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Warum Deutschland in Afghanistan mehr tun muss

 

(Langfassung eines Stücks, das in veränderter Form morgen in der ZEIT erscheint:) 

Der freundliche Herr mit Silbermähne und randloser Brille brauchte neun Worte, um das politische Berlin in helle Aufregung zu versetzen. Ivo Daalder, als neuer Nato-Botschafter Obamas Mann in Brüssel, erläuterte Fachleuten und Politikern, wie es weitergehen soll mit der ISAF in Afghanistan, bei ihrem „größten und gefährlichsten Einsatz in der Geschichte der Nato“. Die Schlüsselworte standen etwas versteckt auf Seite 7 seines Redemanuskripts vom vergangenen Mittwoch: „Dennoch können und sollten Europa und Deutschland mehr tun.“ Daalder hatte an diesem Tag nur eine Botschaft, verpackt in viele freundliche Worte der Anerkennung: Es brennt in Afghanistan, und Deutschland muß helfen.

Auch das noch. Eine Woche zuvor erst waren drei deutsche Soldaten bei einem Einsatz in Nordafghanistan umgekommen, als sie sich unter heftigem Beschuss mit ihrem Panzerfahrzeug zu retten versuchten. Dem Verteidigungsminister stand ein schwerer Gang ins thüringische Bad Salzungen bevor, zur Beerdigung der drei Gefallenen. Und prompt kamen dann auch schon die neuesten Meinungsumfragen heraus: Kaum noch ein Drittel der Deutschen unterstützt jenen Einsatz, den die Regierung partout nicht unseren „Krieg“ in Afghanistan nennen will.

Der Verteidigungsminister betätigt sich in diesen Tagen hauptsächlich als Semantiker. In jeder seiner öffentlichen Äusserungen stellt er klart, Deutschland befinde sich nicht im Krieg, sondern im Kampfeinsatz. Warum ihm diese Unterscheidung so wichtig sei, die dem Volk offenbar nicht einleuchtet? Es gehe darum, so Jung, den Taliban nicht den Rang einer Kriegspartei mit Kombattantenstatus zuzugestehen. Sie müßten weiter als Terroristen und Verbrecher behandelt werden.

Die sprachliche Entschärfung macht den Einsatz aber offenbar nicht populärer. Im Gegenteil: Je öfter Franz-Josef Jung bestreitet, dass Deutschland Krieg führt, um so mehr setzt sich beim Publikum der fatale Eindruck von Überforderung und Verleugnung fest. Zumal wenn die Bundeswehr sich gleichzeitig gezwungen sieht, die Einsatzregeln für die Soldaten zu lockern, wie just am Wochenende publik wurde. Die Soldaten werden eine überarbeitete „Taschenkarte“ bekommen. Diese kurze Anweisung – eine Übersetzung der deutschen Einsatzregeln in simple Worte – gibt ihnen Orientierung über ihre Befugnisse in Gefahrensituationen. Die neue Taschenkarte wird den Gebrauch der Waffe leichter machen – eine Reaktion auf zunehmenden Beschuss und häufigere Hinterhalte im Einsatzgebiet. Die Deutschen werden also künftig offensiver vorgehen dürfen, wie von der Truppe lange schon gewünscht. Das heißt womöglich: Mehr Gefechte, mehr Verletzte, mehr Tote.

Da hat es gerade noch gefehlt, dass Obamas Nato-Mann ausgerechnet jetzt den Druck erhöht. Nicht dass man nicht schon geahnt hätte, dass es eines Tages so kommen würde. Obama war ja nicht zuletzt aufgrund des aussenpolitischen Versprechens gewählt worden, den „falschen Krieg“ im Irak zu beenden, und den „richtigen Krieg“ in Afghanistan zu gewinnen – und zwar mit Hilfe eben jener europäischen Freunde, die ein Bush nicht mehr erreichen konnten.

Aber warum jetzt mehr Druck? Die maßgeblichen Aussenpolitiker der Koalition sind mehr als „ein Stück weit irritiert über Herrn Daalder“, wie ein Mitglied des Auswärtigen Ausschusses formuliert. Bei Union und SPD trifft man vor allem auf zwei Reaktionen: Haben die Amerikaner vergessen, dass wir bald schon mitten im Wahlkampf stehen? Die wissen doch genau, dass wir unsere Mandatsobergrenze auf 4.500 Mann erhöht haben und ständig mehr Soldaten schicken!

Natürlich wissen „die“ das: Barack Obama hat darum beim Besuch der Kanzlerin am vorletzten Wochenende peinlich vermieden, von den Deutschen öffentlich mehr zu verlangen. Das Thema Afghanistan wurde mit Rücksicht auf den 27. September gemieden. Obama weiss sehr wohl, dass die Kanzlerin das toxische Thema bis dahin lieber nicht anfassen möchte. Vielleicht schickt er eben darum seinen Nato-Mann schon einmal nach Berlin, um deutlich zu machen, dass man sich an die Ausklammerung des Themas besser nicht gewöhnen möge. Jene 600 Soldaten, die soeben von Deutschland zur Absicherung der afghanischen Wahl im August zusätzlich ins Land beordert wurden, müssten auch danach auf jeden Fall bleiben, sagte Daalder in Berlin: „Die Sicherheitslage wird sich nach der Wahl nicht wie von Zauberhand verbessern. Da finden wir für ihre Soldaten schon etwas zu tun.“

Auch wenn Merkel und Obama in Washington das Thema Afghanistan mieden – es ist schwer vorstellbar, dass der amerikanische Präsident seiner wichtigsten europäischen Partnerin nichts von der geplanten Groß-Offensive in der südafghanischen Provinz Helmand gesagt haben sollte. Dieser Vorstoß hat nun am letzten Donnerstag begonnen. Im Lichte dieses militärischen Angriffs, des größten seit der Invasion von 2001, bekommt die neue diplomatische Offensive des Nato-Botschafters eine enorme Dringlichkeit. Die Amerikaner suchen jetzt die Wende um jeden Preis in dem bald achtjährigen Krieg.

4000 Marines sind seit letztem Donnerstag dabei, die Provinz Helmand unter Kontrolle zu bringen – eine Hochburg der Taliban und zugleich das wichtigste Drogenanbaugebiet des Landes. Durch Diplomatie und militärische Stärke zugleich will Obama beweisen, dass er sich diesen Krieg wirklich zu eigen gemacht hat. Was am Hindukusch passiert, ist nun auf Gedeih und Verderb „Obama’s war“ (Washington Post). Und ein Präsident, der sein Schicksal derart mit diesem Konflikt verbindet, kann und muss auch gegenüber seinen Verbündeten bestimmter auftreten.

Der Strategiewechsel der Amerikaner unter Obama wurde in Berlin mit Genugtuung aufgenommen. Nun aber beginnt die Zufriedenheit der Nervösität zu weichen. Jahrelang hatte man die amerikanische Überbetonung des Militärischen kritisiert und das deutsche Konzept der „vernetzten Sicherheit“ dagegengehalten, in dem die Betonung auf dem zivilen Aufbau liegt. Das wird nun unterlaufen, indem die Kritisierten sich reuig zeigen: Jawohl, ihr hattet recht. Wir haben erstens (im Irak) einen falschen Krieg geführt, und zweitens den richtigen Krieg (in Afghanistan) auf die falsche Weise. Wir nehmen uns eure Kritik zu Herzen. Botschafter Daalder sagte in Berlin: „Wir haben so viele Jahre lang die falsche Strategie in Afghanistan verfolgt, dass es uns kaum gelingen kann, diesen Krieg binnen einen Jahres zu drehen.“ Das ist ein bemerkenswert offenherziges Geständnis. Es schafft zugleich eine ziemliche unwiderstehliche Verpflichtung. Denn: Wenn wir mit der Reue durch sind – so die neue amerikanische Logik -, würden wir uns gerne mit euch zusammensetzen und überlegen, wie wir den richtigen Krieg doch noch gewinnen können. Wir haben übrigens nicht viel Zeit. Nicht mehr als zwölf bis achtzehn Monate. Dann nämlich drohen auch in den USA die nächsten Wahlen: Bei der Abstimmung zum Kongress Ende 2010 wird Obamas Politik ihrem ersten Stresstest beim Wähler unterzogen werden. Ist dann keine Wende zu sehen, wird es eng.

Worauf aber zielt eigentlich der neue amerikanische Druck? Geht es um die Beteiligung an gefährlichen Kampfeinsätzen im paschtunisch dominierten Süden des Landes, wie in der deutschen Debatte oft suggeriert wird? Eher nicht: Die Amerikaner warten dabei nicht auf die Deutschen, wie die jetzige Offensive in Helmand zeigt. Und sie können auch nicht erwarten, dass im Dezember, wenn der Bundeswehr im Parlament ein neues Mandat erteilt werden muss, wesentlich mehr als die jetzt schon möglichen 4.500 Truppen bewilligt werden. Selbst eine schwarz-gelbe Regierung hätte da nicht mehr Spielraum, wie sich schon dieser Tage andeutet: Der Versuchung, aus der Anti-Stimmung im Wahlkampf Honig zu saugen, erliegen jetzt schon namhafte Unions-Abgeordnete. Der CSU- Landesgruppenchef Ramsauer fordert lauthals eine „Exit-Strategie“. Und auch der Sicherheitsexperte der CSU, Hans-Peter Uhl, wünscht öffentlich einen „baldigen Abzug“ der Bundeswehr. Er halte es darum für „an der Zeit, die Priorität des Afghanistan-Einsatzes vom Militär zur Polizei zu verlagern.“

Die bittere Wahrheit ist allerdings, wie andere einflussreiche Aussenpolitiker der Koalition hinter vorgehaltener Hand bereitwillig eingestehen, dass Deutschland und Europa bei eben dieser Aufgabe „schmählich versagt“ haben. Deutschlands etwa 40 permanente Ausbilder und 100 zusätzliche Trainer haben seit 2002 circa 25.0000 Polizisten gecoacht. Nicht schlecht, aber viel zu wenig. Der Versuch, seit 2007 die Polizeiausbildung zu europäisieren, wurde vollends ein Fiasko. Von den versprochenen 400 Trainern kamen nur rund die Häfte. Man zerstritt sich über die Finanzierung und die Richtlinien. Währenddessen hat Obama nun 1.500 zusätzliche Trainer in Marsch gesetzt. Deutschland gibt schlanke 35,7 Millionen € im Jahr für die Polizei-Ausbildung aus – deutlich weniger, als der Regierung die Rettung des Quelle-Katalogs (50 Millionen €) per Massekredit wert ist.

Vielleicht hat die berechtigte Kritik an der früheren amerikanischen Kriegsführung – mit ihren vielen zivilen Opfern durch Luftangriffe – die deutsche Seite verleitet, die eigenen Anstrengungen nicht mehr selbstkritisch zu durchleuchten, weil sie ja ohnehin den moralisch höherwertigen Ansatz zu repräsentieren schienen. Doch das ist nun vorbei, auch wenn die Amerikaner jetzt in Helmand massiv vorgehen und dabei zwangsweise neue Opfer produzieren werden. Denn ein nüchterner Blick auf die Zahlen zeigt, dass Amerika in der zivilen Aufbauarbeit viel mehr tut als die Europäer. Die Bundesregierung stellte 2008 140 Millionen € für den Aufbau bereit. Die USA kamen im gleichen Jahr bereits auf 5,6 Milliarden Dollar. Darin sind auch die Mittel für die afghanischen Sicherheitskräfte enthalten. Aber selbst wenn man sie abzieht, bleibt die beschämende Tatsache, dass Amerika fast 15 mal so viel in den zivilen Aufbau Afghanistans investiert wie Deutschland. Und für 2009 hat Obama den Beitrag kurzerhand abermals verdoppelt auf geplanten 10,3 Milliarden. Zum Vergleich: Die Europäische Union ist stolz darauf, für die Zeit zwischen 2007 bis 2010 insgesamt 700 Millionen € bereitzustellen.

Dieses wachsende Ungleichgewicht führt dazu, dass das deutsche Mantra langsam unglaubwürdig wirkt, man stehe zur „vernetzten Sicherheit“ und werde – nun aber wirklich! – die „zivile Komponente“ stärken. Dazu war schon viele Jahre Zeit. Mit der mangelnden Kampfbereitschaft der Deutschen haben sich die Alliierten zwar abgefunden. Das ungenügende zivile Engagement aber ist das eigentliche Problem: Wenn Deutschland sich in einem glaubwürdigen Umfang am Staatsaufbau, an der Förderung der Landwirtschaft sowie an der Ausbildung von Polizei und Armee beteiligen würde, gäbe es keinen Druck, mehr zu tun. Doch stattdessen hat die Regierung sich darauf verlegt, immer wieder symbolische Kontingenterhöhungen vorzunehmen, um den Druck abzufangen: Die Tornados und neuerdings die Awacs-Überwachungsflugzeuge, die Deutschland bereitstellt, sind vor allem Placebos für die Alliierten. Sie werden nicht aus militärischer Notwendigkeit nach Afghanistan geschickt, sondern um dem befürchteten Ruf nach mehr Soldaten etwas entgegensetzen zu können.

Die deutschen Abgeordneten, die jetzt in die Ferien und dann in den Wahlkampf gehen, ist schmerzlich klar, wie schwer die deutsche Afghanistan-Politik bei ihren Wählern zu vertreten ist. Nur die todesmutigen unter ihnen werden das Thema von sich aus ansprechen bei ihren Wahlkreisveranstaltungen. Wenn es aber doch aufkommt, sagt ein Sozialdemokrat mit von Vergeblichkeit gezeichneter Stimme, „braucht man dann schon ein paar Minuten“: „Viele Wähler haben ihre Meinung gebildet und hören schlicht nicht mehr zu.“ Wer diese dennoch erreichen wolle, müsse „die große moralische Erzählung“ über Afghanistan fallen lassen und eine realistische Perspektive bieten können.

In Wahrheit aber werden seit geraumer Zeit schon die Ziele für den Einsatz heruntergedimmt. Von Demokratie, Menschen- und Frauenrechten als Ziel der westlichen Mission ist auffällig selten noch die Rede. Die Afghanen in die Lage versetzen, ihren Lebensunterhalt und ihre Sicherheit selbst zu garantieren, lautet die neue, bescheidene Maxime. Dass die Taliban nie wieder die Kontrolle über das Land haben dürfen, ist der Minimalkonsens.

Vielleicht liegt in dieser Ernüchterung eine Chance. Doch einfacher wird es damit eben nicht. Denn der neue Realismus am Hindukusch bringt auch ein neues afghanisches Paradox mit sich: In Zukunft müssen für deutliche bescheidenere Ziele erheblich größere Mittel mobilisiert werden.