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Wie der Euro Deutschland rettet

Interessanter Artikel von Steven Rattner in Foreign Affairs. Rattner, ein Investmentbanker, war an der Rettungsaktion für die amerikanische Autoindustrie in der Krise beteiligt. Er schreibt über die Lektionen, die das neue deutsche Wirtschaftswunder für die USA bereithält.

Schröders Agenda kommt sehr gut weg durch die Kombination von Sozialreformen und Industriepolitik. Und danach wird die Kurzarbeiterregelung zur Nachahmung empfohlen, weil sie, anders als das hire and fire die kompetente Arbeiterschaft im Unternehmen hält und die sozialen Kosten der Arbeitslosigkeit minimiert. Deutschlands Mittelstand, der sich auf qualifizierte Produkte spezialisiert hat, statt den Wettbewerb über die Lohnkosten zu suchen und alles zu outsourcen, wird ebenfalls sehr gelobt.

Und dann kommt eine Passage, die gewisse schmutzige Wahrheiten über den Vorteil des Euros für die Deutschen ausspricht, die unsere Politiker leider nicht anzusprechen wagen:

Meanwhile, the introduction of the euro in 1999 quietly brought Germany another advantage: it fused the country to others whose competitiveness, as measured by the cost of each unit of labor, had stagnated, particularly Greece, Ireland, Italy, Portugal, and Spain, but also France. Meanwhile, since 1999, Germany’s competitiveness has increased by nearly 20 percent. Germany wins more business worldwide when it competes against other eurozone countries to sell its exports, and it even outperforms them in their home markets. About 80 percent of Germany’s trade surplus comes from its trade with the rest of the European Union.

The eurozone’s weak economic performance and the simmering sovereign debt crises in several peripheral eurozone countries have kept the value of the euro well below what the deutsche mark would be worth today if it still existed. (According to some estimates, if Germany abandoned the euro, its currency would immediately appreciate by 30 to 40 percent.) This gives Germany an enormous competitive trade advantage over countries with their own, more expensive currencies, such as the United Kingdom and the United States. The economic stimulus from the undervaluation of the euro has been so powerful that the biggest economic worry in Germany today is that the economy will overheat and trigger inflation.

Das ist die Wahrheit über die Eurokrise und die Deutschen. Der Focus auf Griechenlands Steuermoral und Rentenniveau lenkt nur ab von der Grundwahrheit, dass der Euro ein wesentlicher Faktor des deutschen Wirtschaftswunders II ist und deshalb aus schierem Eigeninteressse unbedingt gerettet werden muss.

 

Deutschsein kann man lernen

Meine wärmste Leseempfehlung für das neue Buch von Zafer Şenocak (aus der ZEIT von morgen):

Ein verblüffendes Buch. Poetisch, grübelnd und doch hochpolitisch. Deutschsein ist ein Beitrag zur leidigen »Integrationsdebatte« – erstaunlicherweise in der Form einer Liebeserklärung. Hier will einer wissen, warum »ein attraktives Land sich hässlich macht«.
Selten hat ein Autor in jüngerer Zeit so warmherzig über die Deutschen geschrieben wie der Dichter Zafer Şenocak, der mit acht Jahren aus Istanbul nach Oberbayern kam, in München aufwuchs und seit zwei Jahrzehnten Berliner ist. Er erzählt von seiner »Geborgenheit« als Kind in Bayern, von der Liebe zur Sprache Thomas Manns, Ingeborg Bachmanns und Paul Celans. Er nennt es ein »Privileg«, in Deutschland zu leben.
Dies Buch handelt also von der Liebe des Einwanderers zu seinem Deutschland, die heute oft nicht erwidert wird. Şenocak bringt den Blick derjenigen zur Sprache, über die heute in unseren Debatten viel geredet wird: die Türken, die Muslime als das andere schlechthin. Er fragt sich besorgt, was mit den Deutschen los ist, zu deren Selbstverständigung diese Debatten ja dienen sollen. Es gibt nicht einen einzigen schiefen, selbstgerechten, vorwurfsvollen Ton in diesem Buch. Im gegenwärtigen Meinungsklima wirkt das befreiend.
Schon Urgroßvater Şenocak trug den Werther neben dem Koran im Tornister, als er fürs Osmanische Reich in den Ersten Weltkrieg zog. Und der Vater kam als frommer, doch moderner Türke, der von preußischen Tugenden besessen war, nach Deutschland. Die Mutter war eine begeisterte Lehrerin, die von Atatürks Reformen profitierte. Der Westen war kein Feindbild. Im Gegenteil, seine universalen Werte öffneten den Weg aus der Entmündigung durch die Tra­di­tion. Die Modernisierungsgeschichten dieser Menschen, die unser Land mit geprägt haben, kommen in Deutschlands Selbstbild bisher nicht vor. Ebenso wenig wie diejenigen, die heute unter den Bedingungen der Freiheit des Westens einen neuen Aufbruch in die islamische Spiritualität versuchen. Eine grobschlächtige »Islamkritik« stellt sie unter Verdacht. Wer aber Frauen im Namen der Religion unterdrücke, stelle sich nicht nur außerhalb westlicher Werte, sondern auch der türkischen Modernisierungsgeschichte, sagt Şenocak.
Die stärksten Passagen seines Buches handeln von den Schwierigkeiten der Einheimischen mit dem Deutschsein. Mit großem Einfühlungsvermögen schreibt er von der »speziellen Brüchigkeit und Verletzlichkeit der deutschen Identität«. Er vermutet, dass die Deutschen in letzter Zeit auch deshalb so viel vom Fremden und von seiner fremden Kultur und Religion reden, weil sie selbst nur in »gebrochenem Deutsch« übers Deutschsein reden könnten. Als Einwandererkind habe er erlebt, dass die Deutschen »auch heimatlos waren in diesen Aufbaujahren der Bundesrepublik«.
Ihre schöne Sprache sei mit Schuld beladen gewesen: die stärksten Wörter »außer Atem oder gar in Leichentüchern« – wie Heil, Blut, Volk. Heute trifft eine gehemmte Sehnsucht nach Heimat und Zugehörigkeit bei den Einheimischen auf die Modernisierungskrise der eingewanderten Muslime. Integration würde bedeuten, dass beide Seiten ihren Anteil an der Krise des deutschen Nationalgefühls er­kennen.
Was heißt es eigentlich, dass Deutschland Einwanderungsland geworden ist? »Es bedeutet, dass auch die Deutschen in ihr eigenes Land einwandern müssen.«

„Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift“. edition Körber Stiftung, 190 Seiten, 16 €.

 

Gegen die islamische Rechte

Mona Eltahawy ist meine Heldin der letzten Wochen. Niemand hat so eloquent und leidenschaftlich wie sie erklärt, wo die Chancen der arabischen Revolutionen liegen. Und niemand ist so klar wie sie darin, die Gefahren zu betonen, die von der „islamischen Rechten“ für jede Erneuerung ausgehen. Hier verweist sie Tariq Ramadan in seine Schranken. Chapeau:

 

Der Islam, liebstes Feindbild?

Am Wochenende auf einem Podium beim taz-medienkongress. Wie so oft ist es nachher nicht so leicht zu rekonstruieren, was man selbst gesagt hat. Das Thema war „Der Islam, mein liebstes Feindbild“. Auf dem Podium Hamed Abdel-Samad, Patrick Bahners (FAZ), Isabel Schayani (Monitor), Daniel Bax (taz). Moderiert wurde die Sache von Jan Feddersen (taz). Ein paar hundert Menschen füllten den großen Saal im „Haus der Kulturen der Welt“.

Unvermeidlich war es, dass diese Debatte so etwas wie eine Zwischenbilanz der Sarrazin-Diskussion versuchte. Abdel-Samad fand den Focus auf Sarrazin übertrieben; Patrick Bahners wunderte sich über manche bürgerliche Leser, die sowohl die Verteidigung des S. wie auch von Guttenberg und der Atomkraft verlangten (eine eigenartige Kombination, die sich mit Bahners Konzept von bürgerlich-liberalkonservativen Werten nicht verträgt); Isabel Schayani warnte bei allem Ärger über S. vor einer Verengung der Debatte auf die für den Mainstream genehmen Autoren; Daniel Bax zeigte sich alarmiert von der Akzeptanz für radikale Positionen in der bürgerlichen Mitte, die vor Jahren noch ausgegrenzt worden wären.

Ich habe versucht, auf dem Podium Positionen zu vertreten, nach denen auch dieser Blog hier funktioniert (wenn er denn funktioniert):

Polarisierung ist besser als Gleichgültigkeit (wenn sie nicht in Hass und Diffamierung ausschert).

Die deutsche Islamdebatte darf sich nicht harmloser machen als der innerislamische Streit um den rechten Weg in die Moderne. Keine Sprechverbote über Islamismus, mangelnde Geschlechtergerechtigkeit und andere Hemmnisse explizit theologischer Art für die Akkomodation des Islams im Heute.

Deutschland hat eine Debatte statt einer rechtspopulistischen Partei (so lange die Debatte nicht völlig desintegrierend wirkt – allerdings keine geringe Gefahr). (Mir ist’s lieber so, Abdel-Samad hätte lieber eine explizite Partei, damit diese sich entzaubern kann.)

Die Islamisierung des Diskurses über Integration muss zurückgefahren werden. Wir müssen wieder stärker unterscheiden zwischen religiösen, sozialen, bildungspolitischen, ökonomischen und sonstigen Problemen.

Die Mehrheitsgesellschaft darf ihre Identitätsdebatte (das ist die wichtigste Nebenfunktion des Islamkritikdiskurses) nicht auf Kosten einer religiösen Minderheit führen.

In zwei Punkten schien es mir einen Konsens auf dem Podium zu geben:

Unter allgemeinem Nicken sagte Abdel-Samad, dass „für eine größere soziale Mobilität in Deutschland gesorgt“ werden müsse. „Wenn Migranten die Gesellschaft mitgestalten können, dann wird sich einiges ändern.“

Und auch seine Hoffnung, dass der Wandel in der arabischen Welt das Bild des Islams (im Westen, aber auch in der islamischen Welt selbst) verändern werde, wurde vom Podium geteilt.

 

Warum noch FDP?

Im letzten Herbst habe ich für den Merkur über den „real existierenden Liberalismus“ der FDP geschrieben. In diesem Artikel habe ich Guido Westerwelle als „dead man walking“ bezeichnet. Nur wird er wohl als solcher deutscher Außenminister bleiben, nachdem er die Parteiführung der Liberalen abgelegt hat.

Aber wozu noch organisierter Liberalismus in einer durch und durch (na ja?) liberalen Gesellschaft? Warum bräuchte man eigentlich noch eine liberale Partei? Wie heute – unter Bedingungen der Freiheit – von der Freiheit reden?

Hier ein paar Überlegungen aus meinem Stück :

Wie redet man in einer solchen Gesellschaft − und vor einem solchen breiten Zielpublikum − einnehmend von der Freiheit? Sie muss heute und hierzulande nichtmehr gegen das Spießertum, auch nicht in erster Linie gegen einen übergriffigen Staat und schließlich kaum noch gegen totalitäre Ideologien verteidigt werden. Diese Schlachten sind geschlagen, wenn auch Nachhutgefechte immer wieder nötig sein werden.
Wie aber soll man dann im heutigen Deutschland von der Freiheit reden, der inneren wie der äußeren? Die Freiheit zur persönlichen Entfaltung muss nicht mehr lauthals verteidigt werden. Selbstverwirklichung als hoherWert ist bis tief in konservativeMilieus hinein durchgesetzt (wie die öffentlich debattierte Affäre des Gesundheitsministers Seehofer eindringlich bewiesen hat). Die Kosten der Freiheit hingegen werden überall sichtbar, zum Beispiel in zerstörten Ehen und in den Kämpfen, die Alleinerziehende zu bestehen haben. Auf der großen politischen Bühne ist nach dem Ende der totalitären Diktaturen kein Erbe in Sicht, der die Ordnung der Freiheit imWesten gefährden könnte. Der Islamismus bleibt ein Problem, hat aber nicht das Zeug zum Nachfolger für Faschismus und Kommunismus.
Während die private Freiheitsmaximierung also an gewisse Grenzen stößt, ist der Kampf der freien Gesellschaften gegen äußere Feinde zugleich eine komplizierte Sache geworden, man denke nur an die erfolgreiche Kombination von ökonomischer Liberalisierung und rigorosem Autoritarismus in China. Und schließlich ist der Markt nach den Erfahrungen der letzten Jahre nicht mehr einfach als reine Quelle der Freiheit zu reklamieren. Er zeigt in Gestalt des Kasinokapitalismus auch Züge einer Gefahr für die Freiheit − als großer Gleichmacher, als Vernichter von Lebenschancen.
Wie also soll die FDP von der Freiheit sprechen, damit sie von der Mitte unter diesen Umständen gehört wird? Wie verteidigt man die Freiheit unter Bedingungen der Freiheit? Nicht mit hohlem Pathos und geborgten Gegnerschaften aus dem Weltbürgerkrieg. Westerwelle kann es nicht lassen, überall »Sozialismus« zu riechen, und auch sein junger Adlatus Christian
Lindner, ein möglicher Nachfolger, erkennt in Vorschlägen der Linkspartei gerne »Sowjets«. Eine heimliche Sehnsucht nach den übersichtlichen Achtzigern und der Blockkonfrontation scheint die Déjà-vu-Gefühle dieser beiden zu treiben.
Damit korrespondiert eine Art Gutmenschentum der Freiheit, das immer nur das Positive sehen will und die Schmerzen derjenigen herunterspielt, die in der Multioptionsgesellschaft nicht zurechtkommen. Ein Markt, der für viele Menschen kein Freiheitsquell mehr ist, kommt imFDP-Weltbild nicht vor. Alles, was die FDP den Verlierern zu bieten hat, sind dürre Worte darü-
ber, dass Freiheit nun einmal vor Gleichheit kommt. Die Botschaft ist: Pech gehabt.Wir brauchen euch nicht. Wir kommen auch ohne euch auf 15 Prozent. Die FDP sieht sich als Gewinnerpartei und glaubt offenbar, keine Rücksicht auf die Verlierer nehmen zumüssen.

Das ist allerdings zu kurz gedacht, weil die Attitüde auch viele in derMitte abstößt. Nicht etwa, weil die Mitte in diesem Land »Gleichheit statt Freiheit« wollte. Die Schicht der Leistungsträger hat ganz offenbar nichts gegen Konkurrenz, Meritokratie und Leistungsgerechtigkeit. Woher käme denn sonst dieWettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik?
Diese Mitte ist allerdings besorgt um die Nachhaltigkeit der Freiheit in Deutschland. Sie möchten nicht nur als Steuerbürger angesprochen werden, deren einziges Problem ist, wie sie »mehr Netto vom Brutto« rausbekommt.
Viele Mitte-Wähler fühlen sich durch eine solche Ansprache unangenehm berührt. Im Großen und Ganzen zahlt die Mitte hierzulande Steuern zwar nicht gern, aber klaglos − solange derDeal stimmt: gute Schulen, prompt reparierte Straßen, sozialer Frieden. Das wäre eigentlich ein Grund zur Freude für Liberale, weil sich darin ein Grundvertrauen in die Institutionen ausdrückt − eine dieserDahrendorfschen »Ligaturen«, die schwerwieder errichtet werden können, wenn sie in die Brüche gehen. Doch die FDP hatWahlkampf um Wahlkampf damit bestritten, das Misstrauen des Steuerbürgers zu schüren. Das war erfolgreich, aber auch immer ein wenig schäbig. Und hochriskant, wie sich nun zeigt: Wenn Steuersenkungen nicht möglich sind, wird eine Einthemapartei damit nämlich im Handumdrehen zur Nullthemenpartei. Die Erfolgsgeschichte des verarmten Liberalismus der FDP ist ironischerweise mit ihrem Regierungseintritt ans Ende gekommen. Die FDP ist, auf dem Höhepunkt ihrer Macht, eine Partei am Nullpunkt geworden.
Der Parteichef Westerwelle, mit dem sich diese Entwicklung verbindet, ist nun ein »dead man walking«. Neue Gesichter werden gesucht. Doch woher nehmen? Die nächste Reihe ähnelt ihm doch allzu sehr. Wenn von den jungenMännern, die heute und wohl für Jahrzehnte noch das Gesicht des Liberalismus hierzulande prägen werden, einer doch einmal eine interessante
Geschichte aufweisen kann wie etwa der Gesundheitsminister Philipp Rösler, der als Kind vietnamesischer Boatpeople nach Deutschland kam, dann stürzt sich die Presse darauf. Der Phänotyp des FDP-Politikers heute ist nämlich ein etwas blässlicher junger Mann, der sehr schneidig auftritt, obwohl er außer Versammlungen der Jungen Liberalen nicht viel erlebt oder
gesehen hat.
Er ist nicht dumpf wie die frühere Generation intellektueller Zombies in der FDP. Nein, er hat seinen Hayek drauf und seinen Friedman, für besondere Gelegenheiten auch ein Prunkzitat von Dahrendorf, vielleicht gar eins von Röpke. Er spottet gerne über die Bremser und Bedenkenträger im Land. Das Leben scheint immer noch vor ihm zu liegen. Vielleicht kommt dieser Ein-
druck daher, dass er so ganz ohne biographischeUmwege und Irrtümer, ohne Bindungen, von denen man sich lösenmusste, ohne Inkonsistenzen und offene Rechnungen durchs Leben gegangen ist.
Dass die FDP nicht darauf gekommen ist, jemanden wie Joachim Gauck als Kandidaten für das Präsidentenamt vorzuschlagen − einen Freiheitsfreund, der mit seinem ganzen Leben im Widerstand gegen die SED-Herrschaft gezeigt hat, dass Liberalismus in Deutschland auch unter widrigsten Umständen Anhänger hat −, spricht Bände. Für eine solche Idee hatte man überhaupt keinen Blick mehr: So sehr war man wieder, wie einst bei Kohl, mitMachterhalt und Koalitionspflege beschäftigt, dass man sich von Merkel den blassen HerrnWulff diktieren ließ.
Der Niedergang der FDP in der Regierung ist kein Grund zur Genugtuung. Zwar gibt es heute Liberale in allen Parteien, aber nur der Partei des real existierenden Liberalismus stellt sich die Frage, was es heißt, unter Bedingungen der Freiheit liberal zu sein, in aller Direktheit und Grundsätzlichkeit. Darum würde sie eigentlich gebraucht. Freiheit braucht Tugenden.
Eine freiheitliche Ordnung ist ja mehr als jede andere darauf angewiesen, dass ihre Akteure sich, orientiert anWerten, selber steuern. Liberale sollten also auch etwas dazu zu sagen haben, welche Ausübung der Freiheit heute die Freiheitschancen künftiger Generationen gefährdet: durch Verschuldung, Ressourcenverschwendung und andere Formen der Optionenvernichtung.
Allgemeiner gesagt: Es werden Liberale gebraucht, die in der Lage sind, über diemoralischen Voraussetzungen einer freiheitlichen Ordnung nachzudenken, die auch der beste Markt nicht bereitstellen kann, und die sich auch nicht scheuen darüber zu reden, wenn die ungeordnete Freiheit sich selbst gefährdet.

Falls es solche Liberale in der FDP gibt, wäre jetzt kein schlechter Moment, aus dem Versteck zu kommen.

 

Kann der Libyen-Krieg begrenzt werden?

Die Libyen-Intervention muss immer noch gegen Kritik von zwei Seiten verteidigt werden. Die einen wollen eine aggressivere Strategie inklusive Regimewechsel als erklärtem (militärischem) Ziel. Nicht überraschender Weise sind manche dieser Kritiker Architekten, Vordenker oder Verteidiger des Irakkrieges gewesen.
Die anderen kritisieren, dass man sich überhaupt auf die Sache eingelassen habe, weil man am Ende in einen „Bürgerkrieg“ hineingezogen werde und die Verantwortung für ein weiteres Desaster vom Typ Afghanistan/Irak/Somalia übernehmen werde müssen.
Ich kann beidem nicht folgen.
Das Ziel Regimewechsel hätte niemals eine UN-Resolution mit der de facto Duldung durch Russen und Chinesen bekommen. Dies bedeutet deren Enthaltung: eine Ermöglichung der Intervention, denn sie hätten ja ein Veto einlegen können. Aber auch Russen und Chinesen wollten diesmal nicht als Zuschauer eines Massakers gelten. Die deutsche Enthaltung hat dem gegenüber in Wahrheit den Charakter eines Nein, weil Deutschland die Vetomacht fehlt.

Darauf zielte Obamas Bemerkung in seiner Rede, andere Nationen mögen es über sich bringen, einem Massaker zuzuschauen, Amerika sei anders. Auch die wichtige Unterstützung der arabischen Nachbarn hätte man mit einer offenen Regimewechsel-Politik nie bekommen. So kann man nun die Weichen für einen Regimewechsel stellen, ohne ihn militärisch und gar durch Besatzungstruppen durchzusetzen. Ob das gelingt, weiß niemand. Immerhin gibt es die Hoffnung, wie die jüngsten Desertionen wichtiger Figuren aus Libyen zeigen.
Es ist zweitens nicht auszuschließen, dass Libyen politisch instabil bleiben wird, dass es zu Stammeskämpfen kommen kann etc. Aber notwendig ist das keineswegs. Und wiederum ist es auch nicht notwendiger Weise so, dass aus der Intervention gegen Gadhafi folgt, dass der Westen die Verantwortung für den Nationenaufbau nach einem hoffentlich baldigen Ende der Feindseligkeiten übernimmt. Vielleicht werden UN-Peacekeeping-Truppen notwendig werden, aber die sollten von den Nachbarn oder von anderen islamisch geprägten Ländern aufgestellt werden (die Türkei ist schon humanitär sehr aktiv im Land).
In anderen Worten: Es ist alles andere als zwangsläufig, dass diese Intervention nicht begrenzt werden kann. Und es war gut und richtig, sie von vornherein so anzulegen.
David Brooks fasst zusammen, wie auch ich es sehe:

President Obama took this decision, I’m told, fully aware that there was no political upside while there were enormous political risks. He took it fully aware that we don’t know much about Libya. He took it fully aware that if he took this action he would be partially on the hook for Libya’s future. But he took it as an American must — motivated by this country’s historical role as a champion of freedom and humanity — and with the awareness that we simply could not stand by with Russia and China in opposition.

(…)

As president, of course, one also has to think practically. The president and the secretary of state reached a hardheaded conclusion. If Col. Muammar el-Qaddafi is actively slaughtering his own people, then this endeavor cannot end with a cease-fire that allows him to remain in power. Regime change is the goal of U.S. policy.

There are three plausible ways he might go, which inside the administration are sometimes known as the Three Ds. They are, in ascending order of likelihood: Defeat — the ragtag rebel army vanquishes his army on the battlefield; Departure — Qaddafi is persuaded to flee the country and move to a villa somewhere; and Defection — the people around Qaddafi decide there is no future hitching their wagon to his, and, as a result, the regime falls apart or is overthrown.

(…)

All of this is meant to send the signal that Qaddafi has no future. Will it be enough to cause enough defections? No one knows. But given all of the uncertainties, this seems like a prudent way to test the strength of the regime and expose its weaknesses.

It may turn out in the months ahead that we simply do not have the capacity, short of an actual invasion (which no one wants), to dislodge Qaddafi. But, at worst, the Libyan people will be no worse off than they were when government forces were bearing down on Benghazi and preparing for slaughter. At best, we may help liberate part of Libya or even, if the regime falls, the whole thing.

It is tiresome to harp on this sort of thing, but this is an intervention done in the spirit of Reinhold Niebuhr. It is motivated by a noble sentiment, to combat evil, but it is being done without self-righteousness and with a prudent awareness of the limits and the ironies of history. And it is being done at a moment in history when change in the Arab world really is possible.

 

Sollen Muslime „Spitzel“ werden?

Ich bin bekanntermaßen sehr kritisch, was die Islam-Äußerungen von Hans-Peter Friedrich, dem neuen Innenminister angeht.

Aber einen Aspekt der öffentlichen Kritik von muslimischen Vertretern halte ich für fahrlässig bis gefährlich – die Rede davon, man solle durch die „Sicherheitspartnerschaft“ zum „Spitzel“ gemacht  und zum Denunziantentum aufgerufen werden.

Entschuldigung: Was soll das denn heißen?

Wäre ein Muslim, der einen sich gefährlich radikalisierenden Glaubensbruder bei den Behörden meldet, ein „Spitzel“, ein „Denunziant“? Das ist die Logik der Extremisten. Es kann nicht der Ernst der Kritiker sein, dies zu unterstellen.

Wer sich so verhielte, wäre aber nichts anderes als ein korrekt handelnder Bürger. Ich bin überzeugt, dass sich die erdrückende Mehrzahl der Muslime eben so verhalten würde. Die Polizei hat einen guten Ruf unter dem muslimisch geprägten Deutschen. Sie genießt mehr Vertrauen als die meisten anderen Institutionen.

Wer jetzt tönt, die Einladung zur Partnerschaft mit den Sicherheitsbehörden komme einer Aufforderung zum Denunziantentum gleich, zerstört mutwillig dieses erstaunlich gute Verhältnis. Und er gibt implizit denjenigen Recht, die ohnehin schon zu wissen glauben, dass Muslime keine loyalen Bürger sein können.

Ich verstehe, wie ich bereits erklärt habe, die Vorbehalte gegen die Umwidmung der Islamkonferenz in eine Sicherheitsveranstaltung.

Dem kann man aber durch ruhige und maßvolle Kritik entgegensteuern. Es ist Blödsinn, sich jetzt in Boykottaufrufen zu ergehen, wie manche SPD-Politiker. Vor Jahren noch waren sie neidisch, nicht selber ein Instrument wie die DIK ersonnen zu haben. Zu Recht.Sie sollten sich lieber auf die Formulierung einer eigenen Integrationspolitik konzentrieren.

Es ist kurzsichtige Parteipolitik, die Muslimverbände gegen einen Minister noch weiter aufzuputschen, der dieses Instrument fast schon ruiniert hat. Wir brauchen es alle noch weiterhin.

 

Polenz: Deutschland muss das Waffenembargo gegen Gadhafi mit durchsetzen

Ruprecht Polenz (CDU) ist Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages. Er hat noch nie gescheut, auch gegen die Linie der eigenen Partei Stellung zu beziehen. Zuletzt hat davon sein Buch „Besser für beide. Die Türkei gehört in die EU“ Zeugnis abgelegt. Polenz hatte auch bereits im Bundestag die Position der Regierung in der Libyen-Frage kritisiert. Ich habe ihn für die morgige Ausgabe der Zeit befragt über Deutschlands Möglichkeiten, den entstandenen Schaden in den Bündnissen zu reparieren – und über die historische Bedeutung der UN-Resolution:

DIE ZEIT: Herr Polenz, das Flugverbot für Gadhafis Truppen ist in Kraft. Hätte Deutschland für die Intervention stimmen sollen?

Ruprecht Polenz: Ich habe immer gesagt, dass zwei Voraussetzungen für einen Einsatz erfüllt sein müssen: eine Resolution des Sicherheitsrats als völkerrechtliche Grundlage und zweitens eine sichtbare Beteiligung von Staaten der Region. Das letztere um zu vermeiden, dass der Eindruck entsteht, es gehe dem Westen ums Öl und nicht um humanitäre Gründe.
Deutschland hätte zustimmen sollen, als beides gegeben war. Das hätte nicht zwangsläufig bedeutet, sich auch militärisch zu beteiligen. Wir sind durch unser Engagement in Afghanistan, auf dem Balkan und am Horn von Afrika schon an der Grenze unserer Möglichkeiten. Eine Zustimmung hätte schon deshalb nicht automatisch die Verstrickung in einen weiteren Konflikt bedeutet.

ZEIT: Eben das aber war die Position des Außenministers und der Kanzlerin: Weil man deutsche Soldaten in Libyen ausschließen wollte, habe man sich nur enthalten können.

Polenz: Da stimme ich mit der Auffassung der Bundesregierung nicht überein. Bodentruppen wären durch die Resolution 1973 ohnehin nicht gedeckt. Russland und China würden sofort von ihrem Vetorecht Gebrauch machen, um deren Entsendung zu verhindern. Auch Obama hat deutlich gemacht, dass die USA auf keinen Fall Bodentruppen einsetzen werden. Wer dennoch berechtigte Sorgen vor Weiterungen einer solchen Mission hat, kann sich auch ausklinken, wenn es so weit ist. Nun ist aber der Eindruck entstanden – wenn auch unbeabsichtigt – dass Deutschland nicht zu seinen Verbündeten steht. Das hätte man vermeiden müssen.

ZEIT: Hat Deutschland sich isoliert?

Polenz: Nein, so weit ist es noch nicht. Wir können dem Eindruck entgegensteuern, wenn wir jetzt in der Nato in den Stäben weiter mitarbeiten, die die Flugverbotszone und die anderen militärischen Aktionen in Libyen planen. Es wird auch über die Frage zu sprechen sein, ob sich Deutschland nicht doch an der Überwachung des Waffenembargos im Mittelmeer beteiligt.

ZEIT: Aber die Bundesregierung hat doch soeben die dazu fähigen Schiffe aus der Nato-Mission Active Endeavour im Mittelmeer zurückgezogen?

Polenz: Das war nicht anders möglich, denn deren Mandat war für den Antiterrorkampf ausgelegt. Aber der Verteidigungsminister scheint mir offen dafür zu sein, dass die Deutschen sich an der seeseitigen Kontrolle des Waffenembargos beteiligen. Ich fände das richtig. Deutschland hat in der Libyen-Resolution Nummer 1970 im UN Sicherheitsrat einem solchen Embargo zugestimmt, da läge es in der Konsequenz, auch an der Durchsetzung dieser Maßnahme teilzunehmen. Es ergibt keinen Sinn, einem Embargo zuzustimmen, dann aber seine Überwachung abzulehnen. Darüber müssen wir jetzt diskutieren.

ZEIT: Außenminister Westerwelle verteidigt die Enthaltung im Libyenkonflikt als Überzeugungstat, die im vollen Bewußtsein der bündnispolitischen Konsequenzen erfolgt sei. Ein deutscher Sonderweg ohne die traditionellen westlichen Verbündeten als neue Doktrin, ausgerechnet unter Schwarz-Gelb?

Polenz: Es gehört zu den Prinzipien der deutschen Außenpolitik, eine enge Zusammenarbeit mit Frankreich innerhalb der europäischen Union zu pflegen. Und die deutsche Außenpolitik muss in eine gemeinsame Außenpolitik der EU eingebettet bleiben. Sicherheitspolitisch sind wir Mitglieder der Nato mit Rechten und Pflichten. Wir müssen darum nicht bei jedem Einsatz an vorderster Front dabei sein. Man kann seinen Beitrag auch an anderer Stelle bringen. Aber wir sollten schon darauf achten, dass wir nicht wie jene Länder wahrgenommen werden, mit denen wir jetzt gemeinsam gestimmt haben – Russland, China oder Indien.

ZEIT: Über Frankreich wird in Berlin derzeit sehr schlecht geredet. Sarkozy habe nur aus Profilierungssucht gehandelt.

Polenz: Frankreich will sicher auch in Libyen nachholen, was es in Tunesien versäumt hat: Empathie für die arabische Revolte. Als Sarkozy vorpreschte, waren die Bedingungen für eine erfolgreiche Intervention nur auf dem Papier erfüllt. Eine sichtbare Beteiligung der Araber haben wir bis heute nicht. Das ist wichtig, damit es nachher nicht heißt, der Westen mische sich imperialistisch ein. Al-Dschasira muss das filmen können. Aber wir sollten zurückhaltend sein mit Kritik an den Franzosen. Deren schnelles Eingreifen hat in Bengasi Schlimmstes verhütet.

ZEIT: Die Franzosen hingegen sind entsetzt, dass die Deutschen durch ihr Abstimmungsverhalten dokumentiert haben, dass sie einem Massaker in Bengasi zugeschaut hätten.

Polenz: Das ist ungerecht. Wir hätten ohnehin nur begrenzte Kapazitäten gehabt, um in Libyen mitzutun. Zum einen wären es unsere Awacs-Überwachungsflugzeuge gewesen, die zu Feuerleitstellen über dem Mittelmeer geworden wären. Weil das nach der deutschen Enthaltung nicht möglich ist, werden die jetzt über Afghanistan die Nato entlasten. Zweitens wären die deutschen ECR-Tornados gefordert worden, die besondere Fähigkeiten haben, feindliche Radaranlagen auszuschalten. Aber das war’s denn auch schon.

ZEIT: Nun hat die Nato das Kommando über die Libyen-Intervention übernommen – und die Deutschen stehen abseits?

Polenz: Nein. Das gibt den Deutschen die Möglichkeit, durch die Mitarbeit in den Nato-Stäben zu zeigen, dass unsere Enthaltung keine Abkehr vom Bündnis bedeutet.
ZEIT: Dürfen wir denn da konsequenter Weise mitmachen, nachdem wir der Resolution unsere Zustimmung verweigert haben?
Polenz: Wir brauchen in Deutschland kein Mandat des Bundestages, wenn ein ohnehin schon bestehender Stab eine solche Aufgabe erfüllt. In dem Moment, wo für eine spezielle Aufgabe neue Stäbe zusammengestellt werden, brauchen wir ein neues Mandat des Bundestages. Und die Bundesregierung sollte den Nato-Partnern signalisieren, dass sie dies auch bekommen würde. Deutschland darf sich jetzt nicht wegen der Mandatsfrage einen Knoten ins Bein machen.

ZEIT: Kritiker der Intervention sagen, die Bombardierung in Libyen gehe längst über das hinaus, was in der UN-Resolution vorgesehen ist, nämlich Schutz der Zivilbevölkerung. De facto agierten die westlichen Piloten als Luftwaffe der Rebellen, die jenen den Weg nach Tripoli freischießt.

Polenz: Das Mandat der Uno-Resolution geht sehr weit. Es schließt eigentlich nur Besatzungstruppen am Boden aus. Völkerrechtlich hat die Resolution erstmals das Prinzip der Schutzverantwortung für die Zivilbevölkerung beherzigt, die „responsibility to protect“. Das ist ein historischer Schritt, der noch nicht genügend gewürdigt wird. Aber man muss doch vor allem die politische Bedeutung der Resolution würdigen. Denn was ist in der arabischen Welt zwischen Oktober 2010 und März 2011 passiert? Die Araber haben keine Angst mehr. Wenn Gadhafi sich mit brutaler militärischer Gewalt durchgesetzt hätte, dann wäre die Angst wiedergekommen. Darum steht hier politisch mehr auf dem Spiel als nur Libyen. Der Militäreinsatz hat jetzt schon dazu geführt, dass Gadhafi sich in Libyen nicht mehr durchsetzen kann. Und damit ist ein ganz wesentliches Ziel auch hinsichtlich der Nachbarländer erreicht: keine Wiederkehr der Angst. Wie lange der Diktator sich jetzt noch halten kann, hängt an der Entwicklung der Kräfteverhältnisse im Land.

ZEIT: Also geht es doch um Regimewechsel?

Polenz: Das ist eine Frage, die die Libyer am Ende unter sich zu klären haben werden.
ZEIT: Wie lange kann der Einsatz noch dauern? Obama hat „eher Tage als Wochen“ in Aussicht gestellt.
Polenz: Das kann auch so kommen: Wenn Gadhafis Truppen sich nicht mehr bewegen, muss man auch nicht mehr eingreifen. Dann ist es ein Zustand intensiver Beobachtung und Kontrolle. Ziel ist, dass die Libyer selber entscheiden können, wie es weitergehen soll.
ZEIT: Macht sich, wer so interveniert, nicht zur Geisel der Aufständischen? Was, wenn die nun Vergeltung wollen und selber Massaker begehen?
Polenz: Das ist eine Gefahr. Aber wer Gadhafis Truppen hindert gegen Zivilisten vorzugehen, reduziert auch Anlässe für Vergeltung. Wird man das hehre Prinzip der Schutzverantwortung – „responsibility to protect“ – nun immer und überall durchsetzen können? Sicher nicht. Aber es ist ein Fortschritt deutlich zu machen, dass staatliche Souveränität, wie wir sie seit 1648 verstanden haben, nicht beinhaltet, dass ein Diktator mit seinen Bürgern machen kann, was er will.

 

Deutsche Risikoreligion und Zukunftsneid

Ich halte mich gerade in London auf, um über das Thema „Beyond Multiculturalism“ zu debattieren, was im Moment einigermaßen bizarr anmutet. Die Briten haben bekanntlich, im Unterschied zu den Deutschen, Multikulti wirklich versucht – als offizielle Politik. Bei uns ist das ja nur eine billige Hassfigur, auf die man alles projizieren kann. Multikulturelle Politik hat es in Wahrheit nie gegeben in Deutschland. Immer ging es um Segregation, Assmilation, Integration, Leitkultur: das politische Ideal war Homogenität, die Parallelgesellschaft ist bis heute ein Unwort (total dumm, Parallelgesellschaft ist ein wichtiges Funktionselement jeder Einwanderungsgesellschaft; das Problem ist eher gesellschaftliche Anomie als funktionierende Parallelität). Aber ich schweife ab, darum geht es erst morgen. Ich dachte, es könnte aus aktuellem Anlass interessant sein, noch einmal auf einen Aufsatz über verschiedene Risikokulturen und -religionen zurückzukommen, den ich vor 3 Jahren im Merkur veröffentlich habe. UK hat eine sehr andere Risikokultur als Deutschland: hier ist die Boulevardpresse voller Geschichten über Tsunami-Opfer. Das Atom-Thema steht im Hintergrund. Bei uns ist es umgekehrt.

Wenn ich die Selbstauskunft der britischen Zeitschrift The Economist lese, packt mich jedes Mal der Neid: „Diese Zeitung“, steht da, wird seit dem Jahr 1843 veröffentlicht, „um teilzunehmen an dem harten Wettstreit zwischen der Intelligenz, die vorwärts drängt, und einer unwerten, ängstlichen Ignoranz, die unseren Fortschritt verhindert“. Das altliberale Bekenntnis des Economist mit seiner in 165 Jahren ungebrochen kämpferischen Fortschrittsidee, die sich in großer Selbstverständlichkeit gegen „ängstliche Ignoranz“ stellt, macht mich eifersüchtig.

Warum es solche progressiv-liberale Selbstgewissheit hierzulande – jedenfalls als bedeutsame politische Strömung – nie gegeben hat und vielleicht auch niemals geben kann, muss an dieser Stelle nicht erklärt werden. Nur so viel: Im selben Jahr 1843, in dem der schottische Hutmacher und spätere Parlamentsabgeordnete James Wilson den Economist gründete, um Freihandel und gesellschaftlichen Liberalismus zu propagieren, reiste Heinrich Heine durchs winterliche Deutschland, dessen Rückständigkeit er im darauf folgenden Jahr sein sarkastisches Denkmal setzte. Der erste Economist und Deutschland. Ein Wintermärchen sind Gründungsdokumente zweier Gestalten des Liberalismus: offener Kampf für den Fortschritt dort, elegisch-bittere Klage über seine Verhinderung hier.

Wer in den ängstlichen und am Ende zunehmend verbitterten siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts aufgewachsen ist, für den wird das Wort „Fortschritt“ wohl für immer einen verbotenen und leicht frivolen Klang behalten. Merkwürdig ist das allerdings: Denn man legte damals ja eigentlich großen Wert darauf, als „progressiv“ zu gelten. Doch zu den „Progressiven“ zu gehören bedeutete, auf den Fortschritt in Wissenschaft und Technik herabzuschauen und sich über den „Fortschrittsglauben“ der Zeit zu mokieren.

Das war nicht immer so gewesen. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten glaubte man eine Weile lang an die Unteilbarkeit der Moderne als ästhetisches, gesellschaftliches und technisch-industrielles Projekt. Irgendwo in der Mitte der siebziger Jahre war dieser Glaube abhanden gekommen. Das war mehr als eine Zeitgeistwendung. Denn auf eine unheimliche Weise haben wir diese siebziger Jahre nie mehr verlassen. Die verschiedenen Stränge der Moderne konnten, einmal aufgedröselt, nicht wieder zusammengeführt werden. Und was als Fortschrittsskepsis einer kleinen Avantgarde begann, ist zum gesellschaftlichen Mainstream geworden. Es geht dabei nicht nur um deutsche Mentalitätsgeschichte, auch wenn sich in dem Land, das mit der Geschichtsphilosophie auch den Kulturpessimismus hervorgebracht hat, die Dinge zweifellos besonders verdichten… (Mehr lesen.)