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Deutsche Risikoreligion und Zukunftsneid

 

Ich halte mich gerade in London auf, um über das Thema „Beyond Multiculturalism“ zu debattieren, was im Moment einigermaßen bizarr anmutet. Die Briten haben bekanntlich, im Unterschied zu den Deutschen, Multikulti wirklich versucht – als offizielle Politik. Bei uns ist das ja nur eine billige Hassfigur, auf die man alles projizieren kann. Multikulturelle Politik hat es in Wahrheit nie gegeben in Deutschland. Immer ging es um Segregation, Assmilation, Integration, Leitkultur: das politische Ideal war Homogenität, die Parallelgesellschaft ist bis heute ein Unwort (total dumm, Parallelgesellschaft ist ein wichtiges Funktionselement jeder Einwanderungsgesellschaft; das Problem ist eher gesellschaftliche Anomie als funktionierende Parallelität). Aber ich schweife ab, darum geht es erst morgen. Ich dachte, es könnte aus aktuellem Anlass interessant sein, noch einmal auf einen Aufsatz über verschiedene Risikokulturen und -religionen zurückzukommen, den ich vor 3 Jahren im Merkur veröffentlich habe. UK hat eine sehr andere Risikokultur als Deutschland: hier ist die Boulevardpresse voller Geschichten über Tsunami-Opfer. Das Atom-Thema steht im Hintergrund. Bei uns ist es umgekehrt.

Wenn ich die Selbstauskunft der britischen Zeitschrift The Economist lese, packt mich jedes Mal der Neid: „Diese Zeitung“, steht da, wird seit dem Jahr 1843 veröffentlicht, „um teilzunehmen an dem harten Wettstreit zwischen der Intelligenz, die vorwärts drängt, und einer unwerten, ängstlichen Ignoranz, die unseren Fortschritt verhindert“. Das altliberale Bekenntnis des Economist mit seiner in 165 Jahren ungebrochen kämpferischen Fortschrittsidee, die sich in großer Selbstverständlichkeit gegen „ängstliche Ignoranz“ stellt, macht mich eifersüchtig.

Warum es solche progressiv-liberale Selbstgewissheit hierzulande – jedenfalls als bedeutsame politische Strömung – nie gegeben hat und vielleicht auch niemals geben kann, muss an dieser Stelle nicht erklärt werden. Nur so viel: Im selben Jahr 1843, in dem der schottische Hutmacher und spätere Parlamentsabgeordnete James Wilson den Economist gründete, um Freihandel und gesellschaftlichen Liberalismus zu propagieren, reiste Heinrich Heine durchs winterliche Deutschland, dessen Rückständigkeit er im darauf folgenden Jahr sein sarkastisches Denkmal setzte. Der erste Economist und Deutschland. Ein Wintermärchen sind Gründungsdokumente zweier Gestalten des Liberalismus: offener Kampf für den Fortschritt dort, elegisch-bittere Klage über seine Verhinderung hier.

Wer in den ängstlichen und am Ende zunehmend verbitterten siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts aufgewachsen ist, für den wird das Wort „Fortschritt“ wohl für immer einen verbotenen und leicht frivolen Klang behalten. Merkwürdig ist das allerdings: Denn man legte damals ja eigentlich großen Wert darauf, als „progressiv“ zu gelten. Doch zu den „Progressiven“ zu gehören bedeutete, auf den Fortschritt in Wissenschaft und Technik herabzuschauen und sich über den „Fortschrittsglauben“ der Zeit zu mokieren.

Das war nicht immer so gewesen. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten glaubte man eine Weile lang an die Unteilbarkeit der Moderne als ästhetisches, gesellschaftliches und technisch-industrielles Projekt. Irgendwo in der Mitte der siebziger Jahre war dieser Glaube abhanden gekommen. Das war mehr als eine Zeitgeistwendung. Denn auf eine unheimliche Weise haben wir diese siebziger Jahre nie mehr verlassen. Die verschiedenen Stränge der Moderne konnten, einmal aufgedröselt, nicht wieder zusammengeführt werden. Und was als Fortschrittsskepsis einer kleinen Avantgarde begann, ist zum gesellschaftlichen Mainstream geworden. Es geht dabei nicht nur um deutsche Mentalitätsgeschichte, auch wenn sich in dem Land, das mit der Geschichtsphilosophie auch den Kulturpessimismus hervorgebracht hat, die Dinge zweifellos besonders verdichten… (Mehr lesen.)