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Erdogan, ein Fluch für Deutschlands Türken

Der türkische Premierminister Erdogan ist ein Unglück für die Türken in Deutschland. Zum wiederholten Mal hat Erdogan einen Deutschlandbesuch für eine seiner nationalpopulistischen Aktionen benutzt. Wieder ging es um die türkische Sprache: Kinder sollen erst Türkisch lernen, dann Deutsch. Wie oft muss man das noch kommentieren? Selbstverständlich ist es wünschenswert, dass Kinder mit türkischen Wurzeln Türkisch lernen. Das Problem der türkischstämmigen Schulversager liegt nicht in der Erstsprache, sondern im schlechten Beherrschen beider Sprachen. Hunderttausende Kinder könnnen weder Türkisch noch Deutsch in ausreichendem Maße sprechen. Aber was soll’s, dazu ist eigentlich längst alles gesagt. Auch hier schon mehrfach.
Erdogan interessiert sich ja auch gar nicht für das Schicksal der Einwanderer und ihrer Kindeskinder. Er führt seine nationalistische Show auf, er spielt mit den Frustrationsgefühlen der deutschen Türken. Es geht um eine Pose, die er für erfolgversprechend hält: Erdogan will den türkischen Wutbürger anzapfen. Warum will er die doppelte Staatsangehörigkeit? Damit er auch in Zukunft weiter Wahlkampf in Deutschland machen kann und sich wichtige Prozente bei den Auslandswählern sichern kann. Daraus kann man übrigens auch ablesen, wie wenig Chancen Erdogan dem EU-Beitritt beimisst – denn unter diesen Auspizien wären Türkischstämmige mit deutschem Pass eigentlich die besseren Vorboten (seht doch, wir sind schon Teil von Euch). Warum redet er gegen die Sprachprüfungen, die mittlerweile vor dem Ehegattennachzug zu absolvieren sind? Erdogan nennt das doch tatsächlich „eine Verletzung der Menschenrechte“. Da wird es nur noch peinlich.
Die Sprachkenntnisse sollen Ehefrauen (und -männer) in die Lage versetzen, ihre Rechte hier besser wahrzunehmen. Die Anforderungen sind sehr gering. Wenn Erdogan mit der Forderung nach minimalen Basiskenntnissen die Menschenwürde verletzt sieht, wirft das auch ein trübes Licht darauf, was er dem eigenen Volk zutraut.
Erdogan degradiert die Deutschtürken bei jedem seiner Besuche zu Untertanen, die ohne die Fürsprache des Kalifen vermeintlich entrechtet, entwürdigt und mißachtet sind. Damit entwertet Erdogan die Leistungen der vielen Einwanderer und ihrer Kinder, die hier ihren Weg gemacht haben und solchen Paternalismus nicht brauchen – ja, deren Erfolg eigentlich darauf beruht, dass sie hier in einer freien Gesellschaft ohne autoritäre Fürsprache auszukommen gelernt haben. Die wachsende neue Elite der Deutschtürken zittert den Erdogan-Besuchen mittlerweile entgegen: Was wird er jetzt wieder Dummes und Peinliches sagen, das wir dann wieder gerade rücken müssen? Hoch erfreut nehme ich zur Kenntnis, dass die Grünen durch den Abgeordneten Mehmet Kilic scharfe Kritik an Erdogan üben. In Deutschland leben viele Aleviten und Kurden, bei denen unvergessen ist, unter welchen Verfolgungen und Einschränkungen diese Gruppen bis heute zu leiden haben, auch wenn sich gerade unter der Regierung Erdogan einiges gebessert hat. Dennoch ist die Lage in der Türkei nicht so, dass Erdogan Grund hat, Deutschland über die Menschenrechte zu belehren.
Es geht auch nicht nur um Eliten und Minderheiten unter den Türken hier: Das Jubiläum der Anwerbung wurde von den Deutschen zum Anlass genommen, endlich auch die rührenden und beeindruckenden, traurigen und erhebenden Geschichten zur Kenntnis zu nehmen, die so viele Familien bei dem Abenteuer Almanya erlebt haben. Ein neuer realistischer Blick auf Deutschlands Türken wurde eingeübt, weitgehend ohne Kitsch und ohne Apokalypse. Von Erdogan sollte man sich das nicht kaputt machen lassen.
Wo er Recht hat: Die Türkei erfüllt die Beitrittsbedingungen zur EU schon heute besser als manches Mitglied, hat Erdogan heute gesagt. Das ist auf die Griechen gemünzt, die unter heutigen Bedingungen keine Chance hätten, aufgenommen zu werden. Die Türkei erlebt einen wirtschaftlichen und politischen Boom. Gerade ihre Größe, in Kombination mit ihren politischen Ambitionen (Neo-Osmanentum, Anti-Israel, Licht der Araber) macht einen Beitritt zu einer prekären Frage, selbst wenn eines Tages die ökonomischen und juristischen Bedingungen erfüllt sein sollten. Am Ende ist es eine politische Entscheidung, ob das Land jemals aufgenommen wird. So wie sich die EU entwickelt, ist das aus intrinsischen Gründen fraglicher denn je geworden. Und Erdogan macht es mit seinem peinlichen nationalistischen Pomp wieder ein Stückchen unwahrscheinlicher.

 

Warum die arabische Demokratie einem Angst und Schrecken einjagen kann

Zwei Ereignisse der letzten Wochen haben mich aufgewühlt: das Massaker an den Kopten in Ägypten, dem zwei Dutzend Menschen zum Opfer fielen, und die wütende Mob-Attacke auf einen tunesischen Fernsehsender, der Marjane Satrapis Film „Persepolis“ ausgestrahlt hatte.

Über die Ereignisse in Ägypten ist viel berichtet worden, ich kann mir die Einzelheiten sparen. Das Staatsfernsehen, obwohl es selbst mit zur Aufstachelung beigetragen hat, machte „äußere Mächte“ mit verantwortlich für die Geschehnisse. Auch manche der jungen Revolutionäre wollte gerne daran glauben, dass es irgendwelche agents provocateurs waren, die die Sache ins Rollen brachten: Salafisten, von den Saudis bezahlt; Mubarak-Anhänger; Agenten des Militärs, das die Revolution in Blut ersticken möchte. Ausschließen läßt sich das alles nicht.
Doch die Frage, die die Ägypter sich stellen müssen, ist: ob die Demokratisierung in ihrem Land, wie im gesamten Nahen Osten, zu einer Herrschaft des Mobs führen wird. Und der Mob geht eben in Krisenzeiten auf Minderheiten los. Die Christen im Irak haben das erfahren, als Saddams Herrschaft beseitigt war. Die Kopten waren schon zum Ende des Mubarak-Regimes ein beliebter Blitzableiter geworden. Nun droht ihre Lage unterträglich zu werden.

Und damit bahnt sich ein fürchterliches Paradox an – dass die Demokratisierung im Nahen Osten das Ende der religiös-kulturellen Viefalt dieser Region bedeuten könnte. Schon die Entkolonialisierung hatte – zusammen mit der Gründung Israels – den Exodus der Juden aus der arabischen und weiteren muslimischen Welt vorangetrieben. Nun droht den Christen, darunter vielen der ältesten Gemeinden überhaupt, das gleiche Schicksal. Auch das steckt dahinter, wenn die syrischen Christen sich hinter Assad stellen: sie fürchten, dass es ihnen in einem Bürgerkrieg an den Kragen gehen wird, weil sich alle darauf einigen können, dass sie die fremdesten Fremden im Lande sind, und dass sie zum Opfer einer ethnischen Säuberung werden könnten.
Der tunesische Vorfall ist ebenso beunruhigend, er wurde in unseren Medien kaum aufgegriffen: der Sender Nessma TV hatte Satrapis „Persepolis“ ausgestrahlt – die im Comic-Stil erzählte autobiografische Geschichte eines jungen Mädchens im Iran (und eines der großen Filmkunstwerke der letzten Jahre). Darin gibt es eine Episode, in der die junge Marjane sich mit Gott unterhält. In vielen tunesischen Moscheen war gegen den Film gehetzt worden, so dass sich in der letzten Woche ein Mob in der Hauptstadt zusammenfand. Salafisten stürmten den Sender und das Haus des Senderchefs. Dessen Haus wurde gar mit Brandsätzen angegriffen.

Die kleine Marjane streitet mit Gott. Screenshot: JL (der ganze Film kann hier auf Deutsch gesehen werden, die bewusste Stelle etwa ab der 20. Minute)

Die Islamisten hatten offenbar verstanden, dass Satrapis Kritik an den Zuständen im Iran auch auf das bezogen werden konnte, was bei ihrer Machtergreifung droht. In gewisser Weise war daher ihre wütende Ablehnung des Films erhellend und verständlich. Dass sich hunderte junger Männer mobilisieren lassen für eine Terrorkampagne gegen die Meinungs- und Pressefreiheit, ist aber erschreckend: Senderchef Karoui hat sich mittlerweile für die Ausstrahlung des Films entschuldigt: eine Schande für das neue Tunesien, obwohl man den Mann weißgott verstehen kann. Die vermeintlich gemäßigten Islamisten der Partei Ennahda haben sich zwar von den gewaltsamen Protesten distanziert und behauptet, sie träten für Meinungsfreiheit ein, aber der Wiener Standard zitiert deren Sprecher: „Wenn das Volk solche Aussagen nicht für richtig hält, dann können sie auch nicht toleriert werden. Man darf nicht religiöse Gefühle verletzen. (…) Sie gehen ja auch nicht mit einem Bayern-Trikot in den gegnerischen Block.“
Wenn das die Vorstellung von Zivilgesellschaft ist – Hooliganblocks, die sich berechtigt fühlen, jeden umzunieten, der „das falsche Trikot“ trägt – dann sehe ich schwarz für Tunesien. Ennahda werden bei den Wahlen am kommenden Wochenende übrigens große Chancen zugerechnet, stärkste Partei zu werden.

 

Der Turban und die Bombe

Im letzten Monat war ich auf einem Podium mit Flemming Rose, dem Redakteur der Jyllands Posten, der seinerzeit die Karikaturen in Auftrag gegeben hatte, die dann einen weltweiten Skandal auslösten. Wir diskutierten beim Berliner Literaturfestival über Blasphemie und Meinungsfreiheit. Ich war der Moderator des Abends. Den Veranstaltern hatte ich geraten, als Muslimvertreter Aiman Mazyek einzuladen. Mazyek kam dann auch, es hätte eine interessante Debatte werden können. Irgendwie hat es nicht funktioniert. Vielleicht war es meine Schuld. Schade, eine verpasste Gelegenheit. Rose und Mazyek waren sich schon einmal in Washington begegnet. Die beiden haben sich durchaus etwas zu sagen.

Wie dem auch sei: Es war gut, Flemming Rose wieder zu sehen. Ich hatte ihn seinerzeit in Kopenhagen getroffen, als ich über die Karikaturen-Affäre recherchierte. Er kann mittlerweile wieder seinem Beruf nachgehen, er ist Auslandschef der JP, er tritt nicht oft auf, Berlin war eine Ausnahme. Zwei sehr breitschulterige Herren begleiteten ihn. Die JP muss viele Millionen für Sicherheit ausgeben, das Gebäude in Kopenhagen hat mehrere Schleusen. Immer wieder gibt es glaubhafte Drohungen. Es ist irre, dass man das in unseren Zeiten für normal hält.

Die Zeichnung, die am meisten Erregung ausgelöst hat, ist bekanntlich die von Kurt Westergaard angefertigte, die einen Mann mit Turban zeigt, in dem Turban eine Bombe. Westergaard selber ist vor gar nicht langer Zeit einem Anschlag knapp entkommen, weil er einen „panic room“ in seinem Haus hat.
Diese Zeichnung war mir vor einigen Wochen wieder eingefallen, als ich über die Ermordung des afghanischen EX-Präsidenten Rabbani las. Der Attentäter hatte die Bombe in seinem Turban zu Rabbani geschmuggelt, der die Friedensgespräche mit den Taliban leitet. Unglaublich, dachte ich, wie von Westergaard gezeichnet! Das ist es, was Westergaard anprangert! Nicht Mohammed als Terroristen, wie immer behauptet wurde: sondern der Mißbrauch der Religion (hier eines Kleidungsstücks, das mit dem Islam identifiziert wird) für den Terrorismus. Warum, dachte ich, regen sich die Muslime nicht über diese reale Entweihung ihrer Religion auf, statt sich über eine Zeichnung zu erregen? (Nun ja, manche tun es. Aber lauter sind die Typen, die Westergaard für das Übel halten und über die realen Turban-Killer schweigen.)
Heute, endlich, fand ich in der New York Times einen Aufsatz, der eben dies tut: die Schande zu reflektieren, die in dem Mißbrauch der Religion, hier des Turbans als Symbols für religiöse Vertrauenswürdigkeit, liegt. Es sei, schreibt die Autorin, als wollte das Leben die Kunst Westergaards nachahmen.
Zitat:

LAST month in Kabul, a man posing as a Taliban peace emissary managed to pass checkpoints, iron gates, and security guards with explosives tucked away in the folds of his turban, on his way to meet former President Burhanuddin Rabbani in his home.

Mr. Rabbani, head of the High Peace Council in Afghanistan, offered his guest a welcoming hug and unsuspectingly triggered the deadly bomb. Similarly, in July, the mayor of Kandahar, Ghulam Haider Hamidi, and a few days earlier, a top religious leader in southern Afghanistan, were assassinated by bombs concealed in turbans. The latter detonated in a mosque.

It is as though life is imitating art and these terrorists are acting out the Danish cartoons that prompted violent, sometimes deadly riots in more than a dozen Islamic countries in 2006. At the heart of the violent fury was an offensive representation of the turban. Some of the 12 controversial cartoons conjoined the turban with the sword, or with its modern counterpart, the bomb. This was identified by Anders Fogh Rasmussen, then the Danish prime minister, as his country’s worst international crisis since World War II.

Gut, dass das einmal ausgesprochen ist. Der nächste Schritt fehlt noch: Flemming Rose ist großes Unrecht geschehen. Er hat Anspruch auf eine Entschuldigung, mindestens ein Wort des Bedauerns. Von wem? Von allen Muslimen, deren moralischer Kompass noch funktioniert, und die beurteilen können, wer den Islam beleidigt: Der Mann, der einen Turban mit Bombe druckt, oder der Mann, der eine Bombe im Turban trägt? Der Artikel in der Times beweist, dass es welche gibt, denen diese Unterscheidung nicht schwer fällt.

 

Der verdiente Untergang der Rechtspopulisten von der „Freiheit“

Bei all der berechtigten Aufregung über eine gewisse Partei (?), die es erstmals ins Berliner Abgeordnetenhaus geschafft hat, sollte man nicht vergessen, wer es nicht geschafft hat: „die Freiheit“ des René Stadtkewitz.

Trotz Wilders, trotz Sarrazin-Hype, trotz 9/11- Auftritt von Stadtkewitz in New York, trotz Unterstützung durch die blonde Bestie aus Limburg und den schweizer SVP-Mann Oskar Freysinger beim „Großen Treffen der europäischen Freiheitskämpfer“ kurz vor der Wahl. Oder vielleicht gerade wegen der Unterstützung des letzteren? War es vielleicht die Anti-Europa-Lyrik des Herrn Freysinger, die dem Berliner Wähler den Rest gegeben hat? Ich zitiere:

Der Euro-Stier stand hoch gereckt,
Die Vorderhufe vorgestreckt,
Begattungsfreudig, fruchtbar stampfend
Und aus den roten Nüstern dampfend,
Im Geifermaul noch ein paar Kräuter,
Im Geiste schon den Griff ans Euter,
So stand das geile Euro-Tier
Und unter seinen Hufen … wir! (…)

Wie dem auch sei: Nicht einmal in Stadtkewitz‘ heimischen Revier Pankow hat er sich merklich über ein Prozent hinaus bewegen können. Damit kann man das Thema Rechtspopulismus in Deutschland (als parteipolitische Kraft) erst einmal begraben. Keine „incertitudes allemandes“ auf dieser Seite.

Deutschland hat eine offene Debatte mitten durch die Parteienwelt hindurch, wo andere Länder rechtspopulistische Parteien haben, die stellvertretend die Themen Einwanderung, Migration, Islam hochziehen. Und das ist besser so. In diesem Sinn: Dank an Herrn Buschkowsky.

Man kann nach diesem Wahlergebnis ein bisschen gelassener mit Phänomenen wie PI umgehen: deren Mobilisierungskraft ist und bleibt marginal. Sie haben vor allem die Funktion von Wutsammelbecken für den anonymen Mob. Man muss das wahrscheinlich beobachten als potenzielles Radikalisierungsmilieu – genau wie die islamistischen Websites. Aber politisch ist nichts zu befürchten.

Ich habe Herrn Stadtkewitz übrigens vor einigen Monaten getroffen. Damals dachten wir in der Redaktion, man sollte mal über die Chancen des deutschen Rechtspopulismus recherchieren (nachdem es hieß, eine „Sarrazin-Partei“ – was auch immer das wäre – könnte 18 Prozent holen). Wir haben den Artikel nie geschrieben, was auch an der Performance von René Stadtkewitz lag. Der Mann lohnte die Aufregung nicht. Allerdings ist er eine verachtenswerte Figur.

Eins ist mir aus dem Gespräch lebhaft in Erinnerung geblieben: Er hatte vor Jahren gegen die geplante Ahmadiyya-Moschee in Pankow agitiert und suggeriert, es handele sich um eine gefährliche Gruppe.

Ich fragte ihn also, ob er nicht wisse, dass die Ahmadiyyas in Pakistan schwerstens verfolgt werden von den wirklich gefährlichen radikalen Islamisten?

Ob er wisse, dass die erste Berliner Moschee von 1924 eine Ahmadiyya-Moschee war?

Ob er nicht wisse, dass die Ahmadiyya-Muslime unpolitisch seien, den Begriff Dschihad seit dem Auftreten ihres Propheten Mirza Ghulam Ahmad ablehnen, in dem übrigens manche Anhänger eine Wiederkehr Jesu manifestiert sehen?

Keine Antwort vom Freiheitskämpfer darauf. Nur glasige Blicke und der Kommentar: Es sei ja hier um einen Stellvertreterkampf gegen die freiheitsfeindliche Ideologie des Islam gegangen. Und da, so die Suggestion, ist dann eh alles erlaubt, und es kommt eben nicht so auf die Feinheiten an.

In Erinnerung an dieses Gespräch freut mich der Untergang der „Freiheit“ ungemein.

 

Für eine Republik der Außenseiter

Für das soeben erschienen Sonderheft des Merkur habe ich eine etwas antyzyklische Liebeserklärung an Amerika verfasst. Derzeit dominieren ja aus vielen guten Gründen die Abgesänge auf die Vereinigten Staaten – innere Zerrissenheit zwischen Tea Party und Obamas Versuchen einer politischen „Zentrierung“ der USA; Aufstieg neuer Mächte und geopolitische Schwächung durch Überdehnung; Niedergang des Modells einer Dienstleistungs- und Outsorcing-Wirtschaft. Alles leider richtig.

Nicht vergessen werden sollte aber, dass es politisch weltweit keine bewährte Alternative zu dem amerikanischen Erbe einer Verfassung der Freiheit gibt (siehe Europas eigene Krise).

Und daher fühlte ich mich veranlasst, Amerika als Republik der Außenseiter zu preisen. Ein Land, dass den Außenseiter als Heilsfigur und Helden der Selbstkritik hervorgebracht hat, das ist etwas Bemerkenswertes in der Geschichte.
Hier ein paar Absätze vom Schluß des Essays:

Thoreau, der Unausstehliche, der die Natur umarmte und die Menschen vor den Kopf stieß, war ein Virtuose der Fernstenliebe. Unfähig zu den alltäglichsten Freundlichkeiten, riskierte er für die Befreiung eines Sklaven seine Freiheit. Er nahm viele Wendungen der Alternativbewegung des folgen- den Jahrhunderts vorweg, vom gesinnungsmäßigen Vegetarismus bis zur Apologie des politischen Terrors des Abolitionisten John Brown. Wer wissen will, was vom Alternativbewusstsein bleibt in einer Welt ohne Alternativen, der muss auch heute noch Thoreau lesen, den Mystiker, die Nervensäge, das moralisch-politische Genie.
Aber in dem archetypischen Außenseiter der amerikanischen Literatur ist auch der Vordenker eines liberalen Individualismus zu entdecken, der er- staunlich aktuell klingt. Die Autorität der Regierung, sagt Thoreau am Ende seiner Rede Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat, bedarf »der Vollmacht und Zustimmung der Regierten. Sie kann nur so weit Recht über meine Person und mein Eigentum haben, als ich es ihr konzediere. Der Fortschritt von einer absoluten zu einer begrenzten Monarchie, von einer begrenzten Monarchie zur Demokratie, ist Fortschritt hin zu wahrer Achtung für das Individuum. Ist die Demokratie, so wie wir sie kennen, die letzte mögliche Verbesserung der Regierungsform? Ist es nicht möglich, einen weiteren Schritt hin zur Anerkennung und Organisation der Menschenrechte zu nehmen? Es wird niemals einen freien und aufgeklärten Staat geben, so lange der Staat das Individuum nicht als eine höhere und unabhängige Macht anerkennt, von der all seine Macht und Autorität abgeleitet sind, und es entsprechend behandelt.«
Thoreau geht am Ende weit über die Begründung des Rechts auf zivilen Ungehorsam hinaus: »Ich mache mir das Vergnügen, mir einen Staat vorzustellen, der es sich leisten kann, zu allen Menschen gerecht zu sein und das Individuum respektvoll als Nachbarn zu behandeln; der es nicht als unvereinbar mit seiner Würde ansähe, wenn einige in Distanz zu ihm lebten, sich weder mit ihm einließen noch von ihm in Anspruch genommen würden, so lange sie die Pflichten von Nachbarn und Mitmenschen erfüllten. Ein Staat, der solche Früchte trüge und sie fallen ließe, sobald sie reif sind, würde den Weg für einen vollkommeneren und ruhmreicheren Staat bahnen, den ich mir auch vorstellen kann, aber noch nirgends gesehen habe.«
Das ist eine liberale Utopie von unerwarteter Seite. Ausgerechnet der Hypermoralist Thoreau schafft ein Gegenbild zum Konzept des Gouvernantenstaats, das in unseren Tagen die politischen Phantasien beflügelt: ein Staat, der die Leute in Ruhe lässt, weil er die individuelle Freiheit als Quelle seiner Legitimität anerkennt − eine Republik der Außenseiter.

Hier der (lange) Text.

 

Die englischen Krawalle als Nachtseite des Liberalismus

Ein außergwöhnlich scharfsinniger Artikel von David Goodhart, dem ehemaligen Herausgeber des linksliberalen „Prospect Magazine“ (bitte ganz lesen):

„These riots happened for one overwhelming reason. The police lost control of the streets on Sunday and suddenly lots of bored kids saw an opportunity to create mayhem with a very low likelihood of being caught.

Law and order, like paper money, is a sort of confidence trick. For a short period its mask (or helmet?) slipped and all those inclined to resent authority, who feel the official world is against them in some way and enjoy the thrill of small scale violence, saw their chance.

(…)

British politics has been dominated in recent years by a combination of economic and social/cultural liberalism. The teeny-bopper looter represents the dark side of that liberalism—the damaged off-spring of a decent and tolerant but also fluid and unstructured society.

This is not to say that “society is to blame” in any silly, leftist way. We may be economically liberal but that has not prevented billions of pounds being spent in recent years on improving schools and infrastructure in the inner city, and billions more on benefits for those unable or unwilling to find decent employment. The recession and spending cuts will not yet have undone all of that.

And the social and cultural liberalism has also brought huge improvements to the inner city over recent decades. The minority communities, which often dominate numerically in the inner city, face far less overt racism, policing has improved and much money and public policy effort goes into trying to increase the upward mobility of the inner city child.

And yet many of the inner city kids have barricaded themselves into an un-political counter-culture of contempt for the mainstream world.  Liberal Britain has had no response.

(…)

The shooting of a young black man, Mark Duggan, in Tottenham gives the original rioting a link to the race politics disturbances of the 80s, and there clearly is still a problem between young blacks and the police with stop-and-search laws.

But by all accounts, relations between the black community and police have vastly improved.  Operation Trident, the police operation to combat the hugely disproportionate gun crime in the black community, was requested by the black community itself.  It is generally regarded as a success.

The London rioters I saw and heard interviewed did complain about the killing of Mark Duggan but their real complaint seemed to be the police’s power to stop them from committing crime! It’s as if they think it’s unfair that they are not as powerful as the police.

(…) It may also signify a garbled account of modern multiculturalism in which all are meant to be have equal power and any departure from that, or indeed any personal setback, is racialized.

People on the left will say that the culture of disaffection is also fanned by the surrounding consumer culture and the „get rich quick“ casino economy. Perhaps they have half a point. But a rapper called JaJa, who said if he was younger he would have been out with the kids, felt closer to the truth when he pronounced that most of them were doing it for fun and to feel powerful – „for fifteen minutes of fame.“

We should neither stigmatize nor sentimentalize black inner city communities We should instead ask clear questions about what can be done about family breakdown and the crisis of authority both in those communities where the problems are particularly acute and in the rest of Britain.

Many black leaders of both left and right have been uncompromising in their denunciation of the rioters. They have not reached for excuses.

David Lammy, the Labour MP for Tottenham, pointed to the fact that more than half of the children in his area are being raised by one parent – but as a part explanation, not as a justification.

Shaun Bailey, the black Tory, says that too many black kids have been raised hearing a lot about their rights but not much about duties and responsibilities. Bailey says it is down to „the community“ to sort itself out.  He is probably right, but it will need the intelligent help of the local and national state and the surrounding society.

(…)

Public policy cannot stop young girls getting pregnant or young men joining gangs. But politics can help to change and challenge attitudes. And it can challenge the culture of disaffection by providing more structure to people’s often chaotic lives.

Liberalism works well for people with the cultural resources and family support to enjoy freedom. But freedom in the inner city can mean purposelessness and unpunished transgression.

So what would more structure mean? Economics still does matter. In retrospect, opening the door to nearly 1 million east Europeans before we had sorted out the training and employment of the inner city hardcore kids was a mistake.

(…)

In the 1980s there were genuine grievances to riot about.  Today there is just a sullen disaffection. These were truly post-political riots, style riots, boredom riots, feel-good riots, look-at-me riots, riots at the end of history.“

 

Die Psychologie der britischen Plünderer

Ein interessanter Artikel von Zoe Williams im Guardian versucht den jungen Leuten auf die Spur zu kommen, die während der Krawalle Sportschuhe und Flachbildschirme klauen:

The first day after London started burning, I spoke to Claire Fox, radical leftwinger and resident of Wood Green. On Sunday morning, apparently, people had been not just looting H&M, but trying things on first. By Monday night, Debenhams in Clapham Junction was empty, and in a cheeky touch, the streets were thronging with people carrying Debenhams bags. Four hours before, I had still thought this was just a north London thing. Fox said the riots seemed nihilistic, they didn’t seem to be politically motivated, nor did they have any sense of community or social solidarity. This was inarguable. As one brave woman in Hackney put it: „We’re not all gathering together for a cause, we’re running down Foot Locker.“

I think it’s just about possible that you could see your actions refashioned into a noble cause if you were stealing the staples: bread, milk. But it can’t be done while you’re nicking trainers, let alone laptops. In Clapham Junction, the only shop left untouched was Waterstone’s, and the looters of Boots had, unaccountably, stolen a load of Imodium. So this kept Twitter alive all night with tweets about how uneducated these people must be and the condition of their digestive systems. While that palled after a bit, it remains the case that these are shopping riots, characterised by their consumer choices: that’s the bit we’ve never seen before. A violent act by the authorities, triggering a howl of protest – that bit is as old as time. But crowds moving from shopping centre to shopping centre? Actively trying to avoid a confrontation with police, trying to get in and out of JD Sports before the „feds“ arrive? That bit is new.

By 5pm on Monday, as I was listening to the brave manager of the Lewisham McDonald’s describing, incredulously, how he had just seen the windows stoved in, and he didn’t think they’d be able to open the next day, I wasn’t convinced by nihilism as a reading: how can you cease to believe in law and order, a moral universe, co-operation, the purpose of existence, and yet still believe in sportswear? How can you despise culture but still want the flatscreen TV from the bookies? Alex Hiller, a marketing and consumer expert at Nottingham Business School, points out that there is no conflict between anomie and consumption: „If you look at Baudrillard and other people writing in sociology about consumption, it’s a falsification of social life. Adverts promote a fantasy land. Consumerism relies upon people feeling disconnected from the world.“

The type of goods being looted seems peculiarly relevant: if they were going for bare necessities, I think one might incline towards sympathy. I could be wrong, but I don’t get the impression that we’re looking at people who are hungry. If they were going for more outlandish luxury, hitting Tiffany’s and Gucci, they might seem more political, and thereby more respectable. Their achilles heel was in going for things they demonstrably want.

 

Wer an den britischen Riots schuld ist

Katharine Birbalsingh sagt in ihrem Blog alles Nötige über die Riots und die Verantwortung der Täter (und ihrer Eltern):

Many of these mindless thugs involved in the riots don’t think more than 10 minutes into the future. They think that stealing trainers is ‘fun’, not even considering that it might be wrong. Many of them are, quite literally, unable to read and write: 17 percent of 15-year-olds are functionally illiterate. If you de-educate an entire generation, if you constantly make excuses for their behaviour, if you never teach them the difference between right and wrong, then chaos is what you reap. These young people are just implementing what they’ve learnt at school!

Teachers can only keep the peace in the classroom because they have established authority. Where there is order in classrooms, children show respect because they have been taught to respect teachers. ONE teacher can therefore command the respect of hundreds of children. It is the same with the police and order in society. The police cannot hope to outnumber the rioters. As a civilised society, we rely on a sense of morality in our people to keep the order. How did the Japanese survive their recent nuclear disaster? They queued quietly for food and help, and waited. They didn’t say ‘ME ME ME’! Do young people wear hoodies in Japan? Do Japanese children question their teacher’s authority? Do Japanese adults defend the appalling behaviour of their youth? NO.

We are an international disgrace. What would happen if the teacher left her classroom and said that she was ‘keeping a close eye on things from her holiday home’? Theresa May, Home Secretary, was the only one of our leaders, whether Conservative or Labour, who returned from holiday immediately when Tottenham exploded. Where were all of our leaders? If even our politicians refuse to take responsibility for their ‘classrooms’, then how can we expect the children to remain in their chairs?

Ken Livingstone blames everything from Thatcher to the Conservatives to lack of youth clubs. Darcus Howe is comparing our riots to Syria’s! I look on in horror at our BBC reporters, as well as ordinary people being interviewed on TV, as they all chant the usual mantra without even thinking: cuts, cuts, cuts. A man whose shop had been looted met Nick Clegg on the street, clearly distressed, and rather than blame the looters, he attacked the Deputy Prime Minister over the cuts. What is wrong with everyone? Have we been brainwashed by aliens?

Even the sensible people (and there have been a few) refuse to denounce ALL of the violence. Brixton, Croydon, Birmingham are bad, but Tottenham somehow was ‘understandable’. Come again? You mean sometimes looting and violence are acceptable? Apparently, the Tottenham riots are understandable because the police shot Mark Duggan (father of four, according to the Guardian). Do we really think that the police went out and killed a random innocent man? Or rather, as the local residents say, was he not a ‘major player’ in the Tottenham criminal underworld? They say he ‘lived by the gun’, and caused ‘grief’ to local people. Some say he was a crack cocaine dealer. His fiancée says he was determined not to go back to jail (so he has been in jail) and he has a child with her and another woman. She also has another 2 children from another man. Yet what do Mark Duggan’s parents say? That he was a good father and a respected member of the local community. How can someone with that reputation be considered a respected member of the local community?

Was Mark Duggan a good father? Who knows! Certainly, Jens Breivik, father of the Norway bomber, was absent during his son’s childhood. He refused to see his 16-year-old son because he ‘wasn’t ready’ (whatever that means). Jens Breivik, rather than feeling remorse for having failed as a father, was only interested in his own reputation when the appalling Norway killings took place. But when I criticised him, I was shot down by ordinary readers of this blog. How dare I criticise parents when I am not a parent myself! White readers say that they are unable to speak about black absent fathers because they’re white. Fine. But is Jens Breivik black? Yet no one was willing to be critical of his questionable parenting. Parents teach their children the difference between right and wrong. If they are absent, then the child grows up without a moral compass.

These criminals are responsible for their behaviour but so are their parents who sit at home, knowing their children are out there, looking forward to the goodies their children will bring home. I am so angry, so ashamed, so utterly dismayed. The vast majority of these criminals are black. No one will say it. I hang my head in shame, both as a black person and as a teacher. I naively thought if I could tell people what was happening in our schools that we would change things. I wrote a book, thinking that this would stop the liberals from the excuse-making. But instead, I was told I had made it all up. Our great capital city is on fire and even this isn’t enough to convince people that the excuse-making must stop!

What does the Socialist Workers Party say? “These riots are a bitter reaction to racist policing and a Tory Government destroying people’s lives.” It beggars belief. Our reaction to these riots is the greatest worry. What will defeat us is not the rioters. Scary as they are, they are a minority of yobs. What will defeat us is the power of bad ideas. Given our refusal to change, the worst is yet to come.

 

Die britischen Krawalle müssen gestoppt werden

Juan Cole schreibt zu den unfaßlichen Attacken des Mobs in London (und mittlerweile auch in anderen britischen Städten);

The unfortunate riots in Tottenham in London tell us a great deal about the problems of immigrant communities, and what they say to us most eloquently is that people want to be treated with justice. They want to be treated in accordance with a rule of law, and not singled out for extra policing on the basis of racial profiling. The demonstrations were set off by the police shooting of an African-Carribean man, and came in part in protest against the constant pat-downs to which African-Caribbeans are subjected by police.

Aha, es ist also eine Art progressive Gewalt am Werk? Die Leute, die plündernd und brandschatzend durch die Viertel ziehen, wollen einfach nur „gerecht behandelt werden“? Eine gerechte Behandlung für dieses Mobverhalten wäre meines Erachtens eine saftige Gefängnisstrafe. Aber die Polizei mußte teilweise die Viertel aufgeben, weil sie in viel zu geringer Zahl aufgestellt war. Schon diese Tatsache spricht der Cole’schen Deutung Hohn.

Cole demonstriert hier auf deprimierende Weise den Bankrott linken Denkens über öffentliche Sicherheit. Die Sicherheit des öffentlichen Raums sollte eigentlich eine Priorität gerade linker Politik sein, denn die ärmsten Bürger sind auf diesen öffentlichen Raum angewiesen, weil sie sich nicht in „gated communities“ zurückziehen können. Es ist bizarr, die Krawalle auf die Ungleichbehandlung schwarzer Jugendlicher zurückzuführen. Selbst der linke Guardian schreibt heute in seinem Leitartikel, dass die Polizei in den letzten Jahrzehnten ihren Auftritt in den Problemvierteln verändert hat:

„that there have been major changes, almost all of them for the better, in the policing of London and of black communities, in the years since Scarman. Police training, behaviour, leadership, methods and accountability have all been qualitatively improved. Tottenham is also an improved place in countless ways.“

Es sind vor allem die Bewohner der ärmeren Viertel, die zu den Geschädigten gehören, die kleinen Geschäftsleute, die sich dort ein Leben aufgebaut haben mit ihrer eigenen Hände Arbeit. Genau wie bei den Berliner Mai-Krawallen ist es die Lust an der Gewalt, die sich notdürftig politisch kostümiert. Nützliche Idioten wie Juan Cole leisten dieser Barbarei Vorschub, wenn sie sie als Aufstand gegen Ungerechtigkeit adeln. Ist die Gewalt des Mobs besser als der Terror rechter Kameradschaften, die durch Einwandererviertel marschieren? Nein, es ist nur eine andere Form von „outburst of resentment“, wie der Guardian trefflich formuliert. Eine zivilisierte Gesellschaft – und gerade eine auf Diversität bauende wie in unseren westlichen Einwanderungsländern – muß dem Mob in jeder Ausprägung mit Härte und Entschlossenheit entgegentreten.

 

Was am deutschen Pazifismus faul ist

Karl Heinz Bohrer, der Herausgeber des Merkur, ist im neuen Heft in großer Form. In seinem Essay analysiert er „den GAU der deutschen Außenpolitik“:

„Und wenn man nach der Libyen-Entscheidung mit jüngeren, durchaus informierten und intelligenten Berliner Diplomaten sprach, bekam man bei solchen, die die Reaktion ihres Ministers nicht unbedingt unterstützen, den Eindruck, dass sie weit entfernt davon sind, den Tatbestand einer Isolation und die Gründe dafür wirklich ernst zu nehmen. Es wird höchstens im Jargon eines diplomatietechnischen Für undWider erörtert, ob man nicht am Ende recht behalte. Die Rückschläge der westlichen Koalition über Libyen wurden mit einer gewissen Schadenfreude kommentiert. Und was Syrien betrifft, lagen die beflissenen Erklärungen des Außenministers abermals dicht an der Peinlichkeit, einerseits offene Türen einzurennen, andererseits gar nichts Substantielles sagen zu können. Offenbar ist von den deutschen Akteuren verdrängt worden, was einigen kritischen Beobachtern sofort auffiel: Dass eine Art GAU die deutsche Außenpolitik befallen hatte, seit sie sich mit Russland, Indien und China in einem Boot wohlfühlte.
Allein schon die einschlägigen Rechthabereien, während das Kind längst im Brunnen lag, belegen das Urteil, dass eine erstaunliche Weltunerfahrenheit die Ursache des Dilemmas ist. Die Sache wird aber erst richtig brenzlig, wenn man zu dieser Einschätzung hinzufügt, dass eine Mehrheit der Deutschen aus allen Schichten sich der eingangs erwähnten Begründung solcher Distanz zu denWeltläuften, nämlich keine wirkliche koloniale Erfahrung zu haben, sogar rühmen würde.
Was drückt sich darin aus? Abgesehen von einer kurzen Periode vor dem Ersten Weltkrieg gab es keine deutschen kolonialen Aspirationen, weil es keinen deutschen Staat gab, der solche Art Machtinteresse hätte artikulieren können. Als er es schließlich für eine kurze Zeit vor allem in Afrika tat, geriet dieses Machtinteresse nicht zufällig zu einer moralischen und zivilisatorischen Katastrophe. Unerfahren in Machtausübung, stattdessen von einem einzigartigen provinziellen Rassedünkel geprägt,  veranstalteten Kolonialmilitärs wie der Generalleutnant Lothar von Trotha ein Massaker unter den aufständischen Hereros. Trotz der Proteste deutscher Parlamentarier ist diese düstere Affäre im Nachhinein aber auf das Konto europäischer Kolonialherrschaft überhaupt überschrieben worden, statt die spezifisch deutsche, in mangelnder Machterfahrung kombiniert mit Rasseidentität begründete Ursache zu erkennen.
In falscher Übertragung wurde die Kolonialherrschaft, vor allem die der Briten, vorpolitisch-moralisch, also zivilisatorisch-historisch negativ bewertet. Mehr noch: Machtausübung als solche wurde sehr bald einem abstrakten Moralismus, einem Reinlichkeitsprinzip unterworfen, das dann behauptete »Sie sagen Gott und meinen Kattun« − eine Rede, die heute in deutschen Urteilen über das angelsächsische Engagement im Nahen Osten nachklingt.“

„Die Entpolitisierung der Machtidee und ihre Existentialisierung, die sich damit äußerte, waren schon die Folge mangelnder Macht und mangelnder Machterfahrung, was sich in der Politik derNazis, die samt und sonders, verglichen mit britischen oder amerikanischen Politikern, keinerlei Welt- und Machterfahrung besaßen, dann nicht zufälligerweise zuspitzte.
Diese Vorgeschichte der aktuellen Enthaltsamkeit muss man im Auge haben, wenn man ihren apolitischen Moralismus richtig benennen will. Dann ergeben sich zwei unerquickliche Einsichten.
Erstens: der radikale Pazifismus. Er charakterisiert noch immer die deutsche Mehrheit, aber auch die Intellektuellen dieses Landes, und dieser Pazifismus ist nichts anderes als das Pendant des ehemaligen Militarismus. Das fast konform zu nennende Verhalten vieler Intellektueller in Universität und Feuilleton in dieser Frage wird auch nicht besser dadurch, dass französische Intellektuelle in eitlen Selbstdarstellungen zum Pro und Contra des Krieges sich lächerlich machten. Der  deutsche Militarismus entsprang einem absoluten, nicht erfahrungsgesättigten Prinzip. Darin unterschieden von der kriegerischen Haltung der Briten, die ihre Interessenmit der Waffe durchsetzten, ohne deshalb militaristisch zu werden. Insofern ist auch das Argument, man habe aus der Vergangenheit gelernt, das im Diktum des beliebtesten deutschen Außenministers mündete, kein Krieg dürfe mehr von deutschem Boden ausgehen, eine pathetische, nichtssagende Erklärung. Sie wurde deshalb auch nie von den westalliierten Partnern wirklich ernst genommen, sogar eher verächtlich behandelt.
Der springende Punkt ist ja: Wie einleuchtend kann es sein, wenn jemand, der zweimal ein Haus anzündete, beim Brennen eines weiteren Hauses erklärt, er würde nicht beim Löschen helfen, weil er nie mehr wieder mit Feuer zu tun haben wolle? Jedenfalls nimmt sich der erst jetzt zögernd revidierte deutsche Grundsatz, jenseits der eigenen Grenzen militärisch eigentlich nicht aktiv werden zu können, genauso aus: Derjenige, der zwei Weltkriege anzettelte, überlässt in Zukunft das Kriegführen den anderen. Eine solche Position wird auch nicht besser, wenn den jeweiligen Kriegführenden bei ihren Aktionen schwere militärische und politische Fehler unterlaufen. Sich darauf zu berufen, macht die Enthaltung noch peinlicher. Etwas anderes wäre nämlich eine klarere, selbstbewusstere Begründung der deutschen Abstinenz, bei der die verheerende militärische Geschichte des Landes im letzten Jahrhundert offen zur Sprache käme und die ihr folgende pazifistische Haltung der deutschen Öffentlichkeit. Dem könnte man einen gewissen Respekt zollen.“