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Was am deutschen Pazifismus faul ist

 

Karl Heinz Bohrer, der Herausgeber des Merkur, ist im neuen Heft in großer Form. In seinem Essay analysiert er „den GAU der deutschen Außenpolitik“:

„Und wenn man nach der Libyen-Entscheidung mit jüngeren, durchaus informierten und intelligenten Berliner Diplomaten sprach, bekam man bei solchen, die die Reaktion ihres Ministers nicht unbedingt unterstützen, den Eindruck, dass sie weit entfernt davon sind, den Tatbestand einer Isolation und die Gründe dafür wirklich ernst zu nehmen. Es wird höchstens im Jargon eines diplomatietechnischen Für undWider erörtert, ob man nicht am Ende recht behalte. Die Rückschläge der westlichen Koalition über Libyen wurden mit einer gewissen Schadenfreude kommentiert. Und was Syrien betrifft, lagen die beflissenen Erklärungen des Außenministers abermals dicht an der Peinlichkeit, einerseits offene Türen einzurennen, andererseits gar nichts Substantielles sagen zu können. Offenbar ist von den deutschen Akteuren verdrängt worden, was einigen kritischen Beobachtern sofort auffiel: Dass eine Art GAU die deutsche Außenpolitik befallen hatte, seit sie sich mit Russland, Indien und China in einem Boot wohlfühlte.
Allein schon die einschlägigen Rechthabereien, während das Kind längst im Brunnen lag, belegen das Urteil, dass eine erstaunliche Weltunerfahrenheit die Ursache des Dilemmas ist. Die Sache wird aber erst richtig brenzlig, wenn man zu dieser Einschätzung hinzufügt, dass eine Mehrheit der Deutschen aus allen Schichten sich der eingangs erwähnten Begründung solcher Distanz zu denWeltläuften, nämlich keine wirkliche koloniale Erfahrung zu haben, sogar rühmen würde.
Was drückt sich darin aus? Abgesehen von einer kurzen Periode vor dem Ersten Weltkrieg gab es keine deutschen kolonialen Aspirationen, weil es keinen deutschen Staat gab, der solche Art Machtinteresse hätte artikulieren können. Als er es schließlich für eine kurze Zeit vor allem in Afrika tat, geriet dieses Machtinteresse nicht zufällig zu einer moralischen und zivilisatorischen Katastrophe. Unerfahren in Machtausübung, stattdessen von einem einzigartigen provinziellen Rassedünkel geprägt,  veranstalteten Kolonialmilitärs wie der Generalleutnant Lothar von Trotha ein Massaker unter den aufständischen Hereros. Trotz der Proteste deutscher Parlamentarier ist diese düstere Affäre im Nachhinein aber auf das Konto europäischer Kolonialherrschaft überhaupt überschrieben worden, statt die spezifisch deutsche, in mangelnder Machterfahrung kombiniert mit Rasseidentität begründete Ursache zu erkennen.
In falscher Übertragung wurde die Kolonialherrschaft, vor allem die der Briten, vorpolitisch-moralisch, also zivilisatorisch-historisch negativ bewertet. Mehr noch: Machtausübung als solche wurde sehr bald einem abstrakten Moralismus, einem Reinlichkeitsprinzip unterworfen, das dann behauptete »Sie sagen Gott und meinen Kattun« − eine Rede, die heute in deutschen Urteilen über das angelsächsische Engagement im Nahen Osten nachklingt.“

„Die Entpolitisierung der Machtidee und ihre Existentialisierung, die sich damit äußerte, waren schon die Folge mangelnder Macht und mangelnder Machterfahrung, was sich in der Politik derNazis, die samt und sonders, verglichen mit britischen oder amerikanischen Politikern, keinerlei Welt- und Machterfahrung besaßen, dann nicht zufälligerweise zuspitzte.
Diese Vorgeschichte der aktuellen Enthaltsamkeit muss man im Auge haben, wenn man ihren apolitischen Moralismus richtig benennen will. Dann ergeben sich zwei unerquickliche Einsichten.
Erstens: der radikale Pazifismus. Er charakterisiert noch immer die deutsche Mehrheit, aber auch die Intellektuellen dieses Landes, und dieser Pazifismus ist nichts anderes als das Pendant des ehemaligen Militarismus. Das fast konform zu nennende Verhalten vieler Intellektueller in Universität und Feuilleton in dieser Frage wird auch nicht besser dadurch, dass französische Intellektuelle in eitlen Selbstdarstellungen zum Pro und Contra des Krieges sich lächerlich machten. Der  deutsche Militarismus entsprang einem absoluten, nicht erfahrungsgesättigten Prinzip. Darin unterschieden von der kriegerischen Haltung der Briten, die ihre Interessenmit der Waffe durchsetzten, ohne deshalb militaristisch zu werden. Insofern ist auch das Argument, man habe aus der Vergangenheit gelernt, das im Diktum des beliebtesten deutschen Außenministers mündete, kein Krieg dürfe mehr von deutschem Boden ausgehen, eine pathetische, nichtssagende Erklärung. Sie wurde deshalb auch nie von den westalliierten Partnern wirklich ernst genommen, sogar eher verächtlich behandelt.
Der springende Punkt ist ja: Wie einleuchtend kann es sein, wenn jemand, der zweimal ein Haus anzündete, beim Brennen eines weiteren Hauses erklärt, er würde nicht beim Löschen helfen, weil er nie mehr wieder mit Feuer zu tun haben wolle? Jedenfalls nimmt sich der erst jetzt zögernd revidierte deutsche Grundsatz, jenseits der eigenen Grenzen militärisch eigentlich nicht aktiv werden zu können, genauso aus: Derjenige, der zwei Weltkriege anzettelte, überlässt in Zukunft das Kriegführen den anderen. Eine solche Position wird auch nicht besser, wenn den jeweiligen Kriegführenden bei ihren Aktionen schwere militärische und politische Fehler unterlaufen. Sich darauf zu berufen, macht die Enthaltung noch peinlicher. Etwas anderes wäre nämlich eine klarere, selbstbewusstere Begründung der deutschen Abstinenz, bei der die verheerende militärische Geschichte des Landes im letzten Jahrhundert offen zur Sprache käme und die ihr folgende pazifistische Haltung der deutschen Öffentlichkeit. Dem könnte man einen gewissen Respekt zollen.“