, wie suggeriert wird, übrigens, ich komme gleich drauf. Es stört aber womöglich das außenpolitische Geschäft mit den herrschenden Eliten in manchen Ländern, die ihre Gesellschaften nicht öffnen wollen.

Es wird maßlos und strategisch – mit Absicht – übertrieben, welche negativen Konsequenzen eine Politik klarer Worte hat.

Vor allem von denen, die immer sagen: Bitte nicht so laut, bitte nicht auf dem Marktplatz, nicht in den Medien! Dazu ist zu sagen: natürlich sind Marktplatz und Megaphon nicht die erste Wahl! Allerdings ist das ja erstens auch gar nicht der Alltag deutscher Menschenrechtsdiplomatie. Die findet natürlich im Stillen statt. Manchmal aber – zweitens – muss es laut und deutlich sein.

Nehmen wir das letzte Jahr: Laut Ostausschuss der dt. Wirtschaft das bisher erfolgreichste beim Handel mit Russland. Tolle Wachstumsraten, tolle Zufriedenheit! Zugleich hat Deutschland noch nie zuvor so deutliche Worte gefunden für die undemokratische Tendenzen des Regimes Putin. Das Auswärtige Amt hat zwar versucht, eine Resolution des Bundestages im letzten Herbst abzumildern. Zum Glück aber ist das wegen öffentlichen Drucks nicht geschehen, und der Bundestag hat mit breiter Mehrheit Putins Rückabwicklung von Rechtsstaat und Demokratie scharf gegeißelt.

Dessen ungeachtet sind 80 Prozent der deutschen Unternehmen optimistisch, was das kommende Jahr angeht. Eigentlich sollte das nicht zusammenpassen. Diese Entwicklung widerspricht den Appellen zur Leisetreterei, die immer mit dem Argument daherkommen, wir würden uns Zugänge verspielen, wenn wir uns für Bürgerrechte einsetzen.

Wir sollten uns nicht kleiner machen als wir sind.

 

Was heißt das übrigens, dass der Westen nicht länger „die Regeln“ bestimmt, wie Sie ja auch gerade wieder in Ihrem Vortrag ausgeführt haben, Herr Sandschneider? Das ist eine merkwürdige postkoloniale Polemik, mit der oft blanke Interessen der anderen Seite aufgehübscht werden: Wenn man das Copyright nicht akzeptiert, sich übers Patentrecht hinwegsetzt, wenn die Korruption gedeiht, wenn Minderheiten und Andersdenkende unterdrückt werden, wenn Wahlen manipuliert und Medien behindert werden, dann kommt diese Polemik auffällig oft zum Einsatz. Wir sollten diese Propagandamasche unterdrückerischer Regime nicht mitmachen. Es geht in Wahrheit um universalisierte Normen, zu denen sich – jedenfalls auf dem Papier – nahezu alle Staaten bekennen.

 

Beruhen die UN-Menschenrechtskonventionen auf „westlichen Werten“? Warum werden sie dann so breit ratifiziert? Gerhart Baum hat bei uns in der ZEIT vor einigen Wochen noch einmal klar gestellt: „Niemand diktiert der Welt ihre Werte – weder der Westen noch die deutsche Außenpolitik. Die Werte wurden in einem beispiellosen historischen Akt 1949 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen niedergelegt. Das war eine Reaktion auf die Schrecken der ersten Hälfte des dunklen 20. Jahrhunderts. In der Präambel heißt es: ‚Die Verkennung und Missachtung der Menschenrechte hat zu Akten der Barbarei geführt, die das Gewissen der Menschheit tief verletzt haben.’“

Betonung: „Gewissen der Menschheit“. Nicht „der westlichen Welt“.

 

Und was soll es heißen, dass die Politik „externer Demokratisierung“ gescheitert sei? Dass deutsche Außenpolitik, wie Sie sagen, zwar besser ist als ihr Ruf, aber immer dann desaströse Ergebnisse zeitigt, wenn sie ihre Wertegebundenheit nach außen kehrt? Mit Sicherheit ist es richtig, die Zielsetzung des Afghanistan-Krieges und des gesamten neuen Interventionismus der letzten 15 jahre einer kritischen Revision zu unterziehen.

Die Politik scheut davor zurück und reagiert mit einer klammheimlichen, nichterklärten Doktrin des Sichraushaltens in Kombination mit einer Lockerung der Waffenexportpolitik – explizit auch an undemokratische Mächte in Spannungsregionen wie Saudi-Arabien.

Ist das die richtige Konsequenz aus einer Ernüchterung beim Interventionismus? Stabilität schaffen mit immer mehr Waffen? Wer kann nach den Ereignissen der letzten Jahre in Arabien noch seine Hand für das Staatsmodell Saudi-Arabien ins Feuer legen?

 

Das neue Selbstbewußtsein der aufstrebenden Länder, das Sie immer wieder betonen, Herr Sandschneider, ist eine gute Sache – da, wo es auf Leistung und Reformbereitschaft mindestens im ökonomischen Bereich beruht, wie vor allem in China, aber auch in Lateinamerika und Afrika. Darüber sollten wir froh sein. Davon haben wir nichts zu berfürchten außer belebender Konkurrenz.

Zu unterscheiden ist davon die postkoloniale Propaganda autoritärer Regime, mit der gesellschaftliche Reformen abgewehrt werden sollen, weil sie schlicht die etablierte Herrschaft gefährden.

Meine Erfahrung ist: Wann immer das kulturrelativistische Argument kommt, dieser oder jener Wert tauge nicht für diese oder jene Kultur, ist meist etwas faul. Es klingt ja nicht grundsätzlich falsch, wenn vom Pluralismus der Lebensformen die Rede ist. Aber es wird natürlich oft strategisch eingestezt, gerade um Pluralismus zu verhindern! Ein Beispiel:

Kürzlich habe ich einen russischen Außenpolitiker getroffen, der im System Putin eine wichtige Größe darstellt. Wir hatten über Syrien, die Eurokrise, das iranische Atomprogramm und die Spannungen mit den USA diskutiert.

Doch richtig lebhaft wurde das Gespräch, als die Rede auf das Gesetz gegen die „homosexuelle Propaganda“ kam, das russischen Schwulen und Lesben ab dem Januar verbietet, über ihre sexuelle Orientierung zu reden.

Sehen Sie, sagte mein Gegenüber, warum regen Sie sich darüber auf? Wir drücken Ihnen in Deutschland doch auch nicht unsere Werte auf? Das ist eine russische Angelegenheit.

Wir haben das Recht, unsere Gesellschaft, unsere Familien, unsere Kinder vor diesen Erscheinungen zu schützen. Das ist nicht gesund für eine Gesellschaft. Wir wollen nicht, dass dieser Lebensstil sich verbreitet, aber wir kommen nicht zu ihnen und greifen Sie an, weil sie ihn dulden.

In Rußland aber haben wir Maßnahmen dagegen ergriffen. Das ist unser Recht. Sehen Sie, der Westen durchläuft gerade eine liberale Revolution – alles wird erlaubt, alle Lebensformen, alle Glaubenssysteme sind gleichwertig. Man kann aber solche Werte nicht importieren. Sie können nicht nach Moskau kommen und uns befehlen, diese liberalen Werte anzunehmen.

Sie im Westen durchlaufen eine liberale Revolution. Russland durchläuft eine konservative Revolution.

 

Das heißt in Wahrheit, ich übersetze das mal, „wir haben das Recht unsere Minderheiten zu unterdrücken, wie es uns passt“.

 

Soll die deutsche Regierung dazu schweigen? Ich glaube, das geht nicht mehr, gerade weil wir immer mehr mit Russland verflochten sind, und weil wir das gerne noch weiter treiben wollen. Russland hat die Europäische Menschenrechtskonvention unterschrieben. Russland will zu Europa gehören, seine Eliten schicken ihre Kinder hier zur Schule, sie kaufen Häuser und legen Geld in Europa an. Wer die Integration und Verflechtung unserer Gesellschaften befürwortet, kann Menschenrechtsverletzungen nicht ignorieren. Und da ist dieser Fall natürlich nur ein Symptom, aber ein wichtiges. Er ist ein Test dafür, ob wir uns und unsere Werte noch ernst nehmen.

 

Aber treten wir noch mal einen Schritt zurück.

 

Ich möchte hier kurz einige Elemente der Polemik gegen „überzogene Werte- und Moralbezüge“ aufgreifen, wie sie – prominent von Ihnen, Herr Sandschneider – immer wieder vorgebracht werden:

 

Erster Vorwurf: Der Westen hält sich nicht an seine eigenen Werte, darum soll er andere nicht belehren.

Ersteres ist leider sehr oft richtig. Das Zweite geschieht kaum noch. Im Gegenteil greift eine merkwürdige Verzaghtheit um sich, die aus westlichem Selbstzweifel gespeist wird: Es steht in Frage, ob unsere Gesellschaften am Ende die leistungsfähigeren sind. Das ermutigt die andere Seite, die Despotie als effiziente Alternative zu verkaufen. Dem muß man entgegentreten.

 

Zweiter Vorwurf: Der Westen missioniert die Welt mit seinen Werten und gibt sie doch für universale aus. Das ist eine Variante eines alten deutschen Vorurteils gegen den Westen, historisch besonders gegen die Briten: Werte sind nur Cover für Interessen. „Sie sagen Christus und meinen Kattun.“ (Fontane) Diese antiwestliche Tradition hat Deutschland in den Abgrund geführt. Ich verspreche mir nichts davon, daran anzuknüpfen.

 

Im Gegensatz dazu wird behauptet, dritter Vorwurf: Wer öffentlich von seinen Werten redet, will sich eigentlich nur selbst bespiegeln. Das kann natürlich vorkommen. Aber manchmal ist es wichtig zu zeigen, wer man ist und wo man steht – auch um der anderen Seite Ernst genommen zu werden. Ich stelle mir vor, dass der russsiche Präsident Putin eine ziemlich nüchtern-robuste Sicht der deutschen Außenpolitik hat: Ihr kritisiert uns zwar für Pussy Riot und für Chodorkowski und die NGO-Razzien, macht aber weiter „Rechtsstaatsdialog“, als wäre nichts passiert – wie verlogen ist das denn? Und ich soll Euch ernst nehmen? Ihr nehmt euch ja selber nicht ernst.

 

Vierter Vorwurf: Wertebezogene Politik wird nur fürs „Schaufenster“ beziehungsweise „die Medien“ gemacht. Das ist nicht auszuschließen, und es kann natürlich im Einzelfall falsch sein. Es kann dann größerer Schaden entstehen als bei einer leisen Vorgangsweise. Aber: Dass Diplomatie bei uns unter Druck steht, sich vor dem heimischen Publikum zu rechtfertigen, ist einerseits lästig für die Politik, kann aber auch eine Stärke sein.

Es gibt der Regierung ein Argument an die Hand: Wir wollen ein gutes Verhältnis, aber wir können euer Verhalten bei unseren Leuten nicht mehr rechtfertigen. Wenn ihr so weiter macht, kommen wir in ernsthafte Schwierigkeiten zuhause. Wir wollen uns für euch einsetzen, aber wir können das immer schwerer verkaufen….

Anders als in Zeiten des Kalten Krieges braucht in der globalisterten Welt von heute jeder schwierige Partner die Gewogenheit der Öffentlichkeit, auch der Öffentlichkeit hier bei uns, und das ist gut so. Darum wollen alle die Olympischen Spiele und die Fussball WM ausrichten. Und darum geht es einigen Lobbyfirmen hier in Berlin, die den Job der Aufhübschung von Autokraten machen, ziemlich prima.

 

 

Fünfter Vorwurf: Wertegeleitete Politik ist irrelevante „Symbolpolitik“ – im Gegensatz zur harten Realpolitik.

Das hat noch nie gestimmt, und es ist heute erst recht nicht wahr. Symbolik ist wichtig. Wenn Symbolpolitik so irrelevant ist, warum waren die Chinesen so verschnupft wegen der Sache mit dem Dalai Lama? Warum ist die israelische Regierung nachhaltig irritiert über eine deutsche Enthaltung vom letzten Herbst, als es um das Upgrade der Palästinenser in die Uno ging? Symbolpolitik ist eine schwierige, harte Sache.

 

Sechster Vorwurf: Werte lassen sich nicht exportieren/ eins zu eins übertragen/ verpflanzen.

Das ist eine Binsenweisheit. Und damit natürlich richtig – und falsch zugleich. Reeducation in Deutschland war offenbar ein Erfolg, Nationbuilding im Irak scheint eher ein Misserfolg zu werden.

Aus dem letzteren in eine Doktrin der Nichteinmischung zurückzufallen, wäre falsch und unzeitgemäß. Die Überdehnung westlicher Politik unter George W. Bush ist eine fatale Tatsache – aber warum soll dafür Amnesty büßen, oder „Memorial“ in Russland?

 

Siebter Vorwurf: Wir brauchen die Autokraten, Nichtdemokraten und Scheindemokraten zur Lösung internationaler Probleme und wegen der Rohstoffe, darum sollten wir lieber schweigen. Wenn wir zu laut sind, fühlen sie sich zurückgewiesen, vertrauen uns nicht mehr und kooperieren nicht mehr.

Ersteres stimmt zweifellos, das zweite nicht. Wir brauchen sie, aber sie uns auch. Auch die andere Seite hat Interessen, die sie an uns bindet. Es ist legitim, dass wir das nutzen.

 

Achter und letzter Vorwurf: Der Westen und auch Deutschland wenden seine Werte nur selektiv an – da, wo es gerade passt und keine negativen Rückwirkungen zu befürchten sind. Er kritisiert schwächere Länder, die sich nicht wehren können, lässt Saudi-Arabien aber zum Beispiel ungeschoren – wegen des Öls und der Bedeutung als „moderate“ Macht in der Region. Weil westliche Werte immer wieder mit doppelten Standards zur Anwendung kommen, sind sie diskreditiert.

Doppelmoral ist in der Tat ein Problem. Zwar wäre es naiv zu glauben, sie ließe sich ganz vermeiden oder durch reine Moralpolitik ersetzen. Das fordert auch niemand! Außenpolitik hat viele Interesssen abzuwägen – Friedenssicherung, Energiesicherheit, Umweltschutz, Wirtschaftsinteressen. Dabei müssen moralische Bedenken oft zurückstehen.

Aber nichts davon, kein einziges Ziel der deutschen Außenpolitik ist langfristig ohne das Drängen auf gesellschaftliche und politische Öffnung zu sichern. Das ist der harte Kern einer realistischen Moralpolitik, um die wir zum Glück endlich streiten.

 

 

 

„Unsere Väter, unsere Mütter“ – und die Unfähigkeit zu trauern

Kann es sein, dass die Debatte über das NPD-Verbot und das Scheitern des Dreiteilers „Unsere Väter, unsere Mütter“ etwas miteinander zu tun haben?

In meinem Kopf jedenfalls. Der Glaube, man könne den Nazis (von heute) beikommen, indem man ihre Organisation verbietet, und das Versagen der filmischen Imagination angesichts der NS-Geschichte hängen zusammen. Es ist immer noch schwierig, sich in die Faszination des Nationalsozialismus hineinzudenken.

Das ist das eigentliche Problem des Films von Nico Hofmann, dem man sonst kaum etwas vorwerfen kann. Nein, Juden kommen vor, und die Judenverfolgung. SD-Leute, Alltagsrassisten und Antisemiten. Verführte und radikalisierte Soldaten. Ich habe keine Beschönigung entdecken können. Im Gegenteil, der Film trägt den Wunsch, endlich die Härte des Kriegs, die Menschenverachtung des Regimes, die Brutalisierung an der Ostfront etc. ungefiltert zu zeigen, am Revers.

Aber etwas fehlt, und darum lässt einen die Sache doch merkwürdig kalt. Der Film beginnt 1941, auf der Höhe des deutschen Kriegsglücks und der Führerbegeisterung. Aber er zeigt nichts davon. Die fünf Freunde, für die er uns einnehmen will, sind alle merkwürdig distanziert zum Mainstream. Der eine ist Literat, der andere ein pflichtbewusster, preussisch-korrekter Offizier, die beiden Frauen naiv-gutmütig (Krankenschwester Charlotte) bzw. kunstsinnig-rebellisch (die Sängerin Greta mit dem jüdischen Geliebten).  Nichts dagegen zu sagen – aber das sind nicht „unsere Väter, unsere Mütter“, sondern eher Wunschbilder davon. Am Ende sind die Fünf alle praktisch im Widerstand oder Opfer der Verhältnisse. Na ja.

Hoch problematisch ist die oft wiederholte Moral: „Der Krieg bringt nur das Schlechteste in uns hervor.“ Hm. Zweifellos ist das immer eine Möglichkeit. Zweifellos gab es zahlreich solcher Erfahrungen. Aber für andere Völker war derselbe Krieg eine ehrenwerte, heroische Sache, bei allem Horror, aller Verrohung, aller Schuld. Ein Vernichtungskrieg gegen „Untermenschen“ wird allerdings das Schlimmste hervorbringen, aber doch nicht „der Krieg“. Und selbst im schlimmen deutschen Krieg mag es Helden gegeben haben. Die Grundkonstruktion des Films, dass fröhliche, nichts ahnende junge Menschen im Krieg verroht werden, ist mir ein bisschen zu schlicht.

Sie verschenkt einen möglichen Erkenntnisgewinn, für den es allerdings etwas mehr Risikobereitschaft gebraucht hätte: dass wir uns nicht in Phantasiefiguren von Widerstand und Opfertum spiegeln sollen, sondern in denen der Täter und Mitläufer, also der breiten Masse des deutschen Volkes von damals.

Mein Vater – Jahrgang 1933 – war in den Genuss der Gnade der späten Geburt gekommen. Er hatte keine Gelegenheit, schuldig zu werden. Ich habe ihn immer sehr dafür respektiert, dass er mir nie vorgespielt hat, er wäre immun gewesen gegen die Faszination des Faschismus (for lack of a better word).  Es hat mir geholfen, dass er eines Abends sagte, als wir wieder einmal von jener Zeit sprachen (und von meinem Onkel Viktor, dem unverbesserlichen Nazi): Ich wollte so gerne in die Hitlerjugend! Ich liebte das Militärische, das Abenteuer, den Drill. Ich wollte die Uniform, ich wollte ein Mann sein, ich wollte dazugehören!

Das war kein schlimmes Geständnis, aber es hat mir den Kopf geöffnet für das, was der Film von Hoffmann sich verbietet: Dass die Deutschen den Führer geliebt und den Endsieg gewünscht haben, dass es ihnen prima ging mit dem Regime, dass sie mit seinen Zielen übereinstimmten und sich dabei gut fühlten. Dass sie aus Liebe und Idealismus und Überzeugung Nationalsozialisten waren, nicht bloß aus Druck und „Verführung“. Dass sie Deutschlands Feinde aus denselben hehren Gefühlen heraus gehasst haben; dass sie mit der völkischen Lebensanschauung einverstanden waren, in der für Juden, Behinderte und Volksschädlinge kein Platz war – auch wenn sie vielleicht nicht so genau wissen wollten, welche Folgen das hatte.

Nicht einen einzigen solchen Nationalsozialisten zeigt dieser Film. Alle sind die Monster, haben schlechten oder gewalttätigen Sex, sind Sadisten etc. – als hätte es nie eine Debatte über die „Banalität des Bösen“ gegeben. Wer die Liebe zum Führer nicht verstehen will, die eine Lizenz zum Schlimmsten gab, und den Glauben an die deutsche Mission bei der Unterjochung Europas, die heiße Hoffnung auf den Endsieg, der will den Nationalsozialismus nicht verstehen.

Eines der berühmtesten Bücher über die Schwierigkeiten der deutschen Vergangenheitsbewältigung trägt der Titel „Von der Unfähigkeit zu trauern“. Darunter hat man oft die Unfähigkeit verstanden, um die Opfer der deutschen Verbrechen zu trauern. Was die Mitscherlichs mit dem Buch aber eigentlich im Sinn hatten, war die Unfähigkeit der Deutschen, um den „geliebten Führer“ zu trauern und über das „Erwachen aus einem Rausch“ zu erschrecken, das mit Hitler „gescheiterte Ich-Ideal“ ins Auge zu fassen. Nicht über die Opfer, über den Führer versäumte man zu trauern. Selten ist mir diese These aktueller erschienen als nach dem Ansehen des Hofmanschen Films. Immer noch identifizieren wir uns mit den Opfern und imaginieren uns als Opfer des Regimes. Die Nazis sind und bleiben die anderen. Unverständlich wie Aliens.

Und damit komme ich zurück zur NPD-Verbotsdebatte: Kann es sein, dass der Wunsch, das alles einfach zu verbieten, statt sich auf den langen, mühevollen, peinigenden politischen Kampf einzulassen, der gleichen Unfähigkeit zu trauern entstammt, die uns auch heute noch von unseren Vätern, unseren Müttern trennt (und uns zugleich mit ihnen vereint)?

 

Warum ich (immer noch) gegen ein NPD-Verbot bin

… steht in diesem Artikel, der am 31. August 2000 unter dem Titel „Helm ab zum Verbot“ in der ZEIT erschien. Damals stand die Bundesregierung hinter dem Verbotsantrag. Die heutige Regierung hat aus dem Scheitern der damaligen gelernt. Die SPD offenbar aus ihrem eigenen Desaster von damals – nicht. Rösler hat recht, die Sache nicht zu unterstützen und für die FDP zu erklären, man stehe nicht dahinter. Seehofer ist ein politischer Opportunist übelsten Wassers, wenn er darum der FDP „Verharmlosung“ der Nazis vorwirft. Im Gegenteil verharmlost, wer die Sache durch Verbote regeln will.

Wie dem auch sei, an meinem Essay von vor fast 13 Jahren habe ich interessanter Weise nichts zurückzunehmen:

Rassistische Terrorakte erschüttern das Land. In ihrer Not erwägt die Regierung das Verbot von Demonstrationen und Parteien. Wird der Demokratie der Preis der Freiheit zu hoch?

Seit die Bundesregierung die Absicht erklärt hat, beim Bundesverfassungsgericht ein Verbot der NPD zu beantragen, falls ein solcher Antrag Aussicht auf Erfolg habe, sind allerlei praktische Bedenken laut geworden. Kein Einwand traf das prinzipielle Mittel des Verbots. Die Atmosphäre allgemeiner Beflissenheit im „Kampf gegen die Nazis“ scheint alle Erinnerung an einen früheren Kampf getilgt zu haben, der in der Bundesrepublik einmal von linksliberaler Seite gegen die unselige Praxis des Parteienverbots geführt wurde. Heute scheinen Opportunität und Umsetzbarkeit die einzigen Kriterien für die Wünschbarkeit eines Verbots zu sein. Es gebe wahrscheinlich, so ließ sich der nordrhein-westfälische Innenminister vernehmen, gar nicht genug belastendes Material zur Begründung eines Verbotsantrags. Würde der Antrag aber scheitern, so fürchten andere, dann dürfte sich nicht nur die NPD, sondern die gesamte rechte Szene gerechtfertigt fühlen. Bei einem erfolgreichen Verbot der NPD hingegen würden sich nur die beiden konkurrierenden Parteien – DVU und Republikaner – freuen, denen das gesamte Feld des legalen Rechtsradikalismus zufiele. Die illegale Szene werde abtauchen und sich der Beobachtung entziehen. In einem Verfassungsschutzbericht werden die Führer einer norddeutschen „Kameradschaft“ zitiert, die sich geradezu erleichtert über die Aussicht zeigen, dass sie mit einem NPD-Verbot auch die Staatsspitzel loswerden können, die bisher in allen Parteiveranstaltungen sitzen.

Es sei, gaben schließlich Kenner der Szene zu bedenken, ohnehin illusorisch, zu glauben, man könne mit einem Parteiverbot dem Terror Einhalt gebieten. Die rassistischen Gewalttaten seien nicht zentral gesteuert. Internet und Mobiltelefon haben in der rechten Szene hierarchische Kaderstrukturen obsolet gemacht und eine neue Form von Aktivismus hervorgebracht, den spontanen, selbst organisierten „Feierabendterrorismus“. Alle Einwände, kurz gesagt, laufen darauf hinaus, dass ein Verbot der NPD zur Lösung des akuten Problems kaum etwas beitragen kann. Auch die historische Legitimation für die Anwendung des Arsenals der „wehrhaften Demokratie“ wurde bestritten: Die Weimarer Republik, so legte der Historiker Hans Mommsen dar, sei nicht daran gescheitert, dass ihr die rechtlichen Mittel fehlten, sich ihrer Feinde zu erwehren – sie hatte solche Mittel und hat sie auch angewandt -, sondern am mangelnden Freiheitssinn ihrer Bürger.

Letzteres ist nun allerdings ein passendes Stichwort, unter dem sich die laufende Debatte betrachten lässt. Weiter„Warum ich (immer noch) gegen ein NPD-Verbot bin“

 

Wie soll Deutschland mit Russland umgehen?

Mein Artikel aus der ZEIT von heute, S.4:

Im April 2012, wenige Wochen nach der Wahl Wladimir Putins zum russischen Präsidenten, spricht der deutsche Kremlexperte Alexander Rahr zwei Stunden lang in Moskau mit einer russischen Journalistin. Aus dem Gespräch entsteht ein Interview, das am 4. Mai in der Komsomolskaja Prawda erscheint, einer regierungstreuen Boulevardzeitung. Die Überschrift dieses Textes voller antiwestlicher Attacken lautet: »Der Westen führt sich auf wie die Sowjetunion.« Die russische Nachrichtenagentur macht zwar eine Meldung auf Deutsch. Doch weil die schrillsten Aussagen fehlen, dauert es weitere zehn Monate, bis die Grünen-Abgeordnete Marieluise Beck, Osteuropapolitikerin ihrer Partei, auf das Interview aufmerksam wird. Beck lässt es übersetzen. Was sie zu lesen bekommt, wühlt sie auf. Sie kennt Rahr von zahlreichen Treffen. Beide sind Mitglieder in der Leitung des Petersburger Dialogs, des wichtigsten Forums deutsch-russischer Diplomatie.
Nun zirkuliert der Text unter Berliner Insidern, und es droht ein Skandal in Zeitlupe daraus zu werden. Rahr distanziert sich von dem »sogenannten Interview«, das nie als solches geführt worden sei. Ein unterdrückter Streit um die deutsche Russlandpolitik drängt an die Öffentlichkeit. Soll die deutsche Regierung gegenüber Putins Russland auf den Werten der freiheitlichen Demokratie beharren? Oder gebietet es die realpolitische Klugheit, antidemokratische Entwicklungen still hinzunehmen?
Das Auswärtige Amt und das Kanzleramt, die sich immer wieder auf entgegengesetzten Seiten dieses Streits wiederfinden, sind auch schon mit der Sache befasst worden. Alexander Rahr ist der einflussreichste und am besten vernetzte deutsche Russlandexperte. Er war bis letztes Jahr Forschungsdirektor des Berthold-Beitz-Zentrums der regierungsnahen deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik DGAP. Rahr wird vom Auswärtigen Amt als Ratgeber beschäftigt, ist Berater des deutschen Energieriesen Wintershall und Forschungsdirektor des Deutsch-Russischen Forums, einer industrienahen Lobbygruppe. Er kennt Putin und Medwedjew persönlich und hat über beide Bücher geschrieben. Sein letztes Russlandbuch Der Kalte Freund wurde von Frank-Walter Steinmeier vorgestellt.
Rahr hat immer für Nachsicht gegenüber dem »schwierigen Partner« Russland plädiert. Doch das Interview geht weit darüber hinaus. Die gedruckte Fassung legt nahe, dass Rahr den antiwestlichen Kurs der russischen Herrschaftselite nachvollzieht.
Von der russischen Journalistin befragt, warum die »hochmütigen deutschen Eliten« Putin nicht mögen würden, antwortet Rahr im gedruckten Text, die deutsche »Huldigung an die USA«, entspringe eben einem »tiefen religiösen Gefühl«. Die Deutschen lebten »im Gefühl des Triumphes der liberalen Werte und der westlichen Demokratien«. Diese Werte würden vom Westen in fremde Kulturen »mit allen Methoden, selbst aggressiven, exportiert«. Er sehe darin eine Idee vom »weltweit gewaltsam erzwungenen Glück«, wie »vor 100 Jahren von der UdSSR propagiert«. Die Kritik an den manipulierten Wahlen im März 2012 fällt darunter: »Und was für eine Hysterie begann in der Presse nach der Wahl Putins! Sie sind einfach in Wut geraten, dass sie nichts tun können!« Dagegen stehe Putin mit seinen »romantischen Vorstellungen« von Deutschland »mit reinem Herzen« da: »Das ist sein geliebtes Deutschland, wo er einst in Kneipen Bier getrunken hat und mit Deutschen befreundet war.« Die Deutschen aber sind amerikanischer Macht und der »moralischen Stärke Israels« verfallen, auch wenn man ihnen den Holocaust »ständig unter die Nase reibt«. Gegenüber Russen verspüren sie keine Schuld. Rahr zitiert einen russischen Kollegen: »Den Deutschen hat man tatsächlich das Gehirn amputiert.«
Alexander Rahr sagt gegenüber der ZEIT, er habe gegen die Veröffentlichung protestiert. Der Text sei von ihm nicht autorisiert worden. Überhaupt habe die Journalistin, Darja Aslamowa, mit ihm nur ein Hintergrundgespräch geführt, angeblich für einen Essay. Manche Begriffe seien schwer übertragbar. In einer vom Bundessprachenamt angefertigten Übersetzung ist die Rede davon, dass Europa mit Russland zusammen seinen »Lebensraum« im Osten erweitern könnte. Den durch die Nazizeit belasteten Begriff habe er aber nicht gemeint, sondern eher etwas wie »Siedlungsraum«. Der Text sei zugespitzt worden, klagt Rahr, Aussagen Dritter würden nun ihm zugeschrieben.
Das mag sein, doch ein Video auf der Web­site der Zeitung, das vier Minuten des Gesprächs zeigt, spricht dagegen, alles durch Zuspitzung zu erklären. Der veröffentlichte Text weicht nicht wesentlich vom aufgezeichneten Gespräch ab. Rahr spricht in sarkastischem Ton von westlichen Menschheitsbeglückern, die »andere Menschen dazu zwingen, ebenfalls Demokraten und Liberale in ihrem Denken zu sein, die Menschheit von der Sklaverei zu befreien. Das ist sozusagen die gleiche wunderbare Idee, die vor 100 Jahren von der Sowjetunion propagiert wurde.«
Das Interview verweist auf ein Kernproblem der deutschen Russlandpolitik. Lässt Deutschland sich von dem verzerrten Bild einschüchtern, das die russische Regierung und Apologeten wie Rahr zeichnen: Westliche Hypermoral gegen »russische Werte«?
Der totalitär gewordene Westen, das aufrecht widerstehende Putin-Russland – das ist schon seit einiger Zeit ein Leitmotiv Alexander Rahrs. Man konnte es in Der Kalte Freund (2011)finden: Kritik an Putins System als verdeckter Versuch, Russland »klein zu halten«. Werte in der Außenpolitik sind nur maskiertes westliches Machtstreben: In den letzten Jahren habe »die westliche Wertepolitik quasimilitanten Charakter« angenommen. NGO-Aktivisten sind »Fundamentalisten im Gewand der alten Kreuzritter (Putins Ausdruck)«: Russland »fühlt sich diskriminiert, weil der Westen den Kontinent Europa mit seinen Werten ideologisch okkupiert hat«.
Das ist ein bemerkenswerter Satz. Der renommierteste deutsche Russlandexperte unterstützt Putins Propaganda, derzufolge der Einsatz für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit dem Zweck dient, Russland einzuhegen – durch eine »Okkupation« Europas mit westlichen Werten. Das liefert die Ausrede für die Unterdrückung von allem, was die zunehmend autoritäre Herrschaft gefährdet: Wenn Putin Menschenrechtsgruppen bedrängt, NGOs zwingt, sich als »ausländische Agenten« registrieren zu lassen, Internetfreiheit einschränkt, Presse und Parlament »lenkt« oder Homosexuelle diskriminiert – dann dient das der Abwehr eines Werteangriffs aus dem Westen?
Was eigentlich die östlichen, genuin russischen Werte sind, erfährt man nicht. Sie sind ein Popanz, genau wie der angebliche Wertefeldzug des Westens. Angela Merkel erlaubt sich etwas mehr Distanz zu Putin, trifft Menschenrechtler und spricht besorgt, aber freundlich über un­demokratische Gesetze. Milliardendeals steht dieser normale Umgang unter Nachbarn nicht im Weg.
Nach dem Ende des Kommunismus herrschte die Annahme, Russland und Europa seien gleichen Werten verpflichtet. Auf dieser Grundlage finden all die Dialoge, Foren und Modernisierungspartnerschaften statt, an denen auch Alexander Rahr teilnimmt. Ohne die Hoffnung, sich auf Grundwerte verständigen zu können, sollte man sich das alles besser sparen.

 

Mehr als Fressen und Moral: Deutschland braucht eine außenpolitische Strategie

Erfreulicher Weise hat meine Intervention wider die „deutsche Liebe zu den Diktatoren“ eine Debatte ausgelöst, die nicht abreißt. (In der kommenden Ausgabe der ZEIT antwortet Gerhart Baum (FDP) auf Eberhard Sandschneider.) Der folgende Beitrag stammt von Ulrich Speck, einem der anregendsten unabhängigen Köpfe auf dem Feld der außenpolitischen Debatte in Deutschland. Speck war von 2005 bis 2007 auch Zeit Blogger  (Kosmoblog). Er ist außenpolitischer Kolumnist bei der NZZ und bei Carnegie Europe.

Die Deutschen wollen verständlicherweise beides, gut verdienen und gut schlafen. Gut verdienen bedeutet, nach Lage der Welt, auch mit übleren Regimes Geschäfte zu machen. Gut schlafen heißt, dennoch ein gutes Gewissen zu haben.

Fürs Geldverdienen sind die Unternehmen zuständig. Aber auch die Politik. Türen in Russland, China, Kasachstan und anderswo zu öffnen gehört zu den Aufgaben eines Bundeskanzlers, spätestens seit Helmut Schmidt. Die Bundeskanzlerin nimmt Wirtschaftsbosse mit in der Kanzlermaschine und unterzeichnet Verträge, ein schon lange vertrautes Bild. Die Politik kümmert sich um den Rahmen, bildet Vertrauen, schafft Gelegenheiten, gibt Bürgschaften. Die Unternehmen exportieren und investieren. Eine Symbiose, die Deutschland reich gemacht hat – ungeheuer reich.

Weil Deutschland aber nicht nur reich sein will, sondern eben auch Gutes tun in der Welt, spricht die Regierungschefin im Ausland auch die Menschenrechte an, oder trifft sich mit Dissidenten. Und es gibt es sogenannte Dialoge mit mehr oder weniger autokratischen Regierungen, über Menschenrechte und den Rechtsstaat. Das alles ist seit Jahren institutionalisiert – und hat, über einzelne Gnadenakte hinaus, wenig bewirkt. Vieles ist Ritual.

Diese Trennung der Sphären – hier das Geschäft, dort die Menschenrechte, oder, nach Brecht: hier das Fressen, da die Moral – ist auch charakteristisch für die außenpolitische Debatte. Es gibt den moralischen hohen Ton, der von der Außenpolitik fordert, nichts zu tun, was Menschen in anderen Ländern schaden könnte. Und es gibt die Wortführer des Interesses, die sich gegen die moralische Aufladung von Außenbeziehungen wenden. Vor allem mit zwei Argumenten: Erstens, die Amerikaner bemänteln mit Menschenrechten auch nur ihre wirtschaftlichen Interessen, zweitens, wir haben kein Recht, anderen vorzuschreiben, wie sie leben wollen. Das klingt zumindest progressiv.

Die Debatte wird jedoch oft verkürzt geführt. Weder ein rein von Menschenrechtsbelangen noch ein rein von Unternehmensinteressen geprägter Ansatz kann und soll deutsche Außenpolitik anleiten. Beide müssen vielmehr in einen umfassenderen außenpolitischen Ansatz einfließen. Deutschland als Staat hat Interessen, die weder identisch sind mit den kurzfristigen Gewinninteressen von Unternehmen noch mit den Kampf um Freiheitsrechte von Individuen und Gruppen in anderen Ländern. Beides gehört in den Mix, aber Außenpolitik muss weitaus breiter angelegt sein.

Außenpolitik muss vielfältige Interessen abwägen und integrieren. Dazu gehören materielle Interessen: Unternehmensinteressen (Großunternehmen und Mittelstand), langfristige ökonomische Interessen (Energie und Bodenschätze), finanzpolitische Interessen. Dazu gehören auch sicherheitspolitische Interessen: Erhaltung beziehungsweise Wiederherstellung von Frieden, Sicherheit der Verkehrswege. Aber auch ideelle Interessen wie Einhaltung der Menschenrechte, Gerechtigkeit, Kampf gegen Armut. Weiterhin das Menschheitsinteresse am Erhalt der natürlichen Umwelt. Und nicht zuletzt das Interesse am Erhalt einer Weltordnung, die Deutschland Freiheit, Sicherheit und Wohlstand gebracht hat.

Wie aber lässt sich das alles halbwegs in Einklang bringen? Wie verhindert man, dass sich Außenpolitik nicht im Klein-Klein individueller Akte verliert? Die Antwort lautet: “grand strategy” — eine übergreifende, umfassende Strategie, die die generelle Marschrichtung vorgibt und an der sich die vielen Akteure im Feld der Außenbeziehungen orientieren können. Und die zudem die Verbindung und Abstimmung mit unseren wichtigsten Partnern erleichtert, europäisch und transatlantisch.

Mein Vorschlag für so eine grand strategy ergibt sich aus der Prämisse, dass Deutschland seine Sicherheit, seine Freiheit und seinen Wohlstand einer Ordnung verdankt, die als liberal zu bezeichnen ist: beruhend auf Marktwirtschaft und liberaler, also Freiheit und Sicherheit garantierender Demokratie.

Nach ihrer Schwächephase zwischen den beiden Weltkriegen, als totalitäre Alternativen attraktiver erschienen, hat sich liberale Staatlichkeit mit amerikanischer Hilfe in Europa fest etabliert, nach 1945 im Westen, nach 1990 dann auch in der Mitte und im Westen des Kontinents. Zahlreiche neuen Demokratien sind in der Welt entstanden, in Asien, Afrika und Südamerika.  Deutschland hat, eingebettet in Nato und EU, seine zweite Chance genutzt und ist zu einem der Anker liberaler Staatlichkeit in der Welt geworden.

Das Beispiel Europas, aber auch die Erfahrungen in anderen Weltregionen, die in den letzten Jahrzehnten das Modell liberaler Staatlichkeit übernommen haben, zeigen, dass liberale Demokratie die Erfolgsformel für langfristige Stabilität darstellt. Demokratisch gewählte Regierungen verfügen über ein Maximum an Legitimität, und Minderheiten haben durch den Staat gesicherte Rechte. Nicht Willkür herrscht, sondern der Mehrheitswillen im Rahmen von Gesetzen, die sich Gesellschaften selbst gegeben haben. Individuen und Gruppen genießen Raum für wirtschaftliche Entfaltung. Konflikte werden nicht mit Gewalt ausgetragen, sondern durch Verhandlungen und die Anrufung von Gerichten gelöst. Regierungen sind auch außenpolitisch tendenziell eher bereit, Konflikte mit friedlichen Mitteln zu lösen; materielle Gewinne spielen eine größere Rolle als Status. Man schaue sich nur die Staaten an, die uns derzeit beunruhigen: Iran und Nordkorea, Syrien, in gewissem Grad auch Russland und China. Alles keine liberalen Demokratien. Von Frankreich, Japan, Australien oder Brasilien hingegen fühlt sich niemand bedroht.

Liberale Demokratie muss man im übrigen auch niemandem aufzwingen. Wenn Menschen aber die Wahl haben, dann entscheiden sie sich eben nur in den seltensten Fällen dafür, autokratische oder diktatorische Regimes einzusetzen, die die natürlichen und menschlichen Ressourcen des Landes zu eigenen, privaten Zwecken unter Einsatz von Gewalt ausbeuten. Niemand lässt sich eben gerne unterdrücken oder in seiner Entfaltung beschneiden. Deutsche sollten das doch eigentlich wissen. Über Jahrzehnte war Ostdeutschland von einem Gewaltregime beherrscht, das seine Bürger nur durch Androhung von Mord an der Grenze zurückhielt. Als die Gewaltandrohung schwächer wurde, entledigten sich die Bürger ihrer selbsternannten Führung und strebten in die Freiheit namens liberale Staatlichkeit. Dass die Propaganda autokratischer Regimes alles daran setzt, die Attraktivität dieses Modells zu negieren, liegt in der Natur der Sache. Man sollte aber, gerade wenn man selbst im Vollbesitz aller Freiheits- und Entfaltungsrechte ist, dieser Propaganda nicht auf den Leim gehen. Der Wunsch, anständig regiert zu werden, ist universal.

In seiner Nachbarschaft betreibt Deutschland bereits ja auch seit Jahrzehnten eine Politik, die auf der Idee der Ausweitung des Geltungsbereichs liberaler Staatlichkeit gründet. Die schrittweise EU-Erweiterung, von Deutschland mitgetragen und gerade nach Osten hin von Deutschland forciert, war immer an die Bedingung geknüpft, dass Kandidaten das Gesamtpaket liberaler Staatlichkeit und marktwirtschaftlicher Ordnung übernehmen. In einer solchen Nachbarschaft fühlt sich Deutschland sicher und stabil – und es entsteht neue Nachfrage für deutsche Produkte.

Deutschland hat ein generelles Interesse an der Ausweitung der Zone liberaler Staatlichkeit: ökonomisch, friedenspolitisch und im Hinblick auf Menschenrechte. Auch das längerfristige Interesse deutscher Unternehmen ist in freiheitlichen Staaten weitaus besser gesichert als in fragilen, immer von Umsturz und Verwerfungen bedrohten Autokratien; in liberalen Staaten stimmen die Rahmenbedingungen für auf Dauer angelegten Warenverkehr. Und auf längere Sicht sind auch die Menschenrechte nur dann in guten Händen, wenn ihre Einhaltung nicht von der willkürlichen Gnade autokratischer Herrscher abhängt, sondern von einem institutionellen Rahmen, der Grund- und Freiheitsrechte garantiert.

Eine außenpolitische Strategie, die am Ziel der Ausweitung des Geltungsbereichs liberaler Staatlichkeit ausgerichtet ist, würde alle Aspekte der bilateralen Beziehungen immer einem Test unterwerfen: Ist das, was wir tun, eher förderlich oder hinderlich für eine langfristige Wandlung hin zu liberal-demokratisch-marktwirtschaftlicher Staatlichkeit? Stützen wir Kräfte und Strömungen, die einen Wandel stärken oder sind wir Teil der Kräfte der autokratischen Beharrung? Mit wem arbeiten wir zusammen, um die Entwicklung des Landes in die Richtung zu fördern, die diesem übergreifenden Interesse entspricht? Führt Annäherung zum Wandel, oder ist mehr Distanz angebracht? An welchen Stellschrauben können wir drehen, um die Entwicklung in diesem Sinne zu befördern?

Deutsches außenpolitisches Handeln in eine solch umfassende Strategie einzubinden würde sie weitaus effektiver und zielgerichteter machen. Die derzeit dominierende Praxis, in der die Interessen von Unternehmen unter der sichtbaren Oberfläche erheblichen Einfluss auf die Außenpolitik ausüben, balanciert durch ein bisschen menschenrechtliche Rhetorik, mag zwar diejenigen, die den massivsten Druck auf die Regierung ausüben, jeweils in gewissem Grad befriedigen. Sie kann aber kein Ersatz für eine echte Außenpolitik sein, die den Gesamtinteressen des Staates entsprechen sollte.

Ulrich Speck ist außenpolitischer Analyst in Heidelberg.

 

Menschenrechtspolitik ist Realpolitik

Hans-Georg Wieck, einer der erfahrensten deutschen Diplomaten, antwortet in dem folgenden Beitrag auf Eberhard Sandschneider von der DGAP. 

Wieck war von 1954 bis 1993 war er Beamter des Auswärtigen Amtes. Er war u. a. Botschafter im Iran, der UdSSR und Indien sowie Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland im Nordatlantikrat (NATO).

Außerdem war er im Verteidigungsministerium als Leiter des Planungsstabes tätig und leitete von 1985 bis 1990 den Bundesnachrichtendienst (BND).

Nach seinem Ausscheiden aus dem Staatsdienst war er von 1998 bis 2001 Leiter der OSZE-Berater- und Beobachtergruppe in Minsk, Weißrussland.

In seinem am 28. Februar in der „ZEIT“ veröffentlichten Beitrag „Debatte zur deutschen Außenpolitik: Raus aus der Moralecke“ plädiert Eberhard Sandschneider, Direktor des Forschungsinstituts bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, „für eine Außenpolitik auf der Grundlage des Machbaren und nicht der Rechthaberei“. Er führt dann aus, dass „die Zeiten vorbei sind, in denen Weltpolitik den Moral- und Wertvorstellungen des Westens folgte“.

 

Das mag sein, aber für alle Mitglieder der Staatengemeinschaft gilt auch weiterhin das vereinbarte Völkerrecht und gelten die vereinbarten politischen Verträge über politische Beziehungen und gegebenenfalls ihre Inhalte, und zwar unabhängig davon, ob es sich um “Staaten des Westens“, um sogenannte Schwellenländer oder um Länder im Entwicklungsprozess handelt.

 

Für einzelne Regionen sind weitergehende Verträge und Abkommen abgeschlossen worden, z.B. mit dem Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten der NATO und des Warschauer Pakts über Höchstgrenzen der konventionellen Truppen und der Waffen in Europa vom 19. November 1990 und mit der von allen Staats- und Regierungs-Chefs der an der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ mitwirkenden Staate n unterzeichneten „Charta von Paris für ein Neues Europa“ vom 21. November 1990.

In dieser Charta „verpflichten“ sich die Staats- und Regierungs-Chefs, „die Demokratie als die einzige Regierungsform unserer Nationen aufzubauen, zu festigen und zu stärken. In diesem Bestreben werden wir an folgendem festhalten: Menschenrechte und Grundfreiheiten sind allen Menschen von Geburt zu Eigen; sie sind unveräußerlich und werden durch das Recht gewährleistet. Sie zu schützen ist vornehmste Pflicht jeder Regierung. Ihre Achtung ist wesentlicher Schutz gegen staatliche Übermacht. Ihre Einhaltung und uneingeschränkte Ausübung bilden die Grundlage für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden“.

Auf weiteren vierzehn Seiten des Dokuments werden im Einzelnen die von den Teilnehmerstaaten der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa geteilten politischen Werte der demokratisch verfassten Staaten definiert, seien es freie und faire Wahlen, unabhängige Wahlbeobachtung, Pressefreiheit, Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative, vor allem die Unabhängigkeit der Gerichte und eine auf der Initiative und Handlungsfreiheit des Einzelnen beruhende Marktwirtschaft.

 

Nach der Auflösung der Sowjetunion und der Jugoslawischen Föderationen übernahmen die Nachfolgestaaten ausdrücklich die Verpflichtungen aus der Charta von Paris. Jährlich stattfindende Außenministerkonferenzen und in regelmäßigen Abständen vorgesehene Gipfelkonferenzen sollen die Umsetzung der gemeinsam beschlossenen Werteordnung beobachten und gegebenenfalls mit neuen Vereinbarungen ergänzen. Es handelt sich also um eine zwischen den Teilnehmerstaaten der KSZE vereinbarte Werteordnung, die alle beteiligten Staaten bindet – auch heute – die Russische Föderation ebenso wie die EU-Mitgliedstaaten oder Georgien und die Tadschikische Republik.

 

Wer sich um die Beachtung dieser gemeinsamen Werteordnung in den hier genannten Staaten bemüht, treibt „Realpolitik“. Wer sich in dieser Hinsicht davonschleicht oder die Relevanz der gemeinsamen Werte mit griffigen Modewörtern marginalisiert, lässt Zweifel an seiner eigenen Bindung an diese gemeinsamen Werte aufkommen.

 

Auch im Verhältnis zwischen Ländern der atlantischen Zone und Staaten in anderen Teilen der Welt gibt es vertraglich vereinbarte Regeln z.B. eine Vielzahl von global geltenden VN-Konventionen, die beachtet werden müssen, unabhängig von den Unterschieden kultureller und gesellschaftlicher Art, die zwischen den Ländern bestehen.

 

Wir sollten uns nicht mit Modeworten wie „Raus aus der Moralecke“ in den internationalen Beziehungen zu Geldwechslern reduzieren lassen, die nicht nach dem Leumund der Beteiligten fragen.

Mit freundlichen Grüßen, Hans-Georg Wieck

 

Warum ich blogge

Achtung: Pathoswarnung.

Ich bin Journalist geworden, weil ich an das Prinzip der Öffentlichkeit glaube. Es ist zwar nicht erwiesen, dass die Menge weiser ist als der einzelne. Es gibt sogar genug Beispiele, die das Gegenteil plausibel erscheinen lassen. Nicht nur in der Geschichte: Es gibt auch heute immer wieder Hetzmassen, shit storms, Konsensdruck und Einheitsdenken – viele Phänomene, gegen die der mutige, unangepasste Einzelne (der wir oft genug nicht sind) hochgehalten und geschützt werden muss.

Aber ungeachtet dessen ist das Prinzip der Öffentlichkeit ein hoher Wert. Die Rationalität politischer und gesellschaftlicher Entscheidungen hängt daran, dass deren Gründe öffentlich zur Debatte gestellt und die Folgen frei diskutiert werden können. Ohne Öffentlichkeit keine Selbstkorrektur unserer Gesellschaft. Wir bilden uns Kenntnisse über Personen, Verfahren, Institutionen, Motive, Programme, Kosten und Konsequenzen in der Öffentlichkeit (durch die Medien). Wir verständigen uns über Absichten, Mittel und Ziele unseres gemeinsamen Handelns, aber auch und gerade über Divergenzen und Interessengegensätze.

Ich arbeite seit genau 20 Jahren im klassischen Medium der Öffentlichkeit: der Zeitung mit ihren uralten Formen des Leitartikels, des Feuilletons, der Kritik, der Reportage. Ich habe schon mehrere Zeitungskrisen überlebt und bin darum etwas abgebrüht angesichts der jetzigen: Vertriebswege und Formen werden sich ändern, aber die Funktion der freien Öffentlichkeit ist so elementar für jede freiheitliche Gesellschaft, dass mir um den Journalismus nicht bang ist.

Seit fast zehn Jahren tummele ich mich auch in neuen Formen der Öffentlichkeit, dank meinem Arbeitgeber, der es duldet und die Sache finanziert. Über 1.800 Beiträge sind auf diesem Blog veröffentlicht worden, und dazu sind über 170.000 Kommentare erschienen. Bei den Seitenaufrufen liegen wir satt über 4 Millionen, und dabei ist nicht einmal von Anfang an gezählt worden. Es ist eine andere, aufreibende Form von Öffentlichkeit, die ich zu schätzen gelernt habe, auch wenn manches daran gewaltig nervt.

Man wird hier gezwungen, sich viel direkter mit Einsprüchen und Widersprüchen auseinanderzusetzen. Als ich letztens auf einer Reise Kommentare zu einem Blogeintrag las, dachte ich: es ist ein wenig, als ob das deine inneren Stimmen sind. Diese Kommentatoren bringen deine Selbstzweifel zum Ausdruck, und zwar viel krasser, als du es je tun würdest. Ist doch gut so! Manche von denen benutzen dich als punching bag für ihre eigenen Aggressionen. Sie schlagen auf dich ein, um an deinem Exempel ihre eigenen Selbstzweifel niederzukämpfen. Manche scheinen dich regelrecht zu hassen, aber dennoch kommen sie jeden Tag wieder, um sich an dir (oder was sie dafür halten) abzuarbeiten. Eigenartig.

Anonymität ist ein Problem, da sie in unseren Verhältnissen nicht zum Schutz der Meinungsfreiheit vor irgendwelchen Autoritäten (staatlich, familiär, traditionell) nötig ist. (Im Iran, in China, in weiten Teilen der arabischen Welt ist sie natürlich unabdingbar.) Allzu oft wirkt sie als Ermächtigung zur ungehemmten Aggression, zum Heckenschützen-Gepöbel. Aber wir üben ja alle noch mit diesem neuen Medium, ein Comment wird sich herausbilden. Die Exzesse werden verschwinden und uns allen mächtig peinlich sein.

Das Internet ermöglicht starke Selbstselektion. Man sucht und findet nur noch seinesgleichen und klopft sich im Kreis auf die Schulter. Das ist das Problem solcher Blogs wie „Achse des Guten“ und stärker noch „PI“. Linke Pendants gibt es wahrscheinlich, sie fallen mir aber bezeichnender Weise nicht ein. Das Internet ist eher ein „rechtes Medium“, wie mir scheint. Anti-elitär, anti-intellektuell, die Neigung zu selbstselektionierenden Meinungsverstärkung fördernd – nicht so sehr den Zweifel, den Einspruch, das Ausprobieren und Ausloten anderer Gedanken. Das ist ein bisschen schade, denn es gibt ja doch so viel zu entdecken. Sagenhaft, in welche Denk-Welten man da eintauchen kann. Aber vielleicht passiert ja auch gerade das auf diese agonale Weise, die hier in den Kommentarspalten üblich ist.

 

Manchmal muss ich tageweise wegschauen, um mich nicht zuviel aufzuregen und unproduktiv zu werden.  Man ist als Blog-Betreiber sehr exponiert. Fehler, Meinungsumschwünge, Inkonsistenzen werden einem gnadenlos vorgehalten. Ist schon in Ordnung: Es schärft die Selbstwahrnehmung. Man muss sich dann öfter entscheiden, auch gegen den Mainstream bei einer Position zu bleiben. Oder aber einzuräumen, dass man sich getäuscht hat, oder von einem Eindruck aus der Kurve getragen wurde. Lernen auf offener Bühne ist schmerzhaft und greift die natürliche Eitelkeit an, ohne die sich niemand derart exponieren würde.

Das Bild mit den „inneren Stimmen“ ist natürlich eine Frechheit meinerseits. Es soll ja auch nur die Wirkung des Kommentarbereichs auf mich beschreiben. In Wahrheit sind da viele sehr eigene Stimmen dabei, die sich oft auch gar nicht an mich richten, sondern untereinander Streit austragen, der für mich wiederum lehrreich ist. Oft genug gebe ich hier nur den Anlass für eine Konversation ab, die sich dann von mir und dem Blogtext entfernt. Auch das ist ok.

Ich will weiterhin nahezu nichts löschen, niemanden dauerhaft blockieren und ein maximal großes Meinungsspektrum zulassen, bis an den Rand des Justitiablen. Persönlich beleidigende, saudumme oder meine Zeitung (die es möglich macht, dass wir uns treffen) herabsetzende Kommentare lösche ich ohne weitere Begründung. Wir sind hier liberal, aber nicht doof, oder feige.

Und ich möchte die Gäste in diesem Debatten-Partykeller durch solche Eingriffe auch sanft daran erinnern, dass wir hier nicht unter uns sind, sondern dass wir eine neue Form der Öffentlichkeit bauen, Stück um Stück, Post um Post, Kommentar um Kommentar.

Dieses Blog wird viel gelesen – und von vielen Lesern ernst genommen -, was mich überaus freut. In der letzten Woche erst habe ich zwei Mal Post von der VGWort bekommen, aus der hervorging, dass (alte) Texte aus diesem Blog in Schulbüchern (!) bzw. Unterrichtsmaterialien-Heften nachgedruckt worden sind. Cool. Dies auch zur Erinnerung an die lieben Mitblogger: das Imperium liest mit.

Die Erfahrung, die ich mit dem Medium Blog mache, sind in einem Zitat von Margret Boveri, der großen Journalistin, sehr schön aufgehoben. Darum stelle ich es hier ans Ende, auch wenn es etwas pathetisch klingt:

„Ich fühle mich fähig, entgegengesetzte Elemente in mir zu beherbergen und jedem zu seinem Recht zu verhelfen. Der Preis dafür ist, daß ich auf die Frage, ob ich links oder rechts, konservativ, liberal oder revolutionär sei, keine Antwort weiß. Die Koinzidenz der Gegensätze ist mir als eine immer neu zu bewältigende Aufgabe klargeworden. Wenn ich mich zu einer Partei bekennen soll, dann zu der, die nicht das Entweder-Oder, sondern das Sowohl-als-Auch bejaht. Das ist nicht die Bereitschaft zu einer Abfolge von faulen Kompromissen. Es entspringt der Überzeugung, daß wir im Ausharren in der Polarität der Gegensätze die unauflösliche Tragik des menschlichen Lebens erfahren können, die nicht mit gutem Willen und nicht mit dem Verstand aufzulösen ist, in der wir aber, sofern wir sie anerkennen, wenn auch noch so selten einmal den Schlüssel finden mögen, der die Gegensätze bindet und löst.“