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Die befreite Angela

Und noch was aus der aktuellen Nummer der ZEIT von Yours truly (Nr. 42, S. 6) – über die Projektionen des befreundeten Auslands auf Schwarz-Gelb:

Wer liest, was die internationale Presse zum hiesigen Wahlergebnis schreibt, wird Zeuge der Entstehung eines politischen Mythos: der Befreiung von Angela Merkel.
Während die Koalitionäre in Berlin gerade erst begonnen haben, eine Formel für das schwarz-gelbe Bündnis zu suchen, projiziert die Welt schon munter Wünsche, Hoffnungen und Ängste auf die neue Regierung. Das einflussreiche britische Magazin Economist hat den Ton vorgegeben: »Angela Merkel ist befreit worden, um auf Veränderung zu drängen.« Schon vor der Wahl behauptete das ehrwürdige Kampfblatt des Wirtschaftsliberalismus, nicht Merkels »eigene Natur« habe sie gehindert, schärfere Reformen durchzupeitschen, sondern »die Gefangenschaft bei ihren Partnern von der SPD: Es ist Zeit, Angela zu befreien, damit wir sehen, was sie vermag.« Die Titelseite zeigte Merkel denn auch als Prinzessin im goldenen Käfig, bekleidet mit ihrer bekannten großkoalitionären Häftlingstracht – roter Blazer, schwarze Hose.
Als Befreier Angela Merkels feiert man nun den international weitgehend unbekannten »Mr. Westerwelle«. Durch ihn, so die Lesart, könne Merkel nun endlich wieder ihr altes Leipziger Reform-Selbst sein: »Und die neue schwarz-gelbe Regierung könnte genau das sein, was Deutschland braucht.« Fragt sich bloß, warum die aus der babylonischen Gefangenschaft unter Frank Nebukadnezar Steinmeier Befreite die ganze Woche nach der Wahl damit verbringt, ihren vermeintlichen Retter zu entzaubern. Angela Merkel hatte nichts Dringenderes zu tun, als die Liberalen in die Schranken zu weisen und Westerwelle klarzumachen, dass es in den Koalitionsverhandlungen eigentlich nichts zu verhandeln gebe. Eine komische Befreiung. Nach dem ersten Treffen der Delegationen haben beide Seiten immerhin Freude darüber bekundet, künftig miteinander regieren zu dürfen.
Auch über Westerwelles Außenpolitik weiß der Economist schon Genaueres als der wahrscheinliche Minister: Er sei viel »proamerikanischer« als sein Vorgänger und werde darum die deutschen Truppen länger in Afghanistan lassen. Und: »Weil er härter zu den Russen ist, wird er in einem Streich die deutschen Beziehungen zu Mittel- und Osteuropa verbessern.« Dass die Russen sich schon fürchten, ist aber unwahrscheinlich. Denn Westerwelle hat Scheel und Genscher – die personifizierte Entspannungspolitik – als Maskottchen der bundesrepublikanischen Kontinuität erkoren. Niemand würde sich wundern, wenn er im gelben Pullunder in sein neues Amt einzöge.
Während die einen Westerwelle als Putins neuen Zuchtmeister begrüßen, ergehen sich andere in traditionelleren britischen Fantasien über die deutsche Rolle in Europa. Beim Londoner Independent löste Westerwelles Weigerung, die Frage eines BBC-Reporters bei seiner ersten Pressekonferenz auf Englisch zu beantworten, altbewährte antideutsche Reflexe aus: »Wenn so etwas von dem Mann kommt, der wahrscheinlich deutscher Außenminister wird, dann ist das ein erhellender Vorgeschmack auf neuen teutonischen Geltungsdrang in internationalen Angelegenheiten.« Die Zeitung schrieb aber auch, Westerwelle sei »dauergebräunt« – was eigentlich wieder ziemlich unteutonisch ist.
Seit dem Wahlabend hat Angela Merkel immer wieder ihre Entschlossenheit zu Kontinuität demonstriert. Die Londoner Times hingegen hat hocherfreut einen »klaren Rechtsruck« in der deutschen Politik erkannt: Jetzt könne Merkel – »von der Leine gelassen« – endlich beweisen, dass sie keine »verkleidete Sozialdemokratin« sei. Auch die New York Times glaubt, Merkel werde jetzt »endlich die Chance haben, die Pläne für Liberalisierung durchzusetzen, die sie schon vorgeschlagen hatte, als sie zum ersten Mal kandidierte«. Und selbst der eher linksliberale Guardian hängt der Theorie von der »entfesselten Kanzlerin« an und sieht kommen – halb bangend, halb hoffend –, dass »Angela Merkel sich noch als Deutschlands Maggie Thatcher entpuppen« könnte. Ob man Le Monde (»Deutschland rückt nach rechts«), den Figaro (»Die konservative Revolution geht ihren Weg«) oder das Wall Street Journal (»klares Mandat für eine ideologische Lagerpolitik«) liest – überall wird das deutsche Wahlergebnis befreiungstheologisch gedeutet: Angie – free at last!
Wie mag das alles wohl die Kanzlerin erleben, von der es heißt, sie lese sehr viel Zeitung in diesen Tagen des Übergangs? Kaum vorstellbar, dass Merkels nahezu britisch stark ausgeprägtes Ironie-Gen nicht anspringt auf die Suggestion, dass sie sich nun befreit fühlen soll – während sie doch schon voll und ganz mit der Zähmung ihres selbstbewussten neuen Partners beschäftigt ist. Aber etwas Schmeichelhaftes hat der Mythos der befreiten Kanzlerin natürlich auch: Solange über die neue Regierung wenigstens im Ausland noch lebhaft getagträumt wird, kann es so schlecht um Deutschlands Platz in der Welt nicht stehen.

 

Sorgen eines Wechselwählers (7): Bekenntnis eines politischen Geisterfahrers

Zum letzten Mal – meine wöchentliche Kolumne zur Bundestagswahl (aus der ZEIT von morgen, Nr.41, S. 7):

Ich akzeptiere ohne Umschweife, dass ich die Wahl verloren habe. Es hilft kein Drumherumreden: Ich finde mich auf der Seite der Verlierer wieder. Ich habe SPD gewählt.
Überrascht bin ich allerdings nicht. Ich habe schließlich mit knirschenden Zähnen rot gewählt, weil mir das Desaster schon schwante. Und jetzt kann ich es ja sagen: Ich wollte sie gar nicht unbedingt an der Macht sehen, die Sozis. Elf Jahre sind erst mal genug. Diese Partei braucht eine Macht-Pause.
Das klingt paradox. Aber am letzten Sonntag schien es mir plötzlich vernünftig, eine chancenlose SPD zu wählen. Schwarz-Gelb verhindern? Darum ging es nicht mehr. Selbst wenn die Chance noch bestanden hätte: Ich hätte nicht mein Kreuz bei der SPD gemacht, um Merkel-Westerwelle zu blockieren. Ich hatte nun mal – und habe immer noch – keine Angst vor Angela und Guido. Mehr noch: Die Kampagne gegen die beiden als sozial kalte, radioaktiv strahlende Finanzhaie fand ich einfach nur töricht. Sie roch unangenehm nach den Achtzigern, als die Linke noch gegen die »geistig-moralische Wende« wetterte, als Kohl sie längst abgeblasen hatte.
Ich bin Wechselwähler. Durch Merkel bin ich vor vier Jahren schwach geworden und vom Rot-Grünen zum Unionswähler mutiert. Bereut habe ich es zwar nicht. Doch nun habe ich zu meinem eigenen Erstaunen noch einmal rot gewählt – vom erwartbar verlorenen Posten aus.
Eigentlich liegt mir das nicht. Ich will mit meiner Stimme etwas bewirken. Und beim Blick auf die Wählerwanderunsgdiagramme überkommt mich ein beißendes Gefühl der Vergeblichkeit: Der Wanderungssaldo zwischen SPD und Union beträgt 620.000 zu Gunsten der Kanzlerin! Hunderttausende Genossen stimmen für Merkel – und noch erstaunlicher: 430.000 wandern zur erzbösen FDP? Und ich auf der  Gegenspur als politischer Geisterfahrer?
Ich hatte es ja geahnt: Warum dennoch SPD? Eben weil ich mir schon dachte, dass die Stammkundschaft zuhause bleiben würde. Aber so viele – das hat mich doch umgehauen! Meine zarte Wechselwählerstimme ist kein Ersatz für zehn Hartz-4-Empfänger, die gar nicht mehr wählen.
Mein Wahlziel am letzten Sonntag war nur noch, die Demütigung der Partei zu verhindern. Damit bin ich – zugegeben – grandios gescheitert. Denn anders als meine Wenigkeit hat der SPD-Stammwähler nach elf Jahren Regierung keine sentimentalen Anwandlungen. Im Gegenteil. Nahezu zwei Millionen von seiner Sorte sind einfach zuhause geblieben. Seit 1998, rechnen uns die Demoskopen jetzt vor, hat sich die Wählerschaft der Sozis halbiert. Vielleicht haben die Leute ja Recht und die SPD braucht eine unmißverständliche Botschaft. Aber ein Desaster biblischer Dimension? Wo bleibt die Gerechtigkeit?
Klingt ganz schön sentimental.
Sei‹s drum: Ich habe nicht bloß aus Gefühligkeit und Mitleid SPD gewählt. Ich hatte ernsthafte taktische, demokratietheoretische Gründe. Ich glaube nämlich an das Modell der Volkspartei, das jetzt ein bisschen voreilig für obsolet erklärt wird. Ich hoffe sogar, in Zukunft wird es mehr als zwei davon geben. Keine Partei hat hierzulande Überlebenschancen als krawallige Klientelpartei, und das ist auch gut so. Alle müssen Volksparteien werden. Die FDP übt schon, die Linke sperrt sich im falschen Triumphgefühl. Und darum wird die SPD noch einmal gebraucht, genau wie die Union in ihrem Lager.
Ich bin merkwürdiger Weise auch als Verlierer eigentlich recht zufrieden mit dieser Wahl. Die Große Koalition war zwar besser als ihr Ruf. Sie hat die beiden Großen gezwungen, sich über ihre Nähe ehrlich zu machen. Aber für uns Wechselwähler war sie Gift. Wir brauchen keine ideologischen Lager im vermufften Retro-Look, aber ohne erkennbare Alternativen geht es nicht.
Eine stabile Regierung zu haben, ist nämlich nur das eine. Die Aussichten dafür stehen jetzt immerhin nicht schlecht. Aber für meinen seelischen Comfort als Wechselwähler ist wichtig, dass die Opposition als übernahmebereite Reserveregierung bereitsteht. Und da hakt‹s: Nach der Riesenklatsche vom Wochenende sehe ich nicht, wie das linke Lager sich unter Führung der Sozis zur schlagfähigen Ersatzmannschaft formieren könnte. Es ist ja nicht mal absehbar, ob die Sozis sich selber so bald eine neue Führung zimmern können. Viel hängt davon ab, ob der Linkspartei die SPD nun endlich klein genug ist – oder ob die wahre Demontage jetzt erst los geht.
Warum bin ich trotzdem alles in allem zufrieden? Die Volksparteien sind jetzt frei, unser zunehmend chaotisches Parteiensystem neu zu ordnen: Die Union muß der FDP die marktpopulistischen Flausen austreiben. Und die SPD (zusammen mit den Grünen) der Linken den Retro-Geist. Beide Parteien, die sich noch standhaft weigern, aus der Krise zu lernen, müssen sanft in die Gegenwart geführt werden. Und da hat die Machtverteilung ihren Sinn: Die Union kann das mit der FDP nur in der Regierung schaffen, die SPD mit der Linken nur in der Opposition.
Steinmeier war groß im Unglück: einen so graziösen Loser habe ich noch nie gewählt. Wer so anmutig, fair und ohne Ressentiment verlieren kann, dachte ich am Sonntagabend, dem möchte man wünschen, eines Tages auch mal zu gewinnen. Schon wieder diese Sentimentalität! Halten wir fest: Ich habe SPD gewählt, und die Partei hat verloren. Es war für die Katz.
Es tut mir zwar nicht leid. Trotzdem mache ich das so bald nicht wieder. Jedenfalls nicht aus dem gleichen Grund. Nächstes Mal, liebe Genossen, brauche ich schon ein besseres Motiv.

 

Sorgen eines Wechselwählers (6): Guido wählen?

Meine wöchentliche Kolumne zur Bundestagswahl (ZEIT Nr. 40, S. 6):

Alle vier Jahre frage ich mich: Warum eigentlich nicht die Gelben wählen? Diesmal, da Rekordergebnisse anstehen, besonders. Es lockt ein runderneuerter, spaßfreier, reumütig das Guidomobil verfluchender Dr. Westerwelle. Ein Kümmerer-Guido, der sich um Familien sorgt, das Hartz-IV-Schonvermögen erhöhen will und mit den über Fünfzigjährigen fühlt. Für diese Leute seien die Steuersenkungen, predigt er landauf, landab. Ich fürchte, ich werde es trotzdem nicht über mich bringen.
Meiner Klassenlage nach dürfte es mir eigentlich nicht so schwerfallen. Ich finde es aber peinlich, als »Leistungsträger« angebaggert zu werden, bloß weil meine Steuererklärung das hergibt. Es klingt verrückt: Ich zahle gerne Steuern. Ich lebe gerne in diesem Land und halte es für einen fairen Deal, dafür zur Kasse gebeten zu werden. Darum bringe ich es nicht fertig, eine Partei zu wählen, die mir einflüstert, ich würde hier ausgenommen. Ich finde das reichlich unpatriotisch.
Die Ausschließeritis – keine Ampel (mit der FDP), kein Jamaika (mit den Grünen), sowieso kein Rot-Rot-Grün – ist schon schade: Als Wechselwähler hatte ich gerade begonnen, Freude an meinen bunten Optionen zu finden. Andererseits hilft es mir schwankendem Rohr: Schwarz-Gelb oder Schwarz-Rot, das ist doch mal eine klare Sache. Ade, neue Unübersichtlichkeit.
Alle schließen irgendetwas aus, aber Topausschließer der Nation ist Westerwelle. Dass die FDP ihre Ehre daran hängt, mit den Sozen über eine Ampel nicht einmal pro forma zu reden, auch wenn’s für ein Bündnis Merkel-Westerwelle nicht reicht, ist mir aber zu hoch. Ich verstehe schon, dass Westerwelle die vielen enttäuschten Unionisten nicht verprellen will, die ihm diesmal nur die Stimme leihen. Doch dass ein Liberaler mit einer SPD, die wegen Hartz IV und Rente mit 67 am Abgrund torkelt, nicht mehr reden kann, ergibt keinen Sinn. Eine Union, die Westerwelle hämisch »sozialdemokratisiert« nennt, ist einzig denkbarer Koalitionspartner? Sorry, da komme ich nicht mehr mit. Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, als man SPD-FDP-Koalitionen für etwas Natürliches hielt. Jetzt sollte ich mich wohl schon mal auf Schwarz-Gelb 2.0 einstellen.
Die Protagonisten haben ein starkes Argument: Wir oder das Chaos! Da ist ganz sicher was dran. Merkwürdig nur, dass Union und FDP völlig konträr für Schwarz-Gelb werben. Hilf uns, Merkel aus den Sozi-Klauen zu befreien!, ruft Westerwelle. Sie hat zwar Opel gerettet und Banken verstaatlicht, aber eigentlich ist sie ganz okay. Wir müssen die Leipziger Reform-Angie freilegen!
Anders die Kanzlerin: Ich will die Liberalen vor dem schlimmsten neoliberalen Irrsinn bewahren, flüstert sie. Ich werde ihnen in der Regierung schon die Lektionen der Finanzkrise beibiegen. Wir müssen Guido zähmen, ich schaffe das.
Diese beiden wollen das Chaos verhindern?
Ein linker Freund kam letztens mit folgender Theorie: Wenn du willst, dass sich eine linke Mehrheit formiert, musst du FDP wählen. Nur Schwarz-Gelb macht Rot-Rot-Grün möglich.
Das ist mir einen Tick zu schlau. Als Wechselwähler brauche ich zwei funktionierende Lager, geführt von Volksparteien: Regierung und Reserveregierung – für den Fall, dass die erste Mannschaft Mist baut. Das spricht gegen die Große Koalition. Ich will aber auch nicht, dass die SPD gedemütigt wird. Uff. So schlimm war es noch nie. Drei Tage noch. Bis Sonntag vor der Kirche werde ich doch wohl wissen, was ich wählen soll!
Aber das habe ich letztes Mal auch gedacht.

 

Sorgen eines Wechselwählers (5): CDU ohne Alternative?

Meine wöchentliche Kolume aus der ZEIT von morgen, Nr 39, S. 10:

Seit Steinmeier nicht übel abgeschnitten hat beim TV-Duell, kapriziert die andere Seite sich auf ein Killer-Argument: Der Kerl kann keine Regierung bilden. Er hat keine Machtoption!
Ich muss gestehen, das ist kein schönes, aber ein sehr starkes Argument, das mich mitten ins wankelmütige Herz trifft. Ich bin Wechselwähler, und in unserer zunehmend unübersichtlichen Parteienlandschaft heißt das: taktischer Wähler. Ich wähle nicht nur nach Überzeugung. Ich will mit meiner Stimme einen Wirkungstreffer landen. Wenn ich nun die Wahl habe zwischen einem Mann ohne Machtoption und einer Frau mit dreien, dann sollte es wohl eine klare Sache sein, bei wem ich mein Kreuzchen  mache.

Steinmeier kann zwar Schwarz-Gelb verhindern, aber keine Ampel formieren (Guido mag nicht) und kein rot-dunkelrot-grünes Bündnis schmieden (er selber mag nicht). Es wäre ein schöner Erfolg für ihn, Westerwelle einen höllischen Wahlabend zu bereiten und in der Opposition zu halten.
Meine Stimme für die Union hätte hingegen dreifache Gewinnchance: Große Koalition kann Merkel auf jeden Fall, Schwarz-Gelb vielleicht und womöglich (unwahrscheinlich) sogar Schwarz-Grün. Verlockendes Polit-Lotto!

Also Union wählen und sehen was rauskommt? Mir fiele es leichter denn je, und die Kanzlerin hat viel dafür getan: Sie hat die Partei gründlich entmufft. Spendensumpf getrocknet, Homann rausgeschmissen, Familienpolitik entrümpelt, Einwanderung akzeptiert, Klimawandel angefaßt. Merkel hat die Union sozialdemokratisiert und ihr die Obsession mit einem Konservatismus ausgetrieben, den keiner mehr lebt. Richtig so! Sie ist mir manchmal schon zu links, etwa beim Opel-Retten. Dass eine Unionskanzlerin sich freut, Putin zu ermöglichen, mit deutschem Geld eine amerikanische Firma zu kaufen, ist mir dann doch zu viel. Und wenn ich sie über gierige Manager schimpfen höre, möchte ich am liebsten einwenden, dass einige meiner besten Freunde Manager sind und ganz in Ordnung.

Wenn sie von Deutschland redet, geht es nur noch um unterbezahlte Friseurinnen und gierige Bonifresser. Die Mitte, die sie
doch wählen soll, kommt kaum noch vor.
Ich gehöre aber irgendwie zu dieser Mitte. Die Steuersenkung, die die Kanzlerin (sehr vage) verspricht, ist für mich. Und das empfinde ich als Beleidigung meiner Intelligenz. Ich war sehr fürs Bankenretten und auch fürs Konjunkturpaket. Ich weiss, wieviel Schulden wir haben. Und ich vermute, dass Angela Merkel selbst nicht daran glaubt, dass in absehbarer Zeit Steuersenkungen drin sind. Also warum sagt sie es? Weil sie mit meinen niederen Instinkten rechnet oder weil sie zwinkernd hofft, dass ich sie nicht ernst nehme?
Die Kanzlerin hält sich alles offen und ruft mir von allen Plakatwänden zu, dass ich an ihr eh nicht vorbeikann: »Wir wählen die Kanzlerin«, mahnen die CDU-Großflächen. Ich übersetze mir das so: Du könntest mir vielleicht noch Schwarz-Gelb kaputtmachen, mein Lieber. Aber regieren werde ich doch, mit wem auch immer. Also: Verhindern oder Gestalten?
Das ist für machtbewußte Wechselwähler, wie gesagt, ein bedenkenswertes Argument. Aber es ist auch gefährlich: Wir werden ziemlich fuchsig, wenn man uns bedeutet, dass wir zwar wählen können, aber einen Wechsel (an der Spitze) bitte nicht erwarten sollten. Eins können wir auf den Tod nicht ausstehen: Dass man keine Angst mehr vor uns hat. Ja, unser Herz ist ein beweglicher kleiner Muskel. Doch wir Flexiblen sind es, die dafür sorgen, dass Regierende nicht übermütig oder müde werden und Opponierende nicht bitter und demagogisch, weil sie bald schon wieder regieren können müssen. Alle Parteien mussten in Furcht vor unserer Flatterfhaftigkeit leben.
Bisher. Die Kanzlerin fürchtet mich nicht. Unerbittlich freundlich und alternativlos baut sie sich sich vor mir auf. Ich soll wählen, was ich nicht verhindern kann. Ich habe manchmal schon richtige Kohl-Flashbacks. Kann sein, dass mich das noch auf die andere Seite treibt.

 

TV-Duell: Eine journalistische Katastrophe

Zeit für einen Wutanfall.

Kann es sein, dass die Journalisten (wir Journalisten) die Krise unseres politischen Systems herbeischreiben und herbeiquatschen (um mal beim gestrigen Abend zu bleiben), die wir dann beklagen?

Wie sich die vier Frager gestern abend bei dem „Duell“ zwischen Merkel und Steinmeier präsentiert haben, war beschämend. Statt die Kontrahenten zu den Inhalten zu befragen, wurde sofort auf die Metaebene ausgewichen: Sind Sie nicht ein altes Ehepaar? Wann wird der Wahlkampf endlich unterhaltend? (Als ginge es darum!) Wollen Sie nicht in Wahrheit eine zweite Große Koalition gründen? (Als wäre das nicht dem Wähler vorbehalten.) Und dann noch die „Tigerentenkoalition“ (Illner) oder die Schulnoten für Gerechtigkeit (Plasberg)! Halten diese Kollegen eigentlich das Publikum für doof und uninteressiert? Oder glauben sie, dass es eigentlich um nichts geht? Sie vermittelten jedenfalls den Eindruck.

Es wurde kaum in der Sache nachgefragt – Merkel nicht zu ihrem Steuerpopulismus, Steinmeier nicht zu seiner Opel-Retterei.

Immer wieder dieser Schwachsinn (Verzeihung), dass den beiden Kandidaten unterstellt wurde, sie könnten sich nichts Schöneres vorstellen als gemeinsam weiterzuregieren! Die Große Koalition war aber 2005 nicht gewünscht.Und sie wird auch nicht in Neuauflage erwünscht.

W i r (Wähler) haben sie herbeigewählt, die beiden Parteien haben sich in sie fügen müssen – und nun stehen beide vor historisch schlechtesten Wahlergebnissen. Und vor schrumpfenden Parteien, denen die Anhänger das Vertrauen entziehen.  Und müssen sich noch dazu vorhalten lassen, „langweilig“ zu sein. An der Zerstörung des Politischen ist diese Geschmäcklerei mit schuld.

Unerträglich auch der eitle Claus Peymann bei Anne Will, der sich „Sarkozy oder Berlusconi“ herbeiwünschte und der deutschen Politik „Zwergenhaftigkeit“ vorhielt. Was ist er denn selber für ein Geistesriese mit dieser Einlassung! Der Mann hält sich für links, aber sein populistische Schelte zeigt, aus lauter Rambazamba-Sehnsucht wäre er auch rechts sehr flexibel.

Die Intellektuellen (solche jedenfalls) sind in Deutschland das größere Problem für die Demokratie als die Politiker. Und die Journalisten dazu. Die Bildzeitung konnte sich ihren vorher ausgedachten Gag (Yes we gähn) nicht verkneifen, aber der Boulevard ist hier wirklich überall.Das Angeödetsein wird auch in manchen Qualitätsmedien gerne ausgestellt.

Wir haben keine korrupte, kaputte politische Kultur wie England. Wir haben keine zerstörte politische Kultur wie Amerika (wo Obama der blanke Hass entgegenschlägt). Wir haben keinen Berlusconi, keinen Wilders, keinen Blocher, keinen Le Pen, keinen Haider. Wir sind ein glückliches Land, was unser politisches Personal angeht.

Aber wir arbeiten hart daran, das kaputtzumachen.

 

Sorgen eines Wechselwählers (4): Kein Kreuz, nirgends?

Meine wöchentliche Kolumne zur Bundestagswahl, aus der ZEIT von morgen, Nr. 38, S. 9:

Und wenn man diesmal einfach wegbliebe? Nichtwähler würde?
Aufgewachsen unter Stammwählern, die nach der Kirche im besten Anzug (man sagte »Sonntagsstaat« dazu) ihr Kreuz zu machen pflegten, mit Gewissenszweifeln zum Wechselwähler geworden, ist die Hürde immer noch hoch für mich. Aber es könnte passieren, dass sie mich doch noch hinübertreiben. Ich bin ja kein Exot mit solchen Gedanken: Kaum mehr als zwei Drittel sind entschlossen, wählen zu gehen. Bis zu 17 Millionen Wahlabstinente werden diesmal erwartet. Wenn es schlecht läuft für die SPD, hat sie am Ende weniger Stimmen als die sogenannte Partei der Nichtwähler.
Kein Wunder: Die Kanzlerin erstickt zärtlich jeden Profilierungsversuch des Gegners in Umarmungen. Sie hat alles immer schon im Angebot – jetzt sogar den Abzug aus Afghanistan (sie nennt es »verantwortliche Übergabe«). Steinmeier tituliert sie maliziös als »Mitbewerber«. Herausforderer ist er für sie offenbar nicht.
Ein Lagerwahlkampf findet nicht statt. Nicht dass ich mich nach den Zeiten von »Freiheit oder Sozialismus« und »Stoppt Strauß« sehne. Ich frage mich allerdings gelegentlich, ob ich am 27. nicht gleich zu Hause bleiben kann, weil es auf mich nicht ankommt. Denn Merkel wird es wohl am Ende wieder werden, in welcher Konstella­tion auch immer. Die meisten denken das, selbst Sozis, auch wenn sie es nicht sagen.
Wenn sich aber das Gefühl breitmacht, über den Kanzler nicht mehr mitbestimmen zu können, ist erst mal die Luft raus. Bleibt das taktische Wählen, um wenigstens die Koalition mitzubestimmen. Es ist allerdings zu einer hochkomplexen Nanotechnologie geworden. Nie war mir unklarer, was meine Stimme bewirken kann. Mit einem Kreuz bei der Union bekäme ich vielleicht nicht die sozialdemokratisierte Merkel, die mir eigentlich gut gefällt, sondern eine von der FDP getriebene unfreiwillige Retro-Neoliberale. Ich müsste also Steinmeier wählen, um Merkel vor Westerwelle zu beschützen? Wähle ich aber Steinmeier in eine zweite Große Koalition, beschleunige ich womöglich den weiteren Zerfall der SPD (worüber sich dann am meisten die Linke freuen würde). Wähle ich Grün, weiß ich nicht, ob meine Stimme mit Merkel, Steinmeier oder gar Westerwelle (Ampel) nach Hause geht. Und Linkswählen wäre ohnehin schon sehr nah am Nichtwählen, weil (diesmal) niemand mit den Dunkelroten regieren wird. Wenn ich zu viel über diese Optionen nachdenke, habe ich einen meiner ohnmächtigen Nichtwähler-Momente.
Aber wir Wechselwähler sind geltungsbedürftig. Wir stimmen nicht (nur) ab, um Zugehörigkeit zu einer Richtung zu bekunden. Ich wechselwähle auch, weil ich das Gefühl von Einfluss am Wahlabend genieße, wie illusionär auch immer.
Als Nichtwähler müsste ich darauf verzichten. Nur im besorgten Stirnrunzeln der Wahlforscher könnte ich meine Spur erkennen, in ihren Kassandrasprüchen über die »Demokratie ohne Demokraten«. Und so will ich mich am Ende wohl doch nicht sehen.
Mag sein, dass es nie irrationaler war zu wählen. Ich fürchte, ich werde es doch wieder nicht lassen können. Ich möchte mich in den Gewinn- und Verlustbalken am Wahlabend wiederfinden. Ich will die Wirkung meines Kreuzchens auf den Gesichtern geschlagener Favoriten, unverhoffter Aufsteiger und gestürzter Hoffnungen ablesen können.

 

Sorgen eines Wechselwählers (3): Links wählen?

Meine wöchentliche Kolumne zur Wahl aus der ZEIT von morgen, Nr. 37, S.5:

Sie haben das Plakat direkt vor mein Fenster gehängt: Raus aus Afghanistan. Die Linke. Als wüßten sie, dass hier jemand wohnt, den manchmal Zweifel am Afghanistan-Einsatz plagen. Raus müssen wir irgendwann. Aber von jetzt auf gleich abziehen? Ich frage mich, was links daran sein soll, Afghanistan umstandlos den Taliban zurückzugeben. Wenn Kaltschnäuzigkeit links ist, will ich lieber kein Linker sein.

Das wäre immerhin geklärt. Leider führt es nicht sehr weit. Ich bin nämlich Wechselwähler. Ich wache an manchen Tagen voll konservativ-liberalem Tatgeist auf und denke, dass sich Leistung wieder lohnen müsse und das deutsche Gymnasium zum Kulturerbe der Menschheit gehört. Dann wieder liege ich nachts wach und wälze mich von rechts nach links, weil die Gesellschaft auseinanderdriftet und wir trotz aller Warnungen munter den Planeten verfrühstücken, im fluoreszierenden Schein der Energiesparlampen.

Das sind Momente, in denen ich mir vorstellen kann, ein Linker zu sein und links zu wählen. Und nun muss ich mir wohl eine Meinung zu Bodo Ramelow bilden, dem Sieger von Thüringen, mit Oskar Lafontaine maßgeblicher Schöpfer der Linkspartei. Lafontaine interessiert micht nicht so. Sein Kampf mit der SPD hat etwas Privates, Obsessives. Leute wie Ramelow aber werden noch länger mitbestimmen, was es heißt, in Deutschland links zu sein.

Wer wie ich schon Rot und Grün gewählt hat und sich diese Optionen offenhalten möchte, braucht jetzt eine Haltung zur Linkspartei, auch wenn die SPD-Lautsprecher abwiegeln. Zu verkünden, dass die »Welle Lafontaine gebrochen« sei, wie es der große Dadaist der Sozis, Franz Müntefering, ausgerechnet nach Lafos historischem Wahlsieg tat, ist einfach nur albern, zumal die SPD auf eben dieser Welle reiten will. Rotrotgrün wird irgendwann, irgendwo kommen, vielleicht schneller als gedacht. Die Wiedervereinigung der Linken steht auf dem Programm. Fragt sich nur, wer dabei das Sagen hat.

Als Wechselwahl-Hallodri bin ich zumVollzeitlinken nicht geeignet. Aber ich habe ein Interesse an einer starken Sozialdemokratie. Ich möchte eine verantwortliche Linke, die sich damit abgefunden hat, dass der Staat die »Reparaturwerkstatt des Kapitalismus« ist, statt dieses Faktum zu skandalisieren. Doch die Linkspartei behauptet immer noch, den Kapitalismus zugunsten einer Staatswirtschaft überwinden zu wollen. Das ist so gestrig wie der Glaube der FDP, Kapitalismus werde ohne Staat erst schön.
Merkwürdige Parallele: Die Linkspartei hat wie die neoliberale FDP in der Krise kein neues Verhältnis zum Staat gefunden. Vielleicht müßten beide mal richtig regieren, denke ich, damit ihnen die populistischen Flausen ausgehen.
Bevor es dazu kommt, würde ich die Linkspartei gerne von den Sozialdemokraten gezähmt sehen ­ so lange deren Kraft dazu noch reicht. Aber hier lauert ein Dilemma: Eine starke Sozialdemokratie setzt eine wiedervereinigte Linke voraus. Die SPD wird darum eines Tages mit den Dunkelroten und den Grünen ihre einzig verbliebene Machtoption auch realisieren müssen.

Mir leuchtet das ein. Aber ich sehe es auch mit Grausen. Denn mir schwant schon, dass ich diese Linksbündnis-SPD nicht wählen werde, wenn sie erst den Preis für die »Machtperspektive« gezahlt hat, die man ihr linkerseits so maliziös anbietet. Reform-Rollback, Rentengarantie, Einheitsschule, Mindestlohn ­ das werden ja so die Themen sein. Vielleicht sehe ich es zu pessimistisch. In Berlin hat die Partei die Reformen des Wowereit-Sarrazin-Senats tapfer mitgetragen, brutale Einschnitte im öffentlichen Dienst, die die Berliner CDU feige gemieden hatte.
Wie stehe ich nun zu Bodo Ramelow? Er ist mir einfach zu laut. Thüringer Kollegen wollen beobachtet haben, dass er sich Reissnägel ins Müsli streut, um seine Stimme rauh zu halten. Ich halte das für plumpe antikommunistische Propaganda. Die hat übrigens keine Chance: Ramelow ist mit einer attraktiven italienischen Kommunistin namens Germana Alberti vom Hofe verheiratet, Tochter von Barrikadenkämpfern aus Parma. An deren Bolschewik-Chic prallt nachgeholter Antikommunismus einfach ab.
Ich möchte übrigens bitte, bitte, keinen Kaltekriegswahlkampf erleben, in dem sich die Lager, die wir Wechselwähler am letzten Sonntag so schön in Klump gehauen haben, wie Zombies wieder aufrichten. Dann könnte es passieren, dass ich vom Wechsel- zum Nichtwähler werde.

 

Sorgen eines Wechselwählers (2): 85 Klicks für Claudia Roth

Meine wöchentliche Kolumne zur Bundestagswahl aus der ZEIT (Nr. 36, S.5)

In jedem Wahlkampf denke ich irgendwann: Vielleicht sollte man einfach Inhalte wählen, statt über Taktik und Machtoptionen zu grübeln. Zum Beispiel die Grünen. Grün wählen bedeute »grüne Inhalte« wählen, betont die Partei auffallend oft. Das klingt aber einfacher als es ist. Denn da ist das Spitzenpersonal davor.
Ich bin Wechselwähler und habe schon aus verschiedensten Motiven gewählt (auch grün) – noch nie aus Mitleid. Ich habe aber Mitleid mit Jürgen Trittin und Renate Künast, mit Cem Özdemir und Claudia Roth. Die Vier bloggen und twittern pausenlos von ihren Wahlkampfreisen. Tag für Tag grüßt ein neues Video, hochgeladen im Partei-Channel bei »MeinVZ«. Sitzt denen die Piratenpartei so im Nacken? Hoffentlich sind die Klickzahlen dann kein Omen. Claudia Roths Video vom »Ausbildungsboot für Fischwirte« hat nach 5 Tagen 85 Aufrufe.
Es freut mich, dass es den Grünen gut geht und sie ständig zulegen. Ich hätte gern, dass sie eine richtige Volkspartei werden. Als Wechselwähler brauche ich Optionen – schafft ein, zwei viele Volksparteien! Merkwürdig, dass sie es nicht längst sind. Wir leben doch in grünen Zeiten, alle ihre Themen haben Konjunktur. Und die Produktpiraterie der beiden großen Parteien, die sich in Nachhaltigkeitsrhetorik übertreffen, gibt den Pionieren recht. Dass der Klimawandel eine Tatsache ist, hat sich herumgesprochen – dank des grünen Alarmismus bevor der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, und der letzte Fisch gefangen ist. Aber das ist auch ein Problem: Die SPD brüstet sich jetzt mit der Ökopolitik, zu der sie sich in den Schröderschen KochundKellner-Zeiten nur widerwillig hat drängen lassen. Doch über den eigenen Erfolg können Grüne schlecht klagen.
Will ich die Grünen denn überhaupt schon wieder an der Regierung sehen? Ich schätze sie ja vor allem, wenn sie es sich und uns schwer machen. Mühsam haben sie sich zu einer interventionistischen Aussenpolitik hingequält, und sind nun damit nicht glücklich, versagen sich aber den populistischen Ausweg. Sie haben über Bosnien, Kosovo und Afghanistan ehrlicher gestritten als alle anderen. Aussenpolitisch sind sie – wider Willen – zur staatstragenden Partei geworden. Sie werden wohl als letzte aus Afghanistan abziehen, weil sie am meisten Herzblut vergossen haben.
Jetzt locken sie mit dem »grünen New Deal« und einer Million neuer Arbeitsplätze. Das sind zwar drei Millionen weniger als mit der SPD. Doch gefallen mir die Grünen heute besser, wenn sie Kritik am big government üben, statt selber darüber zu fantasieren. Wie sie die Abwrackprämie auseinandergenommen und sich über den schwarz-roten Etikettenschwindel mit der Umwelt hergemacht haben – das hatte was! Die Autosubventionen sollten nicht die Steinkohlesubventionen des neuen Jahrhunderts werden, hieß es. Manchmal schien es gar, als wäre den Grünen auch eine Opel-Insolvenz nicht undenkbar. Aber dann wieder wollen sie Banken noch früher verstaatlichen. Die Grünen sind in der Krise hin- und hergerissen wie alle anderen auch. Positiv gesagt: Sie sind fast schon eine richtige Volkspartei. Das erklärt ihr merkwürdigs Schillern beim Kampf um die bürgerliche Mitte: man bekämpft Schwarzgelb, will die FDP aber gegebenenfalls in eine Ampel einbinden und schließt gar Schwarzgrün nicht aus. Ich bin als Wechselwähler sehr flexibel. Aber da kann ich nicht mehr folgen.
Ob die Grünen auch darum lieber von ihren Inhalten reden, weil ihre Machtoptionen so widersprüchlich sind? Um grün zu wählen, müßte ich mich in einen zenbuddhistischen Zustand versetzen, in dem es mich nicht berührt, ob ich Steinmeier oder Merkel (oder gar Lafontaine) zur Macht verhelfe. Ich weiß nicht, ob ich die Nerven dazu habe. Gut möglich, dass ich die Grünen dennoch wähle, wenn die großen Parteien ihren Wahlkampf weiter entkernen.
Ich müßte allerdings die Finger vom Internet lassen. Was machen eigentlich Jürgen und Renate auf ihrer kultigen »Deutschlandtour«? Jürgen ist »auf dem Weg von Wuppertal nach Bergisch Gladbach«. Er schaut in die Kamera, Laptop auf dem Schoß. Er hat ein neues Video hochgeladen. O je, das wird schwerer als gedacht.

 

Sorgen eines Wechselwählers (1)

Meine Kolumne aus der ZEIT Nr. 35 (S.3) von morgen. Ab jetzt wöchentlich bis zur Wahl.

Fast hätten sie mich gehabt. Erst das 67-Seiten-Papier mit seinen drögen, vernünftigen Vorschlägen. Nicht alles toll, aber immerhin Inhalte! Steinmeiers »Deutschland-Plan« gefiel mir um­so besser, je lustvoller darauf eingedroschen wurde. Dann kamen die Umfragen, in denen die SPD knapp über zwanzig Prozent lag, hart verfolgt von Horst Schlämmer. Das hat die Partei nicht verdient! Ich müsste wohl, dachte es in mir, SPD wählen, aus einer Mischung von Respekt und Gerechtigkeitsgefühl. Die Sozis sind krass unterbewertet – nach einem Jahrzehnt schmerzhafter Reformen. Allerdings weiß ich nicht, ob dieses Gefühl noch eine Runde Urlaubsbilder von Ulla Schmidt übersteht – und Münteferings verzweifelt lachhafte Angriffe auf die Kanzlerin, sie interessiere sich nicht für Arbeitsplätze und solle besser schon mal »die Umzugskisten packen«.
Ich bin Wechselwähler – und ich bin diesmal unglücklicher denn je. Vielen aus unserer beargwöhnten Spezies geht es genauso. Wir werden immer wichtiger – genießen können wir es nicht. Wir sind das schmutzige kleine Geheimnis der Demokratie. Ohne uns geht nichts. Wir stürzen Regierungen, wir zwingen Große Koalitionen herbei, um sie anschließend zu hassen. Und uns selbst ein bisschen mit. Die Politiker zittern heute mehr denn je vor uns. Unsere Stimmen zählen doppelt, verglichen mit denen der Stammwähler (wir waren mal welche), weil wir sie den einen entziehen und den anderen geben. Wer uns gewinnt, lobt unsere Rationalität. Wer uns verliert, verflucht unsere Wankelmütigkeit. Leider stimmt beides.
Die Demoskopen kennen seit Jahren das Problem, uns zu fassen zu bekommen: Wir neigen dazu, uns nachträglich konsistenter und konsequenter darzustellen, als wir in Wahrheit sind. Wir wollen (auch uns selbst gegenüber) oft nicht zugeben, hin- und hergesprungen zu sein. Ein Ruch von Verrat und Beliebigkeit hängt uns an. Nicht zu Unrecht: Wir sind politisiert und gut informiert – und doch sprunghaft und launisch bis zur Zickigkeit. Letztes Mal haben viele von uns am Sonntag anders gestimmt, als sie noch am Samstag dachten. Die Demoskopen hassen uns seither und leben doch gut von uns.
Ich möchte jetzt eigentlich schon gern wissen, wie es weitergehen würde mit Merkel. Nicht aus Begeisterung, sondern weil ich mir nach vier Jahren kein Urteil machen kann. Es war keine schlechte Zeit. Aber war das schon alles? Ich bin irgendwie noch nicht fertig mit der Kanzlerin – genau wie all jene, die ihr in Umfragen tolle Noten geben und ihrer Partei die kalte Schulter zeigen. Das ist kein hehres Motiv, und ich weiß auch nicht, ob es noch lange tragen wird. Denn wenn die Kanzlerin mit ihrem »präsidialen Wahlkampf« weitermacht, wird sich meine Neugier auf ihre zweite Amtszeit in Grenzen halten. Immer die andere Seite vorpreschen lassen und dann sagen, das alles könne man übrigens auch bei der Union haben – das Ökologische, den aktiven Staat, die gesellschaftliche Modernisierung, die Regulierung der Finanzmärkte – ist schon ziemlich mau. Kommt ein Konzept doch an die Oberfläche, wird es gleich als »obsolete Ideensammlung« in die Tonne getreten.
Seit Monaten Rekordwerte beim Wechselwunsch: Fast zwei Drittel wollen eine andere Regierung. Doch nur jeder Dritte möchte, dass sich dadurch viel verändert. Mir geht es auch so: Ich bin prinzipiell unglücklich mit der Großen Koalition, weil sie schlecht ist fürs System, weil sie Langeweile und Mutlosigkeit befördert. Andererseits: Die beiden Großen haben uns zusammen nicht schlecht durch die Krise gebracht. Also, ich will einen Wechsel, aber keinen Bruch. Und ich habe keine Ahnung, wie ich das wählen soll. Ob ich wohl mal bei den Grünen vorbeischaue? Ich bin mir ziemlich sicher, die schon mal gewählt zu haben.

Bis zur Bundestagswahl wird Jörg Lau in der ZEIT den
Wahlkampf aus Sicht eines Wechselwählers kommentieren