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Stalingrad und meine Familie

 

Überall Stalingrad-Gedenken. Ich kann das nicht lesen, nur überfliegen. Stalingrad hat meine Familie kaputt gemacht. Jedenfalls die eine Hälfte davon. Ich hatte das Glück, in der anderen aufzuwachsen.

Mein Onkel ist im Januar vor 70 Jahren mit der 6. Armee in Gefangenschaft geraten. Es war der Anfang vom Ende für Hitlerdeutschland, und erst der Beginn des großen Tötens in den deutschen Vernichtungslagern, wo man gerade begonnen hatte, mit Gas als Mordmittel zu experimentieren.

Er war ein einfacher Infanteriesoldat. Er kam erst nach vielen Jahren Gefangenschaft zurück nach Deutschland. Mehrere Zehen hat er in Sibirien gelassen, und auch sonst noch vieles. Er war ein eher kleiner, drahtiger Mann, obwohl er mir als Kind natürlich groß und stark und furchteinflößend schien. „Die Großen und Sportlichen sind alle tot. Die haben bloß ein paar Wochen überlebt“, hat er einmal gesagt, in Erinnerung an die Gefangenschaft.

Er war mein Feind, seit ich anfing selber zu denken. Nicht so werden wie er, bloß nicht so werden. Es war ungerecht, es war die reine Abwehr dem Horror gegenüber, den er mit sich herumtrug.

Zu spät habe ich verstanden, dass Viktor, wie er ironischer Weise hieß, ein geschundener, betrogener, wütender Verlierer war – ein Opfer. Er wollte keins sein, er hat sich geschämt für den verlorenen Krieg. Und so gerierte er sich lieber als Überzeugungstäter für eine gute Sache. Bis zum Ende verteidigte er die Nazi-Zeit und den Krieg. Er las die National-Zeitung. Das ideologische Gedröhne war kein Ersatz für alles das, was er nicht erzählen konnte: Er war überwältigt von den Erfahrungen des Todes, des Tötens, des Hungerns, der Verzweiflung in den langen Jahren der Gefangenschaft.

Er hatte keine Worte dafür. Die Rechthaberei über Hitler, die Nazis, den Krieg, trat an die Stelle der wirklichen Erlebnisse, die gelegentlich nur aufblitzten. Er konnte nicht darüber reden, ich wollte nicht zuhören. Seine Geschichten vom Töten, vom Beerdigungskommando im Lager mit den gefrorenen Leichen (die ein Geräusch wie Holz machen, wenn man sie vom Wagen ablädt), von Kameradschaft und Verrat – ich wollte sie nicht hören. Das machte ihn wütend, und so schrieen wir uns an, bis ich ihm nur noch aus dem Weg ging. Selbst noch seine Zärtlichkeiten waren brutal – Kopfnüsse, Schwitzkasten, freundschaftliche Schläge auf den Oberarm, nach denen blaue Flecke blieben.

Ich wünschte, ich hätte zugehört: Der katholische Junge aus dem Eifeldorf, den seine erste Reise gleich an die Ostfront und dann in den sibirischen Gulag führt – was ging in ihm vor? Einmal sagte einer seiner Freunde, auch er ein Ostfront-Veteran: „Natürlich war es nicht einfach, auf Menschen zu schießen. Beim ersten Mal hast du nachher geheult. Und dann hast du doch auf sie geschossen wie die Hasen.“ Ich hatte den beiden gerade trotzig gesagt, ich werde den Wehrdienst verweigern. Das hatte sie wütend gemacht: „Ihr macht es euch leicht, wir hatten die Möglichkeit nicht.“ Damals habe ich diese Kommentare gehasst, heute weiß ich, dass die bitteren alten Männer natürlich auch Recht hatten.

Der Schmerz über das Erlebte, verdoppelt dadurch, dass es im Rahmen eines Menschheitsverbrechens im Vernichtungskrieg stattfand: wie sollte er davon erzählen? Es ging nicht. Er ist tot, seit vielen Jahren schon. Vor kurzem war ich wieder an seinem Grab, hoch oben auf dem Bergfriedhof über unserem Dorf. Es tut mir leid, ihn nicht angehört zu haben. Niemand hörte zu. Keiner von uns hielt damals diese Geschichten aus. Nicht einmal seine Frau, vielleicht sie sogar am wenigsten. Die Einsamkeit der Soldaten.

Seine beiden ältesten Söhne, meine lieben Vettern, mit denen ich als Kind viel gespielt habe, sind auch bereits tot. Sie haben sich auf verschiedene Weise aus dem Leben geschafft, der hoch begabte und sensible Achim zuerst und auf die grausamste Art. Jeder Mensch stirbt im Geheimnis, und meine Vettern werden verschiedene Gründe gehabt haben, nicht mehr leben zu wollen. Bernd, der Älteste, hat den florierenden Bäckereibetrieb meines Onkels, von dem auch mein Teil der Familie jahrzehntelang sehr gut gelebt hat, systematisch heruntergewirtschaftet. Es ist fast, als hätte er das Lebenswerk seines Vaters auslöschen wollen. Und das hat er ja auch getan, sich selbst am Ende eingeschlossen. Die Wut und den Hass des Vaters hat er nach innen gerichtet. Gibt es so etwas: Scheitern als Rache und Wiedergutmachung?

Ich weiß, es ist heikel, so zu spekulieren. Es ist jetzt schon Wochen her, seit ich an dem Grab meines Vetters gestanden habe, der nur zwei Jahre älter war als ich. Aber wenn ich heute über Stalingrad lese und den Untergang und die Kapitulation der Sechsten Armee – 3300 Kilometer von dem Ort, an dem ich aufgewachsen bin – , dann ist mir, als sei das meine Geschichte.