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Sorgen eines Wechselwählers (2): 85 Klicks für Claudia Roth

 

Meine wöchentliche Kolumne zur Bundestagswahl aus der ZEIT (Nr. 36, S.5)

In jedem Wahlkampf denke ich irgendwann: Vielleicht sollte man einfach Inhalte wählen, statt über Taktik und Machtoptionen zu grübeln. Zum Beispiel die Grünen. Grün wählen bedeute »grüne Inhalte« wählen, betont die Partei auffallend oft. Das klingt aber einfacher als es ist. Denn da ist das Spitzenpersonal davor.
Ich bin Wechselwähler und habe schon aus verschiedensten Motiven gewählt (auch grün) – noch nie aus Mitleid. Ich habe aber Mitleid mit Jürgen Trittin und Renate Künast, mit Cem Özdemir und Claudia Roth. Die Vier bloggen und twittern pausenlos von ihren Wahlkampfreisen. Tag für Tag grüßt ein neues Video, hochgeladen im Partei-Channel bei »MeinVZ«. Sitzt denen die Piratenpartei so im Nacken? Hoffentlich sind die Klickzahlen dann kein Omen. Claudia Roths Video vom »Ausbildungsboot für Fischwirte« hat nach 5 Tagen 85 Aufrufe.
Es freut mich, dass es den Grünen gut geht und sie ständig zulegen. Ich hätte gern, dass sie eine richtige Volkspartei werden. Als Wechselwähler brauche ich Optionen – schafft ein, zwei viele Volksparteien! Merkwürdig, dass sie es nicht längst sind. Wir leben doch in grünen Zeiten, alle ihre Themen haben Konjunktur. Und die Produktpiraterie der beiden großen Parteien, die sich in Nachhaltigkeitsrhetorik übertreffen, gibt den Pionieren recht. Dass der Klimawandel eine Tatsache ist, hat sich herumgesprochen – dank des grünen Alarmismus bevor der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, und der letzte Fisch gefangen ist. Aber das ist auch ein Problem: Die SPD brüstet sich jetzt mit der Ökopolitik, zu der sie sich in den Schröderschen KochundKellner-Zeiten nur widerwillig hat drängen lassen. Doch über den eigenen Erfolg können Grüne schlecht klagen.
Will ich die Grünen denn überhaupt schon wieder an der Regierung sehen? Ich schätze sie ja vor allem, wenn sie es sich und uns schwer machen. Mühsam haben sie sich zu einer interventionistischen Aussenpolitik hingequält, und sind nun damit nicht glücklich, versagen sich aber den populistischen Ausweg. Sie haben über Bosnien, Kosovo und Afghanistan ehrlicher gestritten als alle anderen. Aussenpolitisch sind sie – wider Willen – zur staatstragenden Partei geworden. Sie werden wohl als letzte aus Afghanistan abziehen, weil sie am meisten Herzblut vergossen haben.
Jetzt locken sie mit dem »grünen New Deal« und einer Million neuer Arbeitsplätze. Das sind zwar drei Millionen weniger als mit der SPD. Doch gefallen mir die Grünen heute besser, wenn sie Kritik am big government üben, statt selber darüber zu fantasieren. Wie sie die Abwrackprämie auseinandergenommen und sich über den schwarz-roten Etikettenschwindel mit der Umwelt hergemacht haben – das hatte was! Die Autosubventionen sollten nicht die Steinkohlesubventionen des neuen Jahrhunderts werden, hieß es. Manchmal schien es gar, als wäre den Grünen auch eine Opel-Insolvenz nicht undenkbar. Aber dann wieder wollen sie Banken noch früher verstaatlichen. Die Grünen sind in der Krise hin- und hergerissen wie alle anderen auch. Positiv gesagt: Sie sind fast schon eine richtige Volkspartei. Das erklärt ihr merkwürdigs Schillern beim Kampf um die bürgerliche Mitte: man bekämpft Schwarzgelb, will die FDP aber gegebenenfalls in eine Ampel einbinden und schließt gar Schwarzgrün nicht aus. Ich bin als Wechselwähler sehr flexibel. Aber da kann ich nicht mehr folgen.
Ob die Grünen auch darum lieber von ihren Inhalten reden, weil ihre Machtoptionen so widersprüchlich sind? Um grün zu wählen, müßte ich mich in einen zenbuddhistischen Zustand versetzen, in dem es mich nicht berührt, ob ich Steinmeier oder Merkel (oder gar Lafontaine) zur Macht verhelfe. Ich weiß nicht, ob ich die Nerven dazu habe. Gut möglich, dass ich die Grünen dennoch wähle, wenn die großen Parteien ihren Wahlkampf weiter entkernen.
Ich müßte allerdings die Finger vom Internet lassen. Was machen eigentlich Jürgen und Renate auf ihrer kultigen »Deutschlandtour«? Jürgen ist »auf dem Weg von Wuppertal nach Bergisch Gladbach«. Er schaut in die Kamera, Laptop auf dem Schoß. Er hat ein neues Video hochgeladen. O je, das wird schwerer als gedacht.