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Worum es (mir) in der Beschneidungsdebatte geht

Noch ein paar unsystematische Gedanken zu einer längst nicht abgeschlossenen Debatte:

Wer sich gegen das Verbot eines elementaren Rituals ausspricht, sieht sich dieser Tage leicht als „religiöser Eiferer“ angegriffen, wie ein bekannt und bekennend agnostischer Kollege mir erstaunt erzählte, der das Kölner Urteil in einem Artikel kritisiert hatte. Er hatte noch nie so viele wütende Leserbriefe bekommen.

Vielleicht muss man das noch einmal klarstellen: Das Recht auf die religiös begründete (Vorhaut-)Beschneidung zu verteidigen bedeutet nicht, diese Praxis für „gut“ oder gar „für alle Zeiten bindend“ zu erklären. In meinem persönlichen Fall möchte ich in Anspruch nehmen, dass meine Haltung zu diesem Brauch (würde ich es durchführen lassen, bin ich selber beschnitten – ja, dergleichen wird derzeit gerne erfragt) absolut irrelevant für meine Position ist. Es kommt darauf an, ob man erstens die Sache als schädlich für die Betroffenen betrachtet und ob man anderen Leuten abnimmt, dass es für sie ein wichtiges, unverzichtbares Ritual ist, eine Glaubenspflicht. Erstes ist m.E. nicht der Fall (Komplikationen notwithstanding), zweites ist der Fall, und darum glaube ich, dass die Knabenbeschneidung weiter erlaubt sein soll.

Darf der Gesetzgeber dabei Vorgaben machen? Natürlich. Darf er es verbieten, wie manche fordern: Nein.

Es ist völlig legtitim, ja es ist begrüßenswert, wenn nun Menschen, die sich durch die Beschneidung geschädigt fühlen, das Wort ergreifen. Das gilt für Stimmen wie den hier in Kommentaren bereits zitierten Ali Utlu, der das Ritual als schmerzhafte Demütigung erinnert und von Beeinträchtigungen danach spricht. Und es gilt auch für Eltern – muslimische, aber auch jüdische – die das Ritual als Belastung empfinden und es ihren Söhnen am liebsten ersparen wollen. Necla Kelek hat damit in der muslimischen Community angefangen, ich hatte in meinem ersten Beitrag darauf hingewiesen, und für die jüdische Seite lässt sich auch feststellen, dass es bei nicht-traditionalistisch lebenden jungen Leuten oft Unbehagen gibt und einen Wunsch nach neuen Lösungen. Die Darstellung eines solchen Gewissenskonflikts markiert übrigens das Ende meiner letzten größeren Reportage über Juden in Deutschland.

Was mich nach wie vor, oder sagen wir lieber, jeden Tag mehr, entsetzt ist die Unfähigkeit oder wenigstens der Unwille weiter Teile der Debattierenden, diese beiden Elemente zusammenzudenken: Respekt für Religionsfreiheit UND Offenheit für Bedenken, Änderungswünsche, Klagen. Warum soll das nicht zusammen möglich sein? Es ist, glaube ich, NUR in Kombination machbar. Nur wer sich nicht kriminalisiert fühlt, wird offen debattieren können.

Statt dessen erleben wir Tag für Tag, dass die Beschneidung als „barbarisches Ritual“ in Kommentaren und Leitartikeln vorgeführt wird. Den einsamen Höhepunkt hat für mich Volker Zastrow von der FAS erreicht, der es schaffte, auf subtile Weise Beschneidung in einen Zusammenhang mit Pädophilie und Kindesmißbrauch zu rücken. Dass es das Gleiche sei, sagt er zwar nicht rundheraus, aber dass, wer sich gegen diese Formen „sexueller Gewalt“ wende, eben auch die Beschneidung verbieten müsse, ist die Pointe des Leitartikels.

So sehen sich nun Beschnittene mit einer Kampagne konfrontiert, die sie zu einer neuen Opfergruppe definieren will. Wer nicht einsehen will, dass er traumatisiert ist, wie etwa Hanno Loewy hier in der „Jüdischen Allegemeinen“, für den stehen Kronzeugen der Anklage bereit, die das Gegenteil bezeugen. Wer dann noch verstockt darauf besteht, er sei zufrieden mit seinem in den Augen der Mehrheit verstümmelten Penis, bestätigt damit nur, wie tief das Trauma sitzen muss.

Die Orgasmusfähigkeit ganzer Bevölkerungsgruppen wird in Abrede gestellt, und kaum einer findet das schräg. Ich muss dieser Tage viel an Tisa Farrows unsterblichen Satz in Woody Allens „Manhattan“ denken: „Ich hatte endlich einen Orgasmus, aber mein Doktor sagt, es sei der falsche.“ So geht es heute Juden und Muslimen: Da stehen sie mit ihren unbemützten Schlongs, und der wohlmeinende Doktor beugt sich drüber: Tut uns leid, mag sein, dass ihr mit diesem Ding Orgasmen habt, aber es sind nicht die richtigen. Wir haben euch außerdem im Verdacht, dass eure Selbstbefriedigung abendländisch-christlichen Maßstäben nicht genügt. Und das alles kommt im Ton einer heiligen Mission daher, den semitischen Penis vor dem Messer zu retten. White man’s (rsp. woman’s) burden, neu verstanden.

Politisch interessant ist die Klärung der Fronten im „islamkritischen“ Lager zwischen PI und DADG. Bei PI ist man wütend auf die Juden, die es einem unmöglich machen, auf die Muslime einzudreschen. DADG distanziert sich zunehmend von dem islamophob-antisemitischen Diskurs. Infolge dessen emanzipiert sich die radikaler werdende rechtspopulistische Szene von der „proisraelischen“ Haltung (die ich immer für ein Fake gehalten habe). Wenn die Juden dem Moslembashing im Wege stehen, müssen sie eben auch dran glauben. Für „so etwas“ gibt es hier keinen Platz, das ist die Botschaft.

„So etwas“? Juden und Muslime finden sich durch diese Debatte im selben Boot, in den Augen der Mehrheit zwei Varianten derselben patriarchalisch-„barbarischen“ Wüstenreligion, die einfach nicht sublimieren will und stur weiter das Blut ihrer Söhne vergießt. Bei der Frage des Schächtens wird sich diese Konstellation wiederholen, dann anhand des Leids der Tiere. Interessant zu sehen, was daraus folgt für den Dialog.

Vorerst überwiegt eine tiefe Verunsicherung. Und das auch bei den nicht besonders Frommen, ja sogar bei den am wenigsten Frommen am meisten. Die Frommen wissen ja eh immer schon woran sie sind und beobachten die Mehrheit mit Verdacht. Am meisten getroffen sind aber diesmal viele moderne, moderate, ja sogar areligiöse Juden und Muslime.

Mir geht es auch so. Ich bin fassungslos über die Wut dieser Debatte.

Ich habe keinen Hund in diesem Kampf, wie man so sagt. Ich habe zum Besten an der Religion ein Verhältnis ähnlich dem eines Opernliebhabers, der selber kein Instrument spielt, und doch die Musik verehrt. Das weiß Gott viele Schlechte an der Religion, das oft genug auf diesem Blog Thema ist, wer wollte es leugnen? Darum geht es nicht. Religionsfreiheit ist in unserer Welt eine Frage, die oft genug über Krieg und Frieden, Leben und Tod entscheidet. Sie sollte auch für religiös Unmusikalische etwas Heiliges sein.

Es wäre eine bizarre Pointe, wenn Deutschland seine Lektion aus der eigenen totalitären Geschichte dahin treiben würde, Menschen- und also Kinderrechte derart zu definieren, dass jüdisches und muslimisches Leben hier unmöglich würde. Ist bei der Reeducation etwas schief gegangen?

 

(Korrektur, 28.7.2012: Es war nicht Mia, sondern Tisa Farrows, die in Manhattan den oben zitierten Satz sagt. Danke für die Hinweise darauf. Der eigentlich passende Satz kommt von Woody Allen in der Replik: „Ich hatte nie falsche Orgasmen. Auch die schlechtesten waren Volltreffer.“ JL)

 

 

Olympische Schande: Keine Schweigeminute für die Opfer des Terrors von München

Keine Schweigeminute für die 1972 in München ermordeten israelischen Athleten während der Spiele in London.
Wenigstens ist der deutsche DOSB-Chef Thomas Bach ehrlich:

Im Interview der Deutschen Welle sagte Bach, das Nein zu einem Gedenken bei der Eröffnungsfeier sei auch in der Haltung arabischer Staaten begründet. Ein Boykott der Spiele durch diese Staaten „könnte eine Auswirkung sein nach Ansicht vieler“.

Für „angemessen“ hält Herr Bach hingegen, wenn die Israelis das, wie bisher bereits üblich, unter sich ausmachen:

Er plädiere für eine Gedenkfeier am Rande der Spiele, die allein von israelischer Seite veranstaltet werde.

Auf die Frage hin, wie er mit dem Plädoyer des deutschen Außenministers für eine Gedenkminute bei der Eröffnungsfeier umgehe, antwortet Bach:

Der Sport müsse jedoch, um seine Position wahren zu können, politische Neutralität wahren. Politische Demonstrationen aller Art bei Sportveranstaltungen widersprächen dem Sinn des Sports und wären „im Übrigen auch nicht durchführbar“.

Und das ist nun die Stelle, wo die Sache wirklich infam wird. Ein stilles Totengedenken an die unschuldigen, zweifellos zivilen Opfer eines Terroranschlags ist eine „politische Demonstration“?  Hanebüchen.

War die Tat von München nicht auch ein Anschlag auf die sonst so gern hochgehaltene „olympische Idee“ – Sie wissen schon, friedlicher Wettstreit, Jugend der Welt und so? Hätte das Olympische Komitee also nicht eigene Gründe, mit einer Gedenkminute der Welt zu zeigen, für welche Werte es angeblich doch steht?

Anders gefragt: Würde das Olympische Komitee sich auch einer entsprechenden Bitte der amerikanischen (oder russischen, chinesischen, deutschen) Regierung  verweigern, wenn diese darum bitten würden, eines Anschlages gegen Amerikaner, Russen, Chinesen, Deutsche bei einer Olympiade zu gedenken?

I do not think so. Die Schweigeminute für die Opfer des 11. September bei den Spielen 2002 ist der Beweis für die Heuchelei.

Nein, weil es um Israelis geht, ist die Sache eben „zu politisch“. Niemand erwartet einen Kommentar zum Friedenprozeß, zu den Siedlungen oder zum Gaza-Krieg. Es geht um ein stilles Gedenken, um eine Geste der Menschlichkeit.

Gerade von einem deutschen Funktionär, der also das Land vertritt, das in München versagt hat, ist dieser Kommentar beschämend – allerdings erfrischend zugleich in der Aussage über die befürchteten arabischen Absagen. (Später hat Bach diese offenbar unfreiwillige Ehrlichkeit dann wieder zurücknehmen wollen. Hilft nichts.)

 

The Games must go on? Ohne mich.

 

 

Der Sinn der Beschneidung

Bernard Avishai von der Hebrew University erklärt auf der Website „Open Zion“ den Sinn der Beschneidung:

Most thinking Jews, justifiably, will counter all this physiological speculation (and hyperbole) by insisting that circumcision is not a practical matter at all. Rather, it is a primordial act of covenant, a kind of throwback to sacrifice, actually, which marks the commitment of our children to the Jewish people and its mission. But this begs the question, precisely, of how to understand the covenantal mission and how to engender it. The same Jews believe that the mission unfolds as life and history unfold. Our commitment is to inherited principles, not to inherited genes. The act has to be consistent with, or evoke, enduring principles. What are they?

So we are left with a puzzle. What deeper meaning might be implied by circumcision, so that Jewish parents, generation after generation, swallow hard do it? How does the back of the mind take in the brit mila, so that Jewish sages thought its lessons were indispensible?

Permit a passionate father (and grandfather) to suggest a direction, if not a whole answer. The poet Robert Bly once said, “A man’s wound is his genius.” I think parents who perform circumcision on a tender baby cannot but feel the beginning of an acknowledgement, which will grow over time—something bitter-sweet and wise. It is that our role is not merely to protect our children but to expose them. We are required to introduce them—affectionately, yet at times strictly—to the stings of the world, which are everywhere; these are the real prompts of maturity and autonomy—thus the deepest sources of their happiness. This ritual infliction of pain, like the insistence of broken glass at a wedding, is an act of love, arguably divine love—that is, love of human beings as we truly are, without (dare I say, childish?) illusions.

You don’t have to have a mother like Sophie Portnoy to know that over-protection is the ultimate form of child abuse. Who among us would live our lives over again without the pains that instructed, fashioned and liberated us?

And since this was a German court, however secular, let’s cover another base. Saint Paul said that we ought rather to circumcise the heart. (Actually, Leviticus, and later Jeremiah, suggest the same, arguably without the “rather.”) Well, I have had both circumcisions, of the flesh and heart, and I can report that the latter is far more painful. Human life is calculated to make us lose every person we love, but who lives happier by shielding himself from love?

The part of Paul’s theology I admire most suggests that the divine proved truest by becoming flesh to suffer with us, thus to truly know us. I like to think the divine was first present in my life at the tiny suffering of my circumcised flesh; that God slyly instructed Abraham to circumcise his sons because he wanted to imply what some rabbis have had the wit to add, generation after generation. Before circumcision a man is not whole. Genesis Rabbah states, glossing circumcision: “All that was created during the six days of creation requires improvement. For example, the mustard seed needs to be sweetened and the lupine need to be sweetened, the wheat needs to be ground, and even a person needs improvement.” Indeed, there is nothing so whole as a broken heart.

 

Die Beschneidung der Religionsfreiheit

Wie um alles in der Welt sind wir denn bloß hierhin gekommen? Ein deutsches Landgericht urteilt, dass das Recht des Kindes auf Unversehrtheit über dem Recht der Eltern steht, aus religiösen Gründen die Beschneidung eines Sohnes vornehmen zu lassen – und innerhalb von Wochen ist von einer der „vielleicht schwersten Attacken auf jüdisches Leben in Europa in der Post-Holocaust-Welt“ die Rede – so der Vorsitzende der Europäischen Rabbinerkonferenz Pinchas Goldschmidt.

Dabei war der Fall eines muslimischen Jungen der Anlass für die Rechtssprechung gewesen. Ein Kölner Arzt hatte im November 2010 den vierjährigen Sohn eines aus dem Irak stammenden Paares beschnitten. Es war, wie Yassin Musharbash in der ZEIT dargelegt hat, zu (durchaus üblichen) Nachblutungen gekommen. Die Mutter war dadurch in Panik geraten, hatte in verwirrtem Zustand um Hilfe gerufen und war mit ihrem Sohn in die Notaufnahme gekommen, wo die kaum des deutschen mächtige Frau Angaben machte (oder so verstanden wurde), dass ihr Sohn „in einer Wohnung mit der Schere“ beschnitten worden sei. Es kam zur Anklage gegen den Arzt, die in erster Instanz niedergeschlagen wurde, in zweiter Instanz aber kam es dann zu dem Urteil mit den folgenschweren Sätzen über den Vorrang der Unversehrtheit.

Beschneidung als Körperverletzung: Aus einem Urteil in Sachen eines vierjährigen Muslims ist nun eine „Attacke auf das jüdische Leben“ geworden. Juden und Muslime erklären vereint, sie sähen ihre Religionsfreiheit gefährdet und gar die Zukunft jüdischen beziehungsweise muslimischen Lebens auf Messers Schneide, wenn dieser unpassende Wortwitz hier erlaubt sei. Aus einer Verkettung von Missverständnissen ist ein Kulturkampf geworden.

Ich glaube nicht, dass das Kölner Urteil Auswirkungen auf eine Jahrtausende alte Praxis haben wird, die konstitutiv für die beiden Religionsgemeinschaften ist. Allein die Anmaßung der treibenden Oberstaatsanwältin und des Landgerichts ist freilich atemberaubend. Das heißt eben nicht, dass es unter den Betroffenen keine Diskussion um diese Praxis gibt. Necla Kelek hat in ihrem Buch über türkische Männer eine extrem scharfe Kritik der Beschneidungsrituale in der Türkei formuliert. Ich teile nicht ihre Folgerungen, aber ihr Impuls, eine Debatte über Männlichkeitsriten anzuregen, ist berechtigt. Junge Juden, die nicht fest in der Orthodoxie verhaftet sind, machen es sich oft auch nicht leicht, wenn sie Eltern werden. Allerdings entscheiden sich die meisten doch für die Beschneidung als Zeichen für den Bund, als Zeichen dafür, dass die jüdische Geschichte weitergeht.

Es gibt übrigens eine eigene Tradition von jüdischen Beschneidungswitzen. Einen besonders drastischen von Oliver Polak habe ich schon einmal in der ZEIT zitiert: „Warum sind jüdische Männer beschnitten? Weil eine jüdische Frau nichts anfasst, was nicht mindestens um 20 Prozent reduziert ist.“ Berühmt ist auch folgende Episode aus der Comedy-Serie „Seinfeld„, in der die Bedenken gegen die Beschneidung auf geniale Weise thematisiert werden. (Allerdings wird auch hier das Kind dann eben doch beschnitten.)

Aber eine interne Debatte um das Für und Wider ist das eine. Und eine über Gerichte und Meinungsumfragen geführte Debatte der Mehrheit über die vermeintlich rückständig-barbarische Minderheit ist etwas anderes. In der deutschen Debatte, die durch das Kölner Urteil aufgekommen ist, irritiert der bierernste Ton der Belehrung und der herablassenden Umerziehung der „archaischen Religionen“, die einfach nicht bereit sind, ihre blutigen Rituale weiter symbolisch zu sublimieren. (Manchmal glaube ich einen Nachhall von dem protestantischen Zetern über die unbelehrbaren Katholen zu hören, die an die Wandlung von Wein zu Blut und Brot zu Fleisch glauben.)

Der aufgeklärte Vorbehalt gegen die Juden – und daraus abgeleitet auch gegen die in ihrer Ritualverhaftetheit verwandten Muslime – ist plötzlich wieder da. Wie anders ist zu erklären, dass breite Mehrheiten hierzulande das Kölner Urteil für richtig halten? Unser Recht soll also jüdische und muslimische Jungen vor einer barbarischen Praxis schützen, der sie ihre „verstockten“ Eltern unterwerfen? Wir kriminalisieren einen religiösen Ritus, der konstitutiv für die Zugehörigkeit zu den beiden abrahamitischen Bruderreligionen ist?
Abenteuerlich, und undenkbar in Gesellschaften, die nicht wie unsere derart vom Gespenst der religiös-kulturellen Homogenität heimgesucht werden. Undenkbar in den USA oder Kanada – Ländern, in denen es weit verbreitet war oder ist, Jungen auch ohne religiöse Gründe zu beschneiden. Dort wird diese Praxis zwar inzwischen in Frage gestellt, doch niemand käme auf die Idee, religiös begründete Beschneidungen zu kriminalisieren.
Es ist eine beängstigende Verspießerung unseres öffntlichen Lebens festzustellen, eine Verspießerung im Zeichen selbstgefälliger Pseudoaufgeklärtheit, die religiöses Anderssein unter der Flagge des Kinderschutzes und der Menschenrechte (im Fall Schächten/Halal: Tierschutz) zu erdrücken droht.
Die Rabbiner hätten nicht gleich das H-Wort bemühen müssen, aber im Kern haben sie recht: Wenn sich diese Rechtsauffassung durchsetzt, ist jüdisches (und muslimisches) Leben in Deutschland bedroht. Schon jetzt ist Schaden entstanden: 70 Jahre nach der Schoah wird in Deutschland traditionelles jüdisches (und muslimisches) Leben kriminalisiert, und der Bürger nickt wohlgefällig mit dem Kopf dazu. Als wäre es nicht Aufgabe des Rechts, die Minderheit vor dem Absolutismus der Mehrheit zu schützen.

 

 

Warum nur Muslime den Salafismus besiegen können

Im folgenden dokumentiere ich einen beeindruckenden Beitrag von Ahmad Mansour, seit Herbst 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei dem Projekt „Astiu“ (Auseinandersetzung mit Islamismus und Ultranationalismus) beim „Zentrum demokratische Kultur“.  Voher hat er sich bereits als Gruppenleiter bei dem Projekt „Heroes“ engagiert, das sich gegen „die Unterdrückung im Namen der Ehre und für Gleichberechtigung“ einsetzt.

Ahmad Mansour ist Palästinenser und studierte in Tel Aviv Psychologie, Soziologie und Anthropologie. Seit 8 Jahren lebt er in Berlin und beendete sein Studium 2009 an der HU als Diplom-Psychologe. Mansour ist Mitbegründer des 2010 entstandenen Netzwerkes europäischer liberaler Muslime für Demokratie und Menschenrechte.

Hier sein Aufruf:

 

„Vorab möchte ich etwas klar stellen: Ich bin Muslim, aber Salafisten sind nicht meine Brüder, und ich bin auch kein Teil von irgendeiner imaginären, weltweit unterdrückten muslimischen Gemeinde, der so genannten Umma. Salafismus repräsentiert mich als Individuum und als Menschen nicht. Sie repräsentieren den Islam nicht – nicht wie ich ihn verstehe! Im Gegensatz zu ihnen sind für mich Meinungsfreiheit, Demokratie, Menschenrechte und Toleranz keine Einbahnstraße und kein Instrument, um hierzulande Hass frei zu verbreiten!

 

Es wurde viel über den Salafismus geschrieben und berichtet. Leider habe ich in dieser aktuellen Debatte die muslimischen Stimmen vermisst! Vereine und Verbände erkennen die Gefahren des Salafismus nicht und handeln aus sehr eingeschränkter Sicht. Manche versuchen das Problem zu verharmlosen. Manche stehen sogar mit Salafisten auf einer Bühne – wie der Rat der Muslime in Bonn – während Polizisten angegriffen und schwer verletzt werden und wundern sich, dass es ihnen nicht gelingt, diese Gewalt zu stoppen. Und für manche sind Salafisten Brüder und Schwestern im Islam!

 

Das ist keine Überraschung: Denn Salafismus ist letztendlich nur die Zuspitzung von Inhalten, die für viele muslimischen Vereine, Verbände und Mitbürger Teil ihres Glaubens sind.

 

Auch wenn die salafistische Szene sehr gespalten ist, und auch wenn die so genannten Dschihadisten, die zum bewaffneten Kampf aufrufen und ihn legitimieren, die Minderheit bei den Salafisten ausmacht, bin ich der festen Überzeugung, dass der Salafismus als Ideologie im Widerspruch zu unserem Rechtsstaat steht. Gewalt fängt nicht erst da an, wo Menschen im Namen der Religion auf andere schießen. Für mich sind Polygamie, Geschlechtertrennung, Exklusivitätsanspruch, die Ablehnung der Demokratie und des demokratischen Rechtssystems, sowie der Glaube, Menschen vor ihrem gotteslosen und elenden Leben retten zu müssen, schon eine Form der Gewalt, welcher Einhalt geboten werden muss.

 

Um dem Salafismus Einhalt gebieten zu können, müssen wir die Gründe für die rasante Verbreitung solchen Gedankenguts und der Gewaltexzesse der letzten Wochen verstehen. In den letzten Jahren haben sich immer mehr gewaltbereite und gewaltverherrlichende Menschen dieser Strömung angeschlossen. Der Salafismus bot ihnen eine Bühne, auf der sie ihre Aggressionen politisch und religiös ausleben können. Jene Anhänger, die sich immer gern als Beleidigte und Entrechtete darstellen, haben sich über die Provokation der Pro NRW gefreut. Für sie war dies die große Chance, ihre vom Opferstatus geprägte Weltanschauung zu bestätigen und sich und ihren Anhängern noch einen Grund zu liefern, gegen diese Gesellschaft zu rebellieren.

 

Wir müssen begreifen, wieso das salafistische Gedankengut insbesondere auf manche Jugendliche eine magnetische Anziehungskraft ausübt. Es liegt nicht nur an der gescheiterten Integration, wie manche gerne behaupten, um die Schuld von der eigenen Community weg zu schieben. Wir Muslime müssen vielmehr die Gründe in unseren eigenen Reihen suchen. Der Salafismus hat schließlich nichts Neues erfunden, sondern ein weit verbreitetes Islamverständnis in eine extreme Form gegossen.

 

Ausgrenzung, Entfremdung, die Pflege der Opferrolle, Aufwertung der eigenen Anhänger und Abwertung aller anderen, die Behauptung, die absolute und einzige Wahrheit zu besitzen, das Verbot, Aussagen zu hinterfragen, die Ablehnung neuer zeitgemäßer oder wissenschaftlicher Islaminterpretationen, die Tabuisierung der Sexualität, eine einschüchternde Pädagogik, die die Angst vor der Hölle über alles setzt, der Anspruch, auf alles eine Antwort zu haben und das Leben des Propheten buchstäblich nachahmen zu müssen – das alles sind Aspekte, die bei den Jugendlichen sehr gut ankommen. Der Salafismus bietet ihnen den Schein der Sicherheit durch eine glasklare Unterscheidung zwischen richtig und falsch. Was die Sache schwierig und zugleich dringlich macht: Es geht hier um Aspekte, die auch zentrale Bestandteile des Islamverständnisses eines „Mustafa-Normal-Muslims“ sind. Kontroll-orientierte Erziehungsmethoden, die auf Kollektivität und Respekt vor Autorität abzielen, wirken hier als Verstärker und begründen die Anfälligkeit von Jugendlichen für die Argumentationen der Salafisten. Mit ihren klaren Verhaltensvorgaben geben sie Halt und erleichtern scheinbar das Leben.

 

Um solchem Gedankengut Einhalt zu gebieten, brauchen wir starke und überzeugende islamische Vorbilder, die in der Lage sind, die Debatte über islamische Werte jenseits von Opferrolle und Diskriminierung zu führen. Wir brauchen eine mutige und zeitgemäße Islaminterpretation mit klaren Positionen im Hinblick auf unsere demokratischen Werte und unser Grundgesetz. Wir brauchen eine Islaminterpretation, die kritikfähig und in der Lage ist, einen demokratiefähigen Islam theologisch zu begründen!

Wo sind diese Vorbilder?“

 

 

Was über Günter Grass gesagt werden muss

Sagt dieses Bild, das ich aus anderem Anlass vor fast 6 Jahren schon einmal gezeigt habe:

Und den Rest sagt Frank Schirrmacher in seiner brillanten Analyse des anstößigen Gedichts:

Nein, das ist kein Gedicht über Israel, Iran und den Frieden. Wie könnte es das sein, wo es den iranischen Holocaust-Leugner als „Maulhelden“ in einer Zeile abtut und gleichzeitig doch ausdrücklich nur geschrieben ist, um Israel zur Bedrohung des Weltfriedens zu erklären?

Es ist ein Machwerk des Ressentiments, es ist, wie Nietzsche über das Ressentiment sagte, ein Dokument der „imaginären Rache“ einer sich moralisch lebenslang gekränkt fühlenden Generation. Gern hätte er, dass jetzt die Debatte entsteht, ob man als Deutscher Israel denn kritisieren dürfe. Die Debatte aber müsste darum geführt werden, ob es gerechtfertigt ist, die ganze Welt zum Opfer Israels zu machen, nur damit ein fünfundachtzigjähriger Mann seinen Frieden mit der eigenen Biographie machen kann.

 

Präsident Gauck (und ich)

Vor ziemlich genau einem Jahr habe ich mit Joachim Gauck im SWR über Zivilcourage heute debattiert. Damals war er an der Wahl zum Bundespräsidenten gescheitert. Nun wird es wohl doch noch reichen.

Ich freue mich darüber.

Von vielen wird Gauck unterdessen skeptisch gesehen, weil er Thilo Sarrazin „Mut“ attestiert hat. Ich halte bekanntlich wenig von Sarrazin, aber ich finde es dennoch falsch, Gauck nun abzulehnen, weil er sich mit Sarrazin in dem Punkt identifiziert, dass er gegen den (vermeintlichen) Mainstream Stellung bezieht.

Es wäre ungerecht, Gauck auf diese Äußerung zu reduzieren. In einem ganz wertfreien Sinn hat er schließlich Recht, dass Sarrazin Mut gezeigt hat. (Über Sinn und Unsinn seiner Thesen ist damit noch nichts gesagt.)
Wie dem auch sei, Joachim Gauck ist einer, mit dem man über solche Dinge streiten kann (anders als mit dem Sturkopf Sarrazin, der einfach nicht zuhört.)
Hier kann man sich davon überzeugen (wir waren uns erstaunlicher Weise über einen türkischen jungen Mann aus Kreuzberg völlig einig, den großartigen Aycan Demirel (ab 18:00)):

SWR Debatte Zivilcourage

 

 

Mohammed als Vorbild?

Folgende Anmerkung des Mitbloggerns N. Neumann im vorigen Thread verdient es, nicht im Rauschen unterzugehen:

„Man kann sicher sagen, dass es absurde Züge hat, sich jemanden, der vor 1400 Jahren lebte, zum Vorbild zu nehmen. Wobei das nicht bedeuten muss, dass Intellektuelle, Feldherren und/oder Herrscher aus dem 19. oder 20. Jahrhundert zwingend bessere, oder sagen wir: allgemein sozialverträglichere Vorbilder sind, zumal deren Welt unserer heutigen mehr ähnelt als jener zu Mos Lebzeiten.

Und dann kommt es schon sehr darauf an, ob jemand so etwas wie ‚Du sollst nicht stehlen‘ auf ihn zurückführt und sich daran hält oder ob er dessen Vorbildhaftigkeit so interpretiert, dass er das ganze Jahr in Sandalen sowie Hosen mit Hochwasser herumläuft, sich die Zähne mit irgendeiner Rinde putzt und findet, dass sich der Rest der Menschheit genauso verhalten sollte.

Auch kann es als problematisch gelten, wenn ein Religionsstifter auch Feldherr und Herrscher war. Aber hier kommt es wieder darauf an, ob diese Praxis und wenn ja, was davon, als in die heutige Zeit übertragbar erachtet wird.

Wenn bestimmte ‚Islamkritiker‘ auf diesem Hintergrund nun meinen, dass alltägliche Kriminalität unter Jugendlichen mit ‚islamischem‘ Migrationshintergrund auf diese Person aus der Spätantike zurückzuführen sei oder gläubige Muslime, die den rustikalen Teil von Mohammeds politischer Praxis historisieren, Taqqiya betrieben, dann ist das intellektuell wirklich sehr dürftig. Letzteres ist im Prinzip nichts Anderes als Salafismus unter umgekehrten normativen Vorzeichen.“

 

Die breite Blutspur des Rechtsextremismus

Vor etwas mehr als einem Jahr hat die ZEIT in Zusammenarbeit mit dem Tagesspiegel eine Liste der Opfer rechtsextremistischer und rassistischer Gewalt seit der Wiedervereinigung veröffentlicht. In der Liste, die auf Polizeistatistiken und Zeitungsmeldungen beruht, waren 137 Opfer aufgehzählt. Nun ist die Liste von der Stern-Redaktion „Mut gegen rechte Gewalt“ und der Amadeu Antonio Stiftung aufgrund neuer Recherchen aktualisiert und ergänzt worden – auch um die Opfer des „Zwickauer Trios“. Sie umfasst bisher 182 Ermordete.

Die Bundesregierung erkannte bisher aber nur 47 Opfer als Folge „politisch motivierter Kriminalität“ an.

In einer Pressemitteilung des Bundestages vom 13. Oktober 2011 antwortet die Bundesregierung auf eine Anfrage der LINKEN zum Thema:

„Die Tatsache, dass ein Täter oder Tatverdächtiger aus dem rechten Milieu stammt, reicht aus Sicht der Bundesregierung allein nicht aus, um ein Delikt als rechtsextremistisch motiviert zu bewerten und entsprechend als Fall ‚Politisch motivierte Kriminalität‘ (PMK) zu klassifizieren.“

Hm. Sicher. Wenn der Rechtsextreme einen Versicherungsbetrug begeht, dann ist das nicht notwendiger Weise PMK. (Außer er verwendet das Geld für poltische Zwecke.)

Aber die etwas schnoddrige Kleinrechnerei der Opferzahlen rechtsextremer Gewalt fasst einen dieser Tage merkwürdig an: Irgendwie habe ich das Gefühl, die Aussage der Regierung führt zum Kern des Aufklärungsproblems der Mordserie, die wir gerade debattieren.

Wenn es zu den Überzeugungen des „rechten Milieus“ gehört, dass türkische Einwanderer (oder solche, die man dafür halten könnte) per se kein Lebensrecht haben und es – „Taten statt Worte“- an der Zeit ist, danach zu handeln, ist das dann etwa nicht „politisch motivierte Kriminalität“? Vielleicht nicht im gleichen Sinn wie bei der RAF, die niemals um längliche, wortreiche Rechtfertigungen verlegen war.

Aber es ist hier doch eine politische Einstellung, die Mord und Totschlag rechtfertigt. Dasselbe gilt übrigens für die zahlreichen Taten an Obdachlosen, Sozialhilfeempfängern oder Dunkelhäutigen.
Ich zitiere hier mal ein paar Fälle aus dem Jahr 2000 aus der Liste, nur um die schockierende Breite der Gewaltspur zu dokumentieren:


115. Bernd Schmidt, 52 Jahre, obdachloser Glasdesigner

Er wurde in seiner Baracke in Weißwasser (Sachsen) von zwei 15-jährigen und einem 16-jährigen Jugendlichen über einen Zeitraum von drei Tagen zu Tode geprügelt. Sie wollten 900 DM für ein Moped erpressen, doch Bernd Schmidt konnte diese nicht zahlen. Er starb am 31. Januar 2000 an Hirnblutungen und einer Lungenentzündung, die er sich durch das Einatmen von Blut zugezogen hatte.

116. Helmut Sackers, 60 Jahre

Am 29. April 2000 wurde er von einem Neonazi im Treppenhaus eines Plattenbaus in Halberstadt (Sachsen-Anhalt) erstochen, weil er sich über das laute Abspielen von Nazimusik, unter anderem des Horst-Wessel-Liedes, beschwert und die Polizei verständigt hatte.

117. Dieter Eich, Sozialhilfeempfänger

Am 25. Mai 2000 wurde er von vier rechten Jugendlichen, die „einen Asi klatschen“ wollten, in seiner Wohnung in Berlin-Pankow zusammengeschlagen und erstochen.

118. Falko Lüdtke, 22 Jahre

Er wurde am 31. Mai 2000 in Eberswalde (Brandenburg) von einem Angehörigen der rechten Szene vor ein Taxi gestoßen und überfahren.

119. Alberto Adriano, 39 Jahre (A)
Er wurde am 11. Juni 2000 in der Nähe des Stadtparks in Dessau (Sachsen-Anhalt) von drei rechten Jugendlichen bewusstlos geschlagen und getreten, in den Park geschleift und weiter geschlagen, bis die Polizei kam. Drei Tage später starb er an seinen Verletzungen.

120. Thomas Goretzky, 35 Jahre, Polizist
Am 14. Juni 2000 erschoss der Neonazi Michael Berger in Dortmund und Waltrop (Nordrhein-Westfalen) die drei Polizisten Thomas Goretzky (35 Jahre), Yvonne Hachtkemper (34 Jahre) Matthias Larisch von Woitowitz (35 Jahre) und anschließend sich selbst. Der im Auto sitzende Täter eröffnete während einer Kontrolle plötzlich das Feuer, tötete Goretzky und auf der Flucht Hachtkemper und von Woitowitz. In seiner Wohnung fand die Polizei später weitere Schusswaffen und Mitgliedsausweise der DVU und Republikaner.

121. Yvonne Hachtkemper, 34 Jahre, Polizistin
Am 14. Juni 2000 erschoss der Neonazi Michael Berger in Dortmund und Waltrop (Nordrhein-Westfalen) die drei Polizisten Thomas Goretzky (35 Jahre), Yvonne Hachtkemper (34 Jahre) Matthias Larisch von Woitowitz (35 Jahre) und anschließend sich selbst. Der im Auto sitzende Täter eröffnete während einer Kontrolle plötzlich das Feuer, tötete Goretzky und auf der Flucht Hachtkemper und von Woitowitz. In seiner Wohnung fand die Polizei später weitere Schusswaffen und Mitgliedsausweise der DVU und Republikaner.

122. Matthias Larisch von Woitowitz, 35 Jahre, Polizist

Am 14. Juni 2000 erschoss der Neonazi Michael Berger in Dortmund und Waltrop (Nordrhein-Westfalen) die drei Polizisten Thomas Goretzky (35 Jahre), Yvonne Hachtkemper (34 Jahre) Matthias Larisch von Woitowitz (35 Jahre) und anschließend sich selbst. Der im Auto sitzende Täter eröffnete während einer Kontrolle plötzlich das Feuer, tötete Goretzky und auf der Flucht Hachtkemper und von Woitowitz. In seiner Wohnung fand die Polizei später weitere Schusswaffen und Mitgliedsausweise der DVU und Republikaner.

123. Klaus-Dieter Gerecke, Obdachloser (HM)

Er wurde in der Nacht zum 24. Juni 2000 in Greifswald (Mecklenburg-Vorpommern) von einem der rechten Szene zuzuordnenden 21-jährigen Mann und zwei Frauen zu Tode geprügelt. Eine der Begleiterinnen hatte dem Täter zugerufen: „Da ist der Assi, klatsch ihn tot“.

124. Jürgen Seifert, 52 Jahre, Obdachloser (HM)

Am 9. Juli 2000 wurde er von fünf Rechtsextremisten in einem Abrisshaus in Wismar (Mecklenburg-Vorpommern) mit Schlägen und Tritten so schwer misshandelt, dass er wenig später seinen Verletzungen erlag.

125. Norbert Plath, 51 Jahre, Obdachloser (RT und HM)
(A)
Am 27. Juli 2000 wurde er in Ahlbeck (Mecklenburg-Vorpommern) von vier jungen Rechtsextremisten zu Tode geprügelt, weil sie ihn für „asoziale[n] Dreck“ hielten.

126. Enver Şimşek, 38 Jahre

Am 9. September 2000 wurde Enver Şimşek in Schlüchtern (Hessen) nach aktuellem Kenntnisstand von der terroristischen Neonazivereinigung „“Nationalsozialistischer Untergrund““ an seinem mobilen Blumenstand mit acht Schüssen aus zwei Pistolen angeschossen. Er erlag zwei Tage später an seinen schweren Verletzungen.

 

 

Warum das Jüdische Museum (zu Recht) so erfolgreich ist

In meinem Text für die Jubiläumsausgabe der Zeitschrift des Jüdischen Museums in Berlin habe ich darüber nachgedacht, warum Deutschland das Jüdische Museum braucht, auch wenn die „Gedenkphase“ der deutschen Nachkriegsgeschichte vorbei ist:

Wer nach zehn Jahren Gründe sucht, warum Deutschland ein Jüdisches Museum braucht, muss nicht lange wühlen. Zwei jüngere Debatten haben bewiesen, dass sich hierzulande immer noch vieles nicht von selbst versteht, was die deutsch-jüdische Geschichte betrifft – und das gilt für die rechte wie die linke Seite des politische Spektrums.
Im letzten Herbst hatte der neue Bundespräsident Christian Wulff zum Tag der Deutschen Einheit festgestellt, dass „auch der Islam“ inzwischen zu Deutschland gehöre, so wie „zweifelsfrei“ das Christentum und das Judentum. Eine Banalität, möchte man meinen.
Doch es folgten Wochen heftiger Debatte. Noch nie ist ein Bundespräsident für eine solche Aussage von Vertretern seiner eigenen Partei derart angegriffen worden. Grund dafr war nicht die Aussage über das Judentum, sondern Wulffs lässige rhetorische Geste der Inklusion gegenüber dem Islam.
Und nun passierte etwas Interessantes: In den folgenden Tagen war viel die Rede von der „christlich-jüdischen“ Tradition, auf der „unser Verständnis von Menschenrechten und Aufklärung“ beruhe. Die Muslime hätten dazu nichts beigetragen und könnten darum auch nicht in gleicher Weise „zweifelsfrei“ dazugehören.
Hier wurde ein vermeintliches deutsches christlich-jüdisches Erbe in Anschlag gebracht, um Muslime auszugrenzen. Die Rede von der „christlich-jüdischen Kultur“ war historisch immer fragwürdig. Doch hatte sie nach dem Krieg auch einen guten Sinn. Nie wieder sollten Juden als das nicht integrierbare andere schlechthin definiert werden, wie es jahrhundertlang üblich war. Doch in der Kritik an Wulffs Aussage ging es vor allem um die Markierung einer Differenz zu den Muslimen.
Die Juden rhetorisch zu umarmen, um die Fremdheit des Islams herauszustreichen, ist Geschichtsklitterung. Die kaum versteckte Botschaft an die Muslime kam gleichwohl an: Ihr gehört hier nicht her, ihr habt nichts beizutragen, ihr werdet fremd bleiben.
Gut, dass sich Vertreter des deutschen Judentums sofort gegen dieses Spiel verwehrt haben. Wenn führende Politiker dieses Landes heute so reden, als habe 2000 Jahre lang das schönste christlich-jüdische Werte-Einverständnis geherrscht, als hätten Christen und Juden zusammen in herrlichster Harmonie Toleranz und Aufklärung entwickelt, als hätten erst die einwandernden Muslime die schöne deutsch-jüdische Symbiose zerstört – dann ist eine Mission des Jüdischen Museums offenbar auch nach zehn Jahren nicht erfüllt: die spannungsreiche Geschichte der Juden in deutschen Landen in all ihrer Komplexität, Ambivalenz, Größe und Tragik so zu erzählen, dass sich eine „christlich-jüdische“ Instrumentalisierung gegen andere Minderheiten verbietet.
Kann es sein, dass die Politiker, die heute so leichtfertig mit der Formel umgehen, nie im Museum waren? Oder ist es möglich, dass sich bei ihnen einfach die Phrase von den „2000 Jahren deutsch-jüdischer Geschichte“ festgesetzt hat, mit der das Museum anfangs überall beworben wurde?
Die zweite Debatte, die über den Stand der deutsch-jüdischen Dinge hierzulande erschaudern lassen kann, ist der Antisemitismus-Streit in der Linkspartei. Seit Jahren hat Gregor Gysi versucht, seine Partei zu einem Bekenntnis zum Existenzrecht Israels zu führen. In diesem Frühjahr häuften sich dann die Ereignisse, die auf einen tief sitzenden Antisemitismus bei manchen linken Funktionären – vor allem aus der Westlinken – zu deuten schienen, gipfelnd im Schal der Bundestagsabgeordneten Inge Höger, auf dem der Nahe Osten ohne Israel abgebildet war. Gysis Beschlussvorlage, in der die Linke-Fraktion sich zum Existenzrecht Israels bekennt und bei aller Kritik an Besatzung und Boykott von der Teilnahme an der Gaza-Flotille distanziert, löste wütende Reaktionen bei den „antizionistischen“ Kräften der Partei aus. Weiter„Warum das Jüdische Museum (zu Recht) so erfolgreich ist“