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8 Thesen zu Wikileaks

 

1 Wikileaks Enthüllungen nutzen dem Iran. Das Land steht nun als einziger aufrechter Hort des Widerstands gegen das amerikanische Imperium da. Die anderen Mächte der Region sind als Lakaien und Stiefellecker Amerikas entlarvt. (Sie nützen auch Israel, siehe unten.)

2 Die amerikanischen Diplomaten, die düpiert werden sollen, kommen eher gut weg. Ihre Berichte sind oft nicht nur gut recherchiert, sondern auch noch gut geschrieben. Mein Favorit: Putin und Medwedjew als „Batman und Robin“! Klasse, da muss man erst mal drauf kommen!

3 Obama und Clinton stehen auch eher gut da: Sie haben sich dem Druck, Iran zu bombardieren (der noch viel massiver ist als geahnt), bisher entzogen und haben sehr geschickt eine große Koalition gegen Iran gezimmert: der „Reset“ mit Rußland diente diesem Ziel, die Raketenabwehrpläne Bushs wurden zum Kapital im Handel mit den Russen umgeschmiedet. Ebenso die Diplomatie mit China: sehr geschickt wurde den Chinesen eine Alternative zum iranischen Öl vermittelt, indem man die saudischen Kontakte nutzte.

4 Die deutsche Regierung steht deppert da – aber: „what else is new“? Die Depeschen von Botschafter Lästermaul werden keine großen Folgen haben, weil sie das Maß des in deutschen Medien üblichen kaum überschreiten. Das ist alles höherer Klatsch.

5 Grundsätzlich: Je länger ich darüber nachdenke, um so falscher finde ich die Veröffentlichung des Kabel (bisher). Die Vorstellung, die Welt wäre besser, wenn alle alles von allen wüßten – Wikileaks‘ Geschäftsgrundlage – ist unfaßlich naiv und zeugt von einer geradezu kindlichen Weltsicht. Wer schon einmal ein Familienfest erlebt hat, bei dem die Verwandten einander endlich die Wahrheit sagen, weiß was ich meine. (Ich sage nur: Festivus, The Airing of Grievances. Seinfeld-Fans wissen, wovon ich rede.) Ich spreche aus beruflichen Gründen regelmäßig vertraulich mit Diplomaten. Sie müssen sich darauf verlassen können, dass ich mich ebenso an die Chatham-House-Regel halte wie ich umgekehrt mit ihrer Diskretion rechne. Sonst war es das letzte Treffen, und zwar zu recht. Brechen darf man eine solche Verabredung nur, um gravierenden Schaden abzuwenden. Bisher ist mir nicht ersichtlich, wo die Wikileaks-Dokumente dies rechtfertigen könnten.

6 Die Enthüllungskultur von Wikileaks trifft (was Cablegate angeht!) nur ohnehin schon relativ transparente, demokratische Gesellschaften. Alle Staaten, die nur 100%ige Kader in ihren Reihen dulden, sind auf diese Weise unverwundbar. Deren Diplomaten schreiben Berichte eh nicht so „candid“ und ungeschützt wie die Amerikaner. Und Menschen, die dort leaken, müssen mit ganz anderen Repressionen rechnen. Also könnte es sein, dass die radikale Transparenz-Ideologie von Wikileaks de facto der Freiheit einen Tort antut? (Das ist kein Plädoyer gegen echte Enthüllungen.) Diplomaten der USA handeln im Auftrag einer gewählten und abwählbaren Regierung, die ihre Außenpolitik im Kongress erklären und verantworten muss. Julian Assange ist von niemandem gewählt und auch nicht vom Weltgeist beauftragt worden. Er stellt aber sein Handeln als legitim dar und suggeriert, das diplomatische Regierungshandeln sei schon deshalb illegitim, weil es der Geheimhaltung unterliegt. Das ist eine Verdrehung der Realität und eine Anmaßung. (Die Anweisung der US-Regierung an Diplomaten, sie sollten sich als Spione betätigen und persönliche Daten ihrer Konterparte ermitteln, ist eine Ausnahme hiervon und bisher der einzige Scoop der Enthüllungen.)

7 Wikileaks sieht sich offenbar als Kämpfer gegen den bösen Drachen des amerikanischen Emipres. So mutig ist das denn doch nicht mehr: Denn leider ist dieses seit Jahren für alle ersichtlich im Abschwung. So erscheint es auch in den Cables, wie der Guardian treffend schreibt:  „The impression is of the world’s superpower roaming helpless in a world in which nobody behaves as bidden. Iran, Russia, Pakistan, Afghanistan, Yemen, the United Nations, are all perpetually off script. Washington reacts like a wounded bear, its instincts imperial but its power projection unproductive.“ Meine Genugtuung über die Relativierung amerikanischer Macht hält sich in Grenzen, bis jemand mir eine Macht oder meinetwegen Mächte zeigt, die den Job besser machen – oder überhaupt bereit wären, in die Lücke zu treten. Auch in diesem Sinn sind die Kabel entlarvend: Sie zeigen eine Welt, die nicht mehr auf Amerika hört, aber doch im Zweifelsfall auf Washington starrt, wenn es gilt, Probleme zu lösen, ganz egal ob Nahost, Iran, Nordkorea oder den Klimawandel.

8 Noch etwas. Israel ist bisher das einzige Land, das sich in seiner Weltsicht und in seiner Gefahrenanalyse voll bestätigt sieht. Eine sicherlich unbeabsichtigte Nebenfolge der Wikileaks-Enthüllungen: So kann es gehen: Du ziehst aus, das Imperium zu besiegen, und siehe da, plötzlich bist Du sein Propagandist.